Neues zum groben Behandlungsfehler

BGH, Urteil vom 27.4.2004 — Aktenzeichen: VI ZR 34/03

Der Bundesgerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 27.4.2004 (VI ZR 34/03) klargestellt: Ein grober Behandlungsfehler, der geeignet ist, einen Schaden der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen, führt grundsätzlich zu einer Umkehr der objektiven Beweislast für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und dem Gesundheitsschaden. Dafür reiche – so der BGH –, dass der grobe Behandlungsfehler geeignet ist, den eingetretenen Schaden zu verursachen; nahe legen oder gar wahrscheinlich machen muss der Fehler den Schaden nicht. Entsprechendes gelte auch für die Beweislast bei Befunderhebungsfehlern.

Sachverhalt
Nach einem Motorradunfall wurde der Kläger ins beklagte Krankenhaus eingeliefert. Dort wurden einige Frakturen an Rippen und Wirbelkörpern diagnostiziert. Nicht bemerkt wurde eine Beckenringfraktur. Zunächst wurde Bettruhe verordnet, einige Tage später wurde der Kläger mobilisiert. Wenig später verspürte der Kläger Schmerzen beim Gehen. Röntgenaufnahmen wurden nicht veranlasst; die Beckenringfraktur blieb weiterhin unentdeckt. Die behandelnden Ärzte verschrieben bei weiterer Mobilisierung auch jetzt keine Unterarmgehstützen. Nach Entlassung des Klägers begab sich dieser bei persistierenden Schmerzen anderweitig in ärztliche Behandlung. Eine dort veranlasste Beckenübersichtsaufnahme zeigte den Beckenringbruch. Der Bruch war mit einer Verschiebung zusammengewachsen; diagnostiziert wurde eine Pseudoarthrose.

Der Kläger klagte auf Schmerzensgeld und Schadensersatz. Es sei behandlungsfehlerhaft gewesen, dass die Beckenringfraktur nicht schon im Krankenhaus erkannt worden sei. Die festgestellte Pseudoarthrose (neben weiteren Beschwerden) sei darauf zurückzuführen. Die Klage wurde abgewiesen; die Berufung des Klägers hatte keinen Erfolg; das Oberlandesgericht war der Auffassung, dass es in der Verantwortung des Tatrichters im Einzelfall liege, über die Zubilligung von Beweiserleichterungen sowie über deren Umfang und Qualität zu entscheiden. Darin stimmt der Bundesgerichtshof indes nicht zu und hob die Entscheidung auf und verwies die Sache zurück.

Entscheidung
Der Bundesgerichtshof hat nun klargestellt, dass es im Falle eines groben Behandlungsfehlers (ein solcher muss natürlich vorliegen) nicht um abgestufte Beweiserleichterungen gehe, sondern um die Umkehr der Beweislast. Es gibt keinen „Ermessensspielraum“ des Richters. Die Verlagerung der Beweislast bei einem groben Behandlungsfehler sei nur dann ausgeschlossen, wenn angesichts der geringen Schadensneigung des Fehlers der Ursachenzusammenhang zwischen dem groben Behandlungsfehler und Schaden gänzlich bzw. äußerst unwahrscheinlich sei. Ein grober Behandlungsfehler, der geeignet ist, einen Schaden der tatsächlich eingetretenen Art herbei zu führen, führt zu einer Umkehr der Beweislast für den Zusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und dem Gesundheitsschaden. Dafür reiche – so der BGH – die Eignung des Fehlers, den Schaden zu verursachen; nahe legen oder wahrscheinlich machen müsse der Fehler den Schaden nicht.

Der Bundesgerichtshof hat weiter ausgeführt, dass diese Grundsätze entsprechend für den Nachweis des Kausalzusammenhangs bei einem einfachen Befunderhebungsfehler gelten, wenn – wie in dem Fall – zugleich auf einen groben Behandlungsfehler zu schließen ist, weil sich bei der unterlassenen Abklärung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein so deutlicher und gravierender Befund ergeben hätte, dass sich dessen Verkennung als fundamental oder die Nichtreaktion auf ihn als grob fehlerhaft darstellen würde. Ist das Verkennen des gravierenden Befundes oder die Nichtreaktion auf ihn generell geeignet, den tatsächlich eingetretenen Gesundheitsschaden herbei zu führen, tritt nach Einschätzung des BGH – wenn nicht ein Ursachenzusammenhang zwischen dem Fehler und dem Schaden äußerst unwahrscheinlich ist – grundsätzlich eine Beweislastumkehr ein. In einem derartigen Fall führt nämlich bereits das nicht grob fehlerhafte Unterlassen der gebotenen Befunderhebung wie ein groberes Kausalverlaufs. Es verhindert die Entdeckung des wahrscheinlich gravierenden Befundes und eine entsprechende Reaktion darauf mit der Folge, dass hierdurch das Spektrum der für die Schädigung des Patienten in Betracht kommenden Ursachen besonders verbreitert oder verschoben wird.

Genau dies galt nach Ansicht des BGH in dem zu entscheidenden Fall. Die Befunde waren nicht erhoben. Der (einfache) Befunderhebungsfehler hat die gebotene und zur Vermeidung des eingetretenen Schadens geeignete Reaktion auf die Beckenringfraktur verhindert. Die Aufklärung des hypothetischen weiteren Krankheitsverlaufs war erschwert.

Praxishinweis
So sehr die Entscheidung auch aus Patientensicht zu begrüßen ist, ist nicht zu verkennen, dass dem Tatrichter Spielräume bleiben bei der Frage, ob ein Behandlungsfehler letztlich als grob fehlerhaft zu bewerten ist. An dieser Stelle entscheidet sich also häufig der Prozess. Nach wie vor sind Gerichte und insbesondere Sachverständige mit der Bewertung eines Fehlers als grob fehlerhaft sehr zurückhaltend.

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