Nachweis grob fahrlässiger Unkenntnis beim SVT

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

BGH, Urteil vom 18. Oktober 2022, Az.: ZR 1177/20

 

Leitsätze

1. Hinsichtlich des Zeitpunkts des Anspruchsübergangs nach § 116 SGB X ist zu differenzieren. (Rn.15) Maßgeblich für die Differenzierung ist der Grund der Leistungserbringung und nicht der Träger der Leistung. Bei Sozialleistungen, die aufgrund eines Sozialversicherungsverhältnisses zu erbringen sind, findet der in § 116 Abs. 1 SGB X normierte Anspruchsübergang in aller Regel bereits im Zeitpunkt des schadenstiftenden Ereignisses statt, sofern das Versicherungsverhältnis schon zu diesem Zeitpunkt besteht. Bei Sozialleistungen, deren Gewährung nicht an das Bestehen eines Sozialversicherungsverhältnisses, sondern an andere Voraussetzungen gebunden ist, ist für den Rechtsübergang erforderlich, dass nach den konkreten Umständen des jeweiligen Einzelfalls eine Leistungspflicht ernsthaft in Betracht zu ziehen ist

2. Zur grob fahrlässigen Unkenntnis von Bediensteten der Regressabteilung (§ 199 Abs. 1 Nr. 2 Fall 1 BGB).

 

Entscheidung

Mit der Revision wird das Urteil des OLG Karlsruhe vom 24. Juli 2020 – 1 U 186/18 – aufgehoben, mit dem eine Anspruchsverjährung beim SVT bzw. der BfA wegen grob fahrlässiger Unkenntnis angenommen wurde. Das OLG hatte insbesondere ausgeführt, dass die behördeninternen Handlungs- und Regressanweisungen nicht hinreichend klar und ausreichend gewesen seien. Dem widerspricht nun der BGH:

Zunächst wiederholt der BGH seine mit Urteil vom 17. April 2012 – VI ZR 108/11 – aufgestellten Grundsätze: Der Regressabteilung ist die Durchsetzung der nach den §§ 116, 119 SGB X übergegangenen Schadensersatzansprüche übertragen. Sie hat diese Ansprüche im Anschluss an die Leistungen, die der Träger der Sozialversicherung dem geschädigten Versicherten gewährt hat, zügig zu verfolgen. Behördenintern hat sie in geeigneter Weise sicherzustellen, dass sie frühzeitig von Schadensfällen Kenntnis erlangt, die einen Regress begründen können. Die Verletzung dieser Obliegenheiten kann als grob fahrlässig zu bewerten sein, wenn ein Mitarbeiter der Regressabteilung aus ihm zugeleiteten Unterlagen in einer anderen Angelegenheit ohne weiteres hätte erkennen können, dass die Möglichkeit eines Regresses in einem weiteren Schadensfall in Betracht kommt, und er die Frage des Rückgriffes auf sich beruhen lässt, ohne die gebotene Klärung der für den Rückgriff erforderlichen Umstände zu veranlassen. Gleiches gilt, wenn die Mitarbeiter der Regressabteilung erkennen mussten, dass Organisationsanweisungen notwendig sind oder vorhandene Organisationsanweisungen von den Mitarbeitern der Leistungsabteilung nicht beachtet wurden und es deswegen zu verzögerten Zuleitungen von Vorgängen kam (Fortführung BGH, Urteil vom 17. April 2012 – VI ZR 108/11).

Dann schränkt er jedoch ein: Auch in diesen Fallgestaltungen sei jedoch zu berücksichtigen, dass die (bloße) nachlässige Handhabung der vorbeschriebenen Obliegenheiten zur Begründung grober Fahrlässigkeit nicht genügten. Die Annahme grober Fahrlässigkeit erfordere die Feststellung eines schweren Obliegenheitsverstoßes; der Gläubiger müsse die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich grobem Maße verletzt haben. Nicht zu beanstanden sei zwar, dass das Berufungsgericht den SVT hinsichtlich der Erfüllung der vorbeschriebenen Obliegenheiten als sekundär darlegungsbelastet angesehen habe. Allerdings dürften die Anforderungen an die Substantiierung des Vortrags eines SVT zu den internen Abläufen in Zusammenhang mit der Durchsetzung von Regressansprüchen, insbesondere zu der Frage, welche Maßnahmen die Regressabteilung ergriffen hat, um sicherzustellen, dass sie frühzeitig von regressbegründenden Schadensfällen Kenntnis erlangt, nicht überspannt werden.

Im vorliegenden Fall genügte es dem BGH, dass der SVT die im Zuständigkeitsbereich der Bundesagentur für Arbeit ergriffenen Maßnahmen zur Organisation der Durchsetzung von Regressansprüchen dargelegt und die diesbezüglichen Dienstanweisungen, insbesondere den für den maßgeblichen Zeitraum relevanten „RD-Rundbrief“ vorgelegt hatte. Dort seien auf sechs Seiten konkrete Bestimmungen zum Erkennen von Regressfällen und zur Durchführung des Regressverfahrens enthalten. Unter der Überschrift „Allgemeines‟ werde die Bestimmung in § 116 SGB X erläutert und darauf hingewiesen, dass Schadensereignisse, die eine Haftung auslösen, bspw. Verkehrsunfälle sein könnten. Deshalb seien alle Fälle vorzulegen, in denen der Verdacht von Schadensersatzansprüchen der Bundesagentur für Arbeit bestehe. Unter der Überschrift „Erkennen von Regressfällen‟ werde erläutert, dass sich Hinweise auf mögliche Schadensersatzansprüche aus den Antragsunterlagen ergäben. Der Antrag auf Leistungen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben enthalte die konkrete Frage nach einem Unfallereignis. In der Folge würden das Regressverfahren bei der Gewährung von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe einerseits und die Einleitung des Regressverfahrens bei Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben (Reha-Regressverfahren) dargestellt. In beiden Fällen werde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der „Regressstelle bei der RD‟ bzw. dem „Fachgebiet Regress bei der RD‟ die regressrelevanten Unterlagen vorzulegen seien. Diese würden dann im Einzelnen bezeichnet. Während beim Regressverfahren in Bezug auf Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe bereits die erstmalige Anspruchsanmeldung durch das „Fachgebiet Regress‟ erfolgen solle, soll beim Regress aufgrund von Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben die erstmalige „Geltendmachung‟ noch durch die Agentur für Arbeit erfolgen. Hiermit sei ersichtlich die drei Zeilen weiter unten genannte Anzeige des Forderungsübergangs gegenüber dem Schädiger gemeint, die im Anschluss mit den anderen regressrelevanten Unterlagen dem „Fachgebiet Regress bei der RD‟ vorzulegen seien. Auf den Seiten 4 bis 6 befänden sich weitere sämtliche Regressverfahren betreffende Anweisungen. Es werde mehrfach darauf hingewiesen, dass die örtlich zuständigen Arbeitsagenturen zu prüfen hätten, ob ein Regressfall vorliegen könnte, und die erhobenen Unterlagen an die Regionaldirektion weiterzuleiten haben.

Soweit das OLG Karlsruhe gemeint habe, den Anweisungen zur Durchführung des Regresses fehle jedenfalls die notwendige Klarheit, habe es übersehen, dass die bloße nachlässige Handhabung von Obliegenheiten zur Begründung grober Fahrlässigkeit nicht genüge. Aufgrund der Ausgestaltung der Handlungsanweisungen etc. mussten die Mitarbeiter der Regressabteilung nicht mit Missverständnissen seitens der für Leistungsbewilligung zuständigen Mitarbeiter rechnen. Es sei jedenfalls weder festgestellt noch sonst ersichtlich, warum sich den Mitarbeitern der Regressabteilung ein entsprechendes Fehlverständnis seitens der Leistungsabteilung in grobe Fahrlässigkeit begründender Weise hätte aufdrängen müssen.

 

Anmerkung:

Der BGH „kassiert“ somit die durchaus beachtliche Entscheidung des OLG Karlsruhe, mit welcher zu Lasten der SVT argumentiert werden konnte, die verwendeten Organisation- und Handlungsanweisungen seien unzureichend. Zwar stellt der BGH an die Anforderung der Organisation- und Handlungsanweisungen keine strengen Anforderungen. Er bestätigt aber und trotz der für den SVT (die BfA) günstigen Entscheidung, dass bei der Bewertung grob fahrlässiger Unkenntnis die Qualität der Organisation- und Handlungsanweisungen zu bewerten sei. Sofern die Organisations- und Handlungsanweisungen unterhalb des im Urteil dargestellten Standards liegen, ist somit durchaus an grob fahrlässige Unkenntnis zu denken. Auch eine nachlässige Handhabung im Einzelfall ausreichender Organisation- und Handlungsanweisungen wird vom BGH wohl als Anknüpfung für grob fahrlässige Unkenntnis akzeptiert. Allerdings muss dann sowohl die Handhabe grob nachlässig gewesen und nachgewiesen sein (1), als auch hätte sie den Mitarbeitern der Regressabteilung genauso wie etwa ein eklatantes Fehlverständnis der Organisation- und Handlungsanweisungen in der Leistungsabteilung in grobe Fahrlässiger Weise auffallen müssen (2).

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