Kongruenz i.S.d. § 116 Abs. 1 SGB X

BGH, Urteil vom 30.6.2015 — Aktenzeichen: VI ZR 379/14

Leitsatz
Zwischen den von der Bundesagentur für Arbeit erbrachten Maßnahmekosten für die Beschäftigung eines geschädigten behinderten Menschen im Eingangsverfahren und Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen und dessen Anspruch auf Ersatz seines nach der Prognose entgehenden Verdienstes fehlt die für den Anspruchsübergang nach § 116 Abs. 1 SGB X erforderliche sachliche Kongruenz.

Sachverhalt
Der Kläger erlitt aufgrund fehlerhaften Geburtsmanagements in der Klinik der Beklagten massive körperliche und geistige Schäden. Die Haftung der Beklagten dem Grunde nach steht außer Streit. Von Oktober 2011 bis einschließlich Dezember 2013 besuchte der Kläger eine Werkstatt für behinderte Menschen, wo er sich zunächst im Eingangsverfahren und anschließend im Berufsbildungsbereich befand. Seit Anfang Januar 2014 ist der Kläger im Arbeitsbereich der Werkstatt beschäftigt. Die von der Bundesagentur für Arbeit als Leistungsträgerin der Werkstatt erbrachten Maßnahmekosten betrugen monatlich mehr als 3000 €. Streitig ist alleine die Frage der Aktivlegitimation des Klägers. Die Beklagte vertritt insoweit die Auffassung, dass der Anspruch des Klägers auf Ersatz seines Verdienstausfallschadens gemäß § 116 SGB X auf die Bundesagentur für Arbeit als Leistungsträgerin der Werkstatt übergegangen sei. Denn die Maßnahmekosten seien jedenfalls für die Zeit der Ausbildung des Klägers in der Werkstatt kongruent mit seinem Verdienstausfallschaden.

Entscheidung
Der BGH hat ein Kongruenz zwischen den Maßnahmekosten und der zivilrechtlichen Schadensersatzposition: Verdienstausfallschaden verneint.

Sachliche Kongruenz bestehe, wenn sich die Ersatzpflicht des Schädigers und die Leistungsverpflichtung des Sozialversicherungsträgers ihrer Bestimmung nach decken. Hiervon sei auszugehen, wenn die Leistung des Versicherungsträgers und der vom Schädiger zu leistende Schadensersatz dem Ausgleich derselben Einbuße des Geschädigten dienten. Es genüge, wenn der Sozialversicherungsschutz seiner Art nach den Schaden umfasse, für den der Schädiger einstehen müsse; es komme nicht darauf an, ob auch der einzelne Schadensposten vom Versicherungsschutz gedeckt sei.

An einer solchen sachlichen Kongruenz fehle es im Streitfall. Die Sichtweise der sog. „Gruppentheorie“, wonach im Allgemeinen die für den Regress des Leistungsträgers erforderliche sachliche Kongruenz von Leistung und Schadenersatzanspruch schon dann bejaht werde, wenn beide derselben Schadensgruppe dienten, sei auf die Aufgabe beschränkt, die Schadensregulierung zu erleichtern. Das mache aber nicht die Prüfung entbehrlich, ob Sinn und Zweck des § 116 SGB X die Geltendmachung des Ersatzanspruchs durch den Leistungsträger anstelle des Geschädigten rechtfertige. Ohne dieses Korrektiv könnte das unbillige Ergebnis eintreten, dass der Geschädigte, wenn für ihn ein Versicherungsträger eintritt, trotz eines uneingeschränkten Ersatzanspruchs gegen den Schädiger keine vollständige Schadensdeckung erreiche, wenn die Leistungen des Versicherungsträgers sich zwar der Art nach auf den Schaden beziehen, diesen aber nur zu einem Teil abdecken würden.

Sinn und Zweck des § 116 Abs. 1 SGB X würden hier die Geltendmachung des Verdienstausfallschadens durch den Versicherungsträger nicht gebieten. Die Legalzession des § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X solle bewirken, dass der Leistungsträger, durch dessen Leistungen der Geschädigte schadensfrei gestellt werde, Rückgriff nehmen könne; der Schädiger soll durch die Sozialleistungen nicht unverdient entlastet werden, zugleich soll eine doppelte Entschädigung des Geschädigten vermieden werden. Ein Übergang des Anspruchs des Klägers auf Ersatz seines Verdienstausfallschadens auf die Bundesagentur für Arbeit wegen deren Leistungen für die Beschäftigung des Klägers im Eingangsverfahren und im Berufsbildungsbereich der Werkstatt nach §§ 40, 42 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX würde entgegen dieser Intention dazu führen, dass der insoweit nicht schadensfrei gestellte Kläger seinen Verdienstausfallschaden mangels Aktivlegitimation nicht geltend machen könnte.

Von den Aufwendungen für die Beschäftigung in der Werkstatt für behinderte Menschen wird der Kläger dadurch, dass die Bundesagentur für Arbeit diese Leistungen erbringt, schadensfrei gestellt. Zugleich kann die Bundesagentur für Arbeit aufgrund des Anspruchsübergangs nach § 116 Abs. 1 Satz 1, Abs. 10 SGB X ihre hierfür entstandenen Kosten beim Schädiger geltend machen. An der sachlichen Kongruenz der Leistung der Bundesagentur für Arbeit mit diesem Schadensersatzanspruch des Klägers kann kein Zweifel bestehen, sind beide doch in Zweck und Umfang gleich.

Der geltend gemachte Verdienstausfall des Klägers werde durch die Leistungen der Bundesagentur für Arbeit für seine Beschäftigung im Eingangsverfahren und im Berufsbildungsbereich der Werkstatt jedoch nicht kompensiert. Er stelle vielmehr einen weiteren Schaden dar, der nicht in zusätzlichen Aufwendungen, sondern vielmehr in geringeren Einnahmen aufgrund seines schadensbedingten Gesundheitszustands bestehe. Fände auch ein Übergang des Anspruchs auf Ersatz des Verdienstausfallschadens auf die Bundesagentur für Arbeit im Hinblick auf deren Leistungen für die Beschäftigung des Klägers in der Werkstatt für behinderte Menschen statt, führte dies zu einer Schlechterstellung des Geschädigten, wohingegen der Leistungsträger einen Anspruch innehätte, dem keine entsprechenden Aufwendungen gegenüberstehen.

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