Keine grob fahrlässige Unkenntnis eines Beratungsfehlers des Anlageberaters, wenn der Anleger es unterlassen hat, den ihm überreichten Emissionsprospekt durchzulesen.

BGH, Urteil vom 8.7.2010 — Aktenzeichen: III ZR 249/09

Leitsatz
Eine grob fahrlässige Unkenntnis des Beratungsfehlers eines Anlageberaters oder der unrichtigen Auskunft eines Anlagevermittlers ergibt sich nicht schon allein daraus, dass es der Anleger unterlassen hat, den ihm überreichten Emissionsprospekt durchzulesen und auf diese Weise die Ratschläge und Auskünfte des Anlageberaters oder –vermittlers auf ihre Richtigkeit hin zu kontrollieren.

Sachverhalt
Der Kläger nahm den Beklagten unter dem Vorwurf fehlerhafter Anlageberatung auf Schadensersatz in Anspruch. Auf Empfehlung des Beklagten zeichnete der Kläger im Jahre 1999 eine Beteiligung an einem geschlossenen Immobilienfonds. Über das Vermögen der Fondsgesellschaft wurde im Jahre 2006 die vorläufige Insolvenzverwaltung angeordnet. Es drohte Totalverlust des eingesetzten Kapitals. Der Kläger behauptet, er sei über spezifische Risiken der Anlage nicht aufgeklärt worden; die Anlage habe seinem erklärten Anlageziel einer sicheren Altersvorsorge widersprochen. Der Beklagte erhebt unter Anderem die Einrede der Verjährung. Nach seiner Ansicht habe die Verjährungsfrist mit Übergabe des Emissionsprospekt zu laufen begonnen; denn durch Lesen des Emissionsprospekts wäre dem Kläger die Ungeeignetheit des Fonds bezüglich seiner Anlageziele klar geworden; dadurch habe der Kläger die Tatsachen gekannt, aus denen sich eine Pflichtverletzung des Anlageberaters und somit ein Schadensersatzanspruch ergaben. Zumindest läge grob fahrlässige Unkenntnis des Klägers vor, wenn dieser es unterlassen habe, den ihm übergebenen Emissionprospekt durchzulesen und hierbei auf durchgreifende Hinweise für die fehlende Eignung der Kapitalanlage für seine Anlageziele zu stoßen.

Die Klage hat in allen Instanzen Erfolg gehabt.

Entscheidung
Der BGH nimmt einen Schadensersatzanspruch des Klägers wegen Vertrags-pflichtverletzungen des Beklagten an. Insbesondere sei der Anspruch nicht verjährt. Zwar genüge für den Beginn der Verjährung die grob fahrlässige Unkenntnis des Gläubigers von den anspruchsbegründenden Umständen, der Umstand, dass der Anlageinteressent den ihm überlassenen Emissionsprospekt nicht durchgelesen habe, genüge für sich allein noch nicht, um die grob fahrlässige Unkenntnis von einem Beratungsfehler zu begründen. Zwar komme dem Anlageprospekt in aller Regel eine große Bedeutung für die Information des Anlageinteressenten über die ihm empfohlene Kapitalanlage zu.
Im Einzelfall könne die Aushändigung eines Prospekts sogar ausreichen, um den Beratungs- und Auskunftspflichten des Anlageberaters Genüge zu tun.
Es läge daher zweifellos im besonderen Interesse des Anlegers, diesen Prospekt eingehend durchzulesen. Andererseits messe der Anleger den Ratschlägen, Auskünften und Mitteilungen des Anlageberaters oder Vermittlers, die dieser ihm in einem persönlichen Gespräch unterbreite, besonderes Gewicht bei. Die Prospektangaben träten demgegenüber regelmäßig in den Hintergrund. Vertraue daher der Anleger auf den Rat und die Angaben seines Beraters oder Vermittlers und sähe deshalb davon ab, den ihm übergebenen Anlageprospekt durchzusehen und auszuwerten, so sei darin im allgemeinen kein grobes Verschulden gegen sich selbst und damit keine grob fahrlässige Unkenntnis der anspruchsbegründenden Umstände zu sehen. Fiele dem Anleger bereits die unterbliebene Lektüre des Anlageprospekts als grob fahrlässige Unkenntnis im Sinne von § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB zur Last, so wäre sein Schadensersatzanspruch häufig schon verjährt, bevor sich die Risiken oder Nachteile der Kapitalanlage für ihn bemerkbar machten und er sich daher veranlasst sähe, die Richtigkeit der ihm von einem Anlageberater oder Vermittler gegebenen Empfehlungen und Auskünfte zu hinterfragen.

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