Mehrere Regressschuldner beim Baustellenunfall

OLG Hamm, Urteil vom 2.9.2016 — Aktenzeichen: I-9 U 75/15

Die Entscheidung befasst sich mit vielen Fragen bei Baustellenunfällen, wo der eine nach § 110 SGB VII und ein anderer nach § 116 SGB X haftet. § 110 SGB VII führt zu einer Haftungseinheit, so dass alle Betroffenen als Gesamtschuldner haften. Der nicht privilegierte Schädiger ist davon — gestörte Gesamtschuld — abzugrenzen. Außerdem finden sich Ausführungen zur groben Fahrlässigkeit und zum Mitverschuldenseinwand.

Leitsatz
1. Der grobe Verstoß gegen Unfallverhütungsvorschriften rechtfertigt die Annahme eines groben Verschuldens.

2. Die Warnung vor Gefahrenquellen kann die Einhaltung von Unfallverhütungsvorschriften nicht ersetzen.

Sachverhalt
Die Kl. ist eine Sozialversicherungsträgerin und macht gegenüber den 4 Bekl. Schadensersatz aufgrund eines Arbeitsunfalls geltend. Die Firma B, ein Mitgliedsunternehmen der Kl., hatte den Geschädigten T (im Weiteren: Geschädigte) an die Bekl. zu 1 verliehen. Die Bekl. zu 4 ist mit der Errichtung von Photovoltaikanlagen befasst. Die Bekl. zu 1 war von der Bekl. zu 4 beauftragt, eine Photovoltaikanlage auf einer von der Bekl. zu 4 angemieteten Lagerhalle zu montieren. Dabei verpflichtete sich die Bekl. zu 4, die erforderlichen Absicherungsmaßnahmen am Dach vor Beginn der Arbeiten durchzuführen. Tatsächlich waren zu Beginn der Arbeiten diese Maßnahmen unstreitig größtenteils nicht erfolgt. Die Absturzkanten der Giebelseiten der im Firstbereich 12 m hohen Lagerhalle waren nicht gegen Absturz gesichert. Die im Traufbereich angebrachte Absturzsicherung war wirkungslos, im nördlichen Traufbereich fehlten ca. 10 m Sicherungsnetz. Die Abstände der Sicherungspfosten betrugen 6 m, ohne weitere Sicherheitsmaßnahmen war dieser Abstand zu groß. Das Fangnetz war im oberen Bereich der Sicherungspfosten nur übergehängt, nicht aber mittels zugelassener Gurte belegt. Im mittleren und unteren Bereich der Sicherungspfosten fehlte die Verankerung des Fangnetzes. Im Bereich der Lichtbänder, die sich jeweils in einem Abstand von 8 m über das Dach zogen, waren keine Sicherungsnetze angebracht.

Der von der Bekl. zu 1 als Vorabeiter eingesetzte Bekl. zu 3 monierte, als die Arbeiten auf dem Dach beginnen sollten, das Fehlen einer Absicherung dieser nicht betretbaren Lichtbänder gegenüber der Bekl. zu 4. Die Arbeiten auf dem Dach wurden gleichwohl begonnen. Am Folgetag nahm der Geschädigte zusammen mit dem Bekl. zu 3 die Arbeiten auf der Dachfläche auf. Gegen 11.30 Uhr trat der Geschädigte unter nicht näher aufklärbaren Umständen auf ein Lichtband, welches einbrach und stürzte ca. 9,50 m tief auf den Betonboden der Lagerhalle, wobei er sich schwer verletzte.

Entscheidung
Nach Ansicht des OLG haften die Bekl. zu 1–3 der Kl. für die ihr im Zusammenhang mit dem Unfall des Geschädigten entstandenen Aufwendungen nach § 110 I SGB VII als Gesamtschuldner, die Bekl. zu 4 haftet ihr nach den § 823 I BGB, § 116 SGB X, jedoch nur bis zur Höhe von 50 % des erstattungsfähigen Aufwands. Denn während die Bekl. zu 1–3 eine Haftungseinheit bilden und echte Gesamtschuldner iSd § 426 BGB sind, besteht im Hinblick auf die Bekl. zu 4 ein gestörtes Gesamtschuldverhältnis. Die Bekl. zu 1–3 haften nämlich lediglich nach den §§ 104 ff. SGB VII eingeschränkt mit der Folge, dass sie nicht in Anspruch genommen werden können. Demgegenüber haftet die Bekl. zu 4 dem Geschädigten in vollem Umfang, weil sie kein Haftungsprivileg für sich in Anspruch nehmen kann. Die Grundsätze der gestörten Gesamtschuld führen daher zu einer Haftungsteilung zwischen den Bekl. zu 1–3 auf der einen Seite und der Bekl. zu 4 auf der anderen Seite im Innenverhältnis. Dabei wertet der Senat das Verschulden aller vier Bekl. als grob fahrlässig und insgesamt auch gleichgewichtig.

Der Bekl. zu 2 ist als Geschäftsführer der Bekl. zu 1 dafür zuständig, dass die zum Schutz der Arbeitnehmer einzuhaltenden Unfallverhütungsvorschriften beachtet werden und insbesondere die entsprechenden Maßnahmen vor Beginn von Dachdeckerarbeiten vollständig vorhanden sind. Seine Verantwortung mag sich bei einer rechtsgeschäftlichen Übertragung der diesbezüglichen Absicherungsmaßnahmen auf einen Dritten, hier auf die Bekl. zu 4, auf eine Überwachung und Kontrolle beschränken. Es ist ihm jedoch vorzuwerfen, dass er keine eindeutigen Anweisungen und Direktiven innerhalb des Unternehmens für den Fall getroffen hat, dass eine ausreichende Absicherung der Baustelle entsprechend den Unfallverhütungsvorschriften vor Beginn von Dacharbeiten eben nicht vorgenommen worden war.

Die Bekl. zu 4, die vertraglich mit der Durchführung der gebotenen Sicherungsmaßnahmen betraut war, hat diese objektiv pflichtwidrig nicht vor Beginn der Bauarbeiten abgeschlossen.

Der Bekl. zu 3 hat vor diesem Hintergrund grob fahrlässig gehandelt, als er die ihm untergebenen Arbeiter trotz Kenntnis der unzureichenden bzw. zum Teil nicht vorhandenen Sicherungsmaßnahmen mit den Arbeiten auf dem Dach beginnen ließ. Schließlich vermag der Umstand, dass der Bekl. zu 3 dem unerfahrenen Geschädigten, der sich zum Zeitpunkt des Unfalls zum ersten Mal auf dem Dach befand, den erfahrenen Zeugen W als Arbeitspartner zugewiesen hat, diesen nicht vom Vorwurf grober Fahrlässigkeit zu entlasten. Denn auch hierdurch wird lediglich die gebotene ausreichende Absicherung des Arbeitsplatzes durch eine Beaufsichtigung der Arbeiter ersetzt.

Ein Mitverschulden des Geschädigten liege nicht vor: Insbesondere nicht darin, dass er die Arbeit überhaupt in Kenntnis der unterbliebenen Absicherung der Lichtbänder aufnahm. Übernimmt ein Arbeitnehmer eine gefährliche Arbeit in Kenntnis dieser Gefährlichkeit, begründet dies kein Mitverschulden, wenn er damit einer Anordnung seines weisungsbefugten Vorgesetzten entspricht Nichts Anderes kann gelten, wenn es sich nicht um eine eindeutige Weisung, jedoch um eine Sicherungseinschätzung des verantwortlichen Vorarbeiters handelt, auf die sich der Arbeiter verlassen darf, insbesondere, wenn er selbst die Gefährlichkeit der aufzunehmenden Arbeiten nicht beurteilen kann.

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