Mitverschuldenseinwand trotz Feststellungsurteils?!

Michael PeusMichael Peus

BGH, Urteil vom 19.09.2019 – I ZR 116/18

Leitsätze (amtlich)
a) Hat der Geschädigte im Feststellungsverfahren keine konkreten Schadenspositionen mitgeteilt, ist der Schädiger im Betragsverfahren hinsichtlich dann erstmals geltend gemachter Schadenspositionen nicht mit dem Mitverschuldenseinwand ausgeschlossen.
b) Der Einwand, der Schaden sei durch voreiliges Nachgeben unnötig vergrößert worden, bezieht sich auf die haftungsausfüllende Kausalität zwischen der Rechtsgutsverletzung und der jeweiligen Schadensposition.

 

Sachverhalt
Die Klägerin verlangt Schadensersatz (hier in Form von entgangenem Gewinn und materiellem Schadensersatz). Dem Grunde nach ist die vollständige Haftung der Beklagten rechtskräftig festgestellt.
In diesem Verfahren wendet sich die Beklagte gegen die Schadenhöhe und wendet sich – trotz rechtskräftig festgestellter Haftung dem Grunde nach – gegen die Höhe der klägerischen Ansprüche. Die Beklagte wendet ein, dass die Klägerin die Schäden selbst zu verantworten hat, § 254 Abs. 2 BGB.
[Konkret: Trotz der rechtswidrigen Abmahnung durch die Beklagte hätte die Klägerin die bereits produzierten Waren (hier: Grußkarten) nicht vernichten dürfen. Weil sie dies doch tat, sei sie für den Schaden letztlich selbst verantwortlich, auch wenn die Abmahnung unberechtigt erfolgt ist.]

Aus der Entscheidung
Das Feststellungsurteil steht der Überprüfung des Mitverschuldenseinwandes in dem Folgeprozess nicht entgegen.
„Die Frage, ob und in welcher Höhe ein Schaden eingetreten ist, von der Rechtskraft eines vorausgegangenen Feststellungsurteils nicht erfasst“ (BGH, Urteil vom 4. April 2014 – V ZR 275/12, BGHZ 200, 350 Rn. 27). Etwas anderes gilt jedoch, wenn bereits im Feststellungsverfahren einzelne Schadenspositionen in den Antrag aufgenommen oder zumindest angesprochen worden sind.

Ein völliger Ausschluss der Schadensersatzpflicht ist die Ausnahme. Der Klägerin stehen die in Rede stehenden Ansprüche wegen Mitverschuldens gem. § 254 Abs. 2 BGB nicht zu, da sie es schuldhaft unterlassen hat, diesen Schaden abwenden. Dass dieser Schaden vermeidbar gewesen wäre, hätte die Klägerin erkennen müssen. Die Klägerin trifft deshalb ein Mitverschulden an der Entstehung des Schadens durch die Einstellung des Vertriebs und den Rückruf und die Vernichtung, sodass sich ein Ersatzanspruch auf Null reduziert.

Anmerkung
Die Rechtskraft eines Feststellungsurteils steht dem Einwand, der die haftungsausfüllenden Kausalität betrifft, grundsätzlich nicht entgegen.
Einwendungen,  die die haftungsbegründende Kausalität sowie den Grund für den geltend gemachten Anspruch betreffen, müssen im Feststellungsverfahren vorgebracht werden. Mit diesen Einwendungen kann man im Folgeprozess nicht mehr gehört werden.

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„Pfusch am Bau‟ als Befangenheitsgrund?

Michael PeusMichael Peus

OLG Rostock, Beschluss vom 26.08.2020 – 4 W 30/20

Leitsatz (amtlich):

Die nur zusammenfassende und mit dem ausdrücklichen Verweis auf die Verwendung als untechnischer Begriff erfolgte Bezeichnung der Arbeiten einer Partei als „Pfusch am Bau“ durch einen Sachverständigen vor dem Hintergrund von ihm festgestellter Mängel begründet keine Ablehnung wegen der Besorgnis der Befangenheit.

Sachverhalt

In einem selbständigen Beweisverfahren führte der Sachverständige nach Ortstermin in seinem Gutachten unter anderem aus:

„1.4 Verwendete Unterlagen“

„Durch die Klägerseite zum Ortstermin übergebene ergänzende Unterlagen und im Nachgang per E-Mail übersandte Fotos.“

Im Text des Gutachtens hat der Sachverständige dazu außerdem ausgeführt:

„Die durch den Antragsteller übergebenen Fotos aus der Bauzeit zeigen die 'Hinterlassenschaften' des Antragsgegners ([U 2], [U 3]). Bei den vor Ort gemachten Feststellungen und den erhaltenen Informationen konnten nicht alle offenen Fragen aus dem Beweisbeschluss und den Unterlagen der Gerichtsakte [U 1] geklärt werden. [Der Antragsteller] sagte zu, weitere Fotos aus der Zeit mit Beginn des Abrisses des Altgebäudes bis zum Abbruch der Arbeiten durch den Antragsgegner dem Unterzeichner zukommen zu lassen. Diese wurden am 01.04.2019 per E-Mail übersandt [U 3]. Im Kapitel 1.4 sind die insgesamt erhaltenen Unterlagen zusammengestellt. Sie werden mit Abgabe des Sachverständigengutachtens mit an das Gericht übergeben.“

Weiterhin findet sich in dem Gutachten der folgende Passus:

„Ob der Antragsgegner die v. g. Anforderungen erfüllt, dürfte aus Sicht des Unterzeichners mehr als fraglich sein. Aus den gewonnenen Eindrücken durch die örtlichen Feststellungen, zusätzlichen Fotos des Antragsteller über die Abwicklung der Baustelle bleibt nur festzustellen, dass die gesamte handwerkliche Arbeit jegliche Verbindung zu den Regeln der Technik im Erd- und Rohrleitungsbau sowie Bau von Versickerungsanlagen vermissen lässt. Die Arbeiten können mit einer nichttechnischen Begrifflichkeit als Fusch am Bau bezeichnet werden.“

Der Antragsgegner hat den Sachverständigen nach der Übersendung des Gutachtens zur Stellungnahme gemäß §§ 492 Abs. 1, 411 Abs. 4 ZPO wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Sie ergebe sich zum einen daraus, dass der Sachverständige im Rahmen des Ortstermins von dem Antragsteller eine Fotodokumentation sowie weitere Unterlagen angenommen habe, ohne den Antragsgegner hiervon vor Erstattung des schriftlichen Gutachtens zu unterrichten; ferner habe der Sachverständige mit dem Antragsteller bei dem Ortstermin oder danach einseitig Absprachen hinsichtlich der Übersendung weiteren Materials getroffen, das zudem zwar in dem Gutachten unter Ziffer 1.4 aufgelistet, diesem aber nicht vollständig beigefügt sei, sodass der Antragsgegner die Grundlage der getroffenen Feststellungen nicht einschätzen könne. Zum anderen habe sich der Sachverständige ohne Not abfällig über den Antragsgegner geäußert, indem er ihm die Befähigung zur Ausführung der Arbeiten abgesprochen und diese als „Fusch am Bau“ bezeichnet habe.

Entscheidungsgründe

Das Ablehnungsgesuch wurde von dem Landgericht als auch dem Oberlandesgericht als Beschwerdegericht zurückgewiesen.

  1. Beiziehung von Unterlagen
    Dass der Sachverständige im Hinblick auf die Gutachtenserstellung Lichtbilder und Unterlagen von einer Partei erhalten hat, ohne dass die Gegenseite gleich davon Kenntnis erlangt hat, begründet jedenfalls dann kein Misstrauen bezüglich der Neutralität des Sachverständigen, wenn er – wie hier geschehen – sein Vorgehen spätestens in dem schriftlichen Gutachten offen legt.
  2. Bemerkung „Pfusch am Bau‟
    Unsachliches Verhalten eines Sachverständigen stellt einen Befangenheitsgrund dar, wenn es den Schluss auf die mangelnde Unvoreingenommenheit gegenüber einer Partei nahe legt; grobe Fehlgriffe in der Wortwahl, Unsachlichkeiten und abfällige, herabwürdigende oder gar beleidigende Äußerungen des Sachverständigen können daher die Besorgnis der Befangenheit begründen. Ein salopper Tonfall oder die Verwendung umgangssprachlicher Redewendungen reichen andererseits jedoch für sich allein genommen noch nicht aus, wobei entsprechende Bemerkungen darüber hinaus stets im Gesamtzusammenhang zu betrachten sind und es maßgeblich darauf ankommt, ob die Äußerungen noch sachbezogen und aufgrund des Verhaltens der Beteiligten verständlich oder statt dessen Ausdruck bloßen Unmuts sind, und ob mögliche Missverständnisse sogleich ausgeräumt werden. Nicht jede umgangssprachliche, bildhafte Wendung ist danach als Herabsetzung zu werten. Vielmehr rechtfertigen selbst abwertende Äußerungen allein die Besorgnis der Befangenheit schon deshalb noch nicht, weil sie teilweise schon vom Gesetz vorgegeben und dann noch kein Grund für die Annahme von Befangenheit sein können, wie etwa der Begriff „mutwillig“ in § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Auch sonst ist eine drastische Ausdrucksweise hinzunehmen, wenn sie nicht in dem Sinne unangebracht ist, dass sie auf den Adressaten unsachlich oder verletzend wirkt. Die Möglichkeit einer zurückhaltenderen Ausdrucksweise reicht zur Beanstandung nicht aus, weil die Sprache, mit der eine sachverständige Wertung ausgedrückt wird, mit dieser eng verbunden ist und in gewissen Grenzen weder durch die Beteiligten noch durch andere, namentlich über Befangenheitsgesuche entscheidende Richter vorgegeben werden kann. Etwas anderes gilt nur dann, wenn Gründe dargetan werden, die dafür sprechen, dass das Vorgehen des Sachverständigen auf einer unsachlichen Einstellung gegenüber der ablehnenden Partei oder auf Willkür beruht.

    Wenn der Sachverständige die Beweisfragen ausführlich begründet und dann die festzustellenden Mängel und Arbeiten des Antragsgegners nur noch zusammenfassend und unter ausdrücklichem Verweis auf die Verwendung eines untechnischen Begriffes als „[P]Fusch am Bau“ bezeichnet, werden die Arbeiten damit zwar negativ beurteilt aber nicht der Antragsgegner als Person angegriffen. Deshalb begründe diese zusammenfassende Äußerung für einen objektiven Betrachter nicht die Besorgnis der Befangenheit.

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beA-Pflicht bei Faxproblemen: BGH zweifelt

Michael PeusMichael Peus

BGH, Beschluss vom 28. April 2020 – X ZR 60/19

amtlicher Leitsatz:
Ein Patentanwalt, der kurz vor Ablauf der dafür maßgeblichen Frist feststellt, dass die Telefax-Übermittlung einer Berufungsbegründung in einem Patentnichtigkeitsverfahren wegen nicht von ihm zu vertretender technischer Probleme voraussichtlich scheitern wird, ist nicht verpflichtet, nach einem Rechtsanwalt zu suchen, der den Versand für ihn über das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) vornehmen kann.

 

Sachverhalt:
Ein Patentanwalt (Anmerkung: der kein Postfach des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs hat) wollte am Tag des Fristablaufs eine Berufungsbegründung von 39 Seiten faxen. Er begann um 22:40 Uhr mit dem Anwählen. Der Übermittlungsvorgang begann um 22:59 Uhr. Als um 23:30 Uhr der Versand noch nicht vollständig abgeschlossen war, suchte der Patentanwalt im Internet einen Faxanbieter, der ohne Registrierung ein Faxen ermöglichte. Hier begann er einen zweiten Faxversuch um 23:54 Uhr.

Im Ergebnis gingen nur 35 Seiten bei Gericht vor 0 Uhr des Folgetages ein. 4 Seiten fehlten, darunter wohl auch die letzte Seite mit der Unterschrift.

Das Berufungsgericht lehnte eine Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand ab.

 

Entscheidung:
Der BGH gewährte Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand.

Das begründet der BGH wie folgt:

  1. Fristen dürfen vollständig ausgenutzt werden (z.B. auch BGH, Urteil vom 25. November
    2004 – VII ZR 320/03).
  2. Bei einer Übermittlung per Telefax hat der Versender mit der ordnungsgemäßen Nutzung eines funktionsfähigen Sendegeräts und der korrekten Eingabe der Empfängernummer das seinerseits Erforderliche zur Fristwahrung getan, wenn er so rechtzeitig mit der Übermittlung begonnen hat, dass unter normalen Umständen mit ihrem Abschluss vor 0 Uhr zu rechnen gewesen ist. Das ist in der Regel der Fall, wenn eine Übermittlungszeit von dreißig Sekunden pro Seite angesetzt wird (BGH, Urteil vom 25. November 2004 -VII ZR 320/03, NJW 2005, 678, 679; Beschluss vom 27. September 2018 – IX ZB 67/17, NJW-RR 2018, 1398 Rn. 21) und der sich daraus ergebende Wert im Hinblick auf die Möglichkeit einer anderweitigen Belegung des Empfangsgeräts sowie schwankende Übertragungsgeschwindigkeiten um einen Sicherheitszuschlag von etwa zwanzig Minuten erhöht wird (BGH, Beschluss vom 17. Mai 2004 – II ZB 22/03, MMR 2004, 667; Beschluss vom 19. Dezember 2017 – XI ZB 14/17, FamRZ 2018, 610 Rn. 10).
  3. Angezeigte Störungen dürfen den Versender nicht veranlassen, von weiteren Versuchen abzusehen. Er muss mindestens weitere Übermittlungsversuche unternehmen, um auszuschließen, dass die Ursache der Übermittlungsschwierigkeiten in seiner Sphäre liegen.
  4. Die Wahl eines zweiten Systems ist nicht zu beanstanden. Insbesondere konnte dem Patentanwalt nicht abverlangt werden, die laufende Faxverbindung zu trennen, um einen neuen Versuch zu starten. Denn das hätte das sichere Scheitern des Versuchs und dazu noch das Fehlen eines „Berichts des Scheiterns‟ bedeutet.
  5. Wenn unter üblichen Verhältnissen mit einem Übersenden bis 23:20 Uhr gerechnet werden darf, ist ohne konkrete Anhaltspunkte (z.B. vorausgegangene Probleme mit dem Faxgerät) kein zweiter Übertragungsweg (z.B. ein zweites Faxgerät) vorzuhalten.
  6. Wenn erst gegen 23:30 Uhr zu erkennen ist, dass die Übertragung problematisch ist, ist dem Patentanwalt eine Zeit zuzugestehen, die zweite Übertragung zu organisieren.
  7. Da der Patentanwalt einerseits einen Mandanten auch in zweiter Instanz in einer Patentnichtigkeitsangelegenheit vertreten darf, er aber andererseits über kein beA-Postfach verfügt, ist dem Patentanwalt nicht zuzumuten, sich mit einem Rechtsanwalt zusammenzuschließen, damit dieser im Problemfall per beA etwas verschicken kann. Denn sonst wäre die eigenverantwortliche Stellung des Patentanwaltes konterkariert. Das gilt sogar bei einer Sozietät von Rechtsanwälten und Patentanwälten.

 

Weiteres aus der Entscheidung:

  1. Grundsätzlich ist mit dem Antrag auf Wiedereinsetzung die Prozesshandlung vorzunehmen, in die Wiedereinsetzung begehrt wird. Das soll nicht gelten, wenn die Prozesshandlung bereits vor dem Wiedereinsetzungsantrag bei Gericht eingegangen ist, wenn auch „nach Fristablauf‟. Ein erneutes Übersenden sei dann nicht notwendig.
  2. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dürfen die Gerichte die Anforderungen an die den Prozessbevollmächtigten im Rahmen des § 233 Satz 1 ZPO obliegende Sorgfalt nicht überspannen. Von einem Prozessbevollmächtigten, der sich und seine organisatorischen Vorkehrungen darauf eingerichtet hat, einen Schriftsatz per Telefax zu übermitteln, kann daher beim Scheitern der gewählten Übermittlungen infolge eines Defekts des Empfangsgeräts oder wegen Leitungsstörungen nicht verlangt werden, dass er unter Aufbietung aller nur denkbaren Anstrengungen innerhalb kürzester Zeit eine andere als die gewählte Zugangsart sicherstellt (BGH, Beschluss vom 27. Juni 2017 – II ZB 22/16, NJW-RR 2017, 1084 Rn. 13 ff.).
  3. Offen bleibt, ob ein Rechtsanwalt, der – verpflichtet – über ein beA-Postfach verfügt, sich dessen bedienen muss. Angesichts der hohen Fehlerzahl im System äußert der BGH Zweifel an einer solchen Verpflichtung, lässt es aber ausdrücklich offen.

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BGH: Anforderungen an eine Unterschrift

Michael PeusMichael Peus

BGH, Beschluss vom 03.03.2015, Az. VI ZB 71/14

Sachverhalt
Im Berufungsverfahren rügt der Berufungsbeklagte die Unterschrift in der Berufungsbegründung. Sie sei keine Unterschrift und daher seien die Formerfordernisse des Berufungsverfahrens nicht gewahrt. Das OLG hat sich dem angeschlossen und die Berufung sowie den Wiedereinsetzungsantrag verworfen.

Entscheidungsgründe
Der BGH befasste sich mit den Anforderungen an eine Unterschrift und entschied zu Gunsten der Wirksamkeit der Unterschrift.

  1. Weil die auf der (unzutreffenden) Annahme einer nicht ordnungsgemäß unterzeichneten Berufungsschrift beruhende Verwerfung der Berufung als unzulässig den Berufungsführer in seinen Verfahrensgrundrechten auf Gewährung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG und auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes gemäß Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verletzte, musste sich der BGH mit der Rechtsbeschwerde befassen.
  2. Eine Unterschrift
    – muss eigenhändig erfolgen,
    – soll die Identifizierung des Urhebers ermöglichen,
    – lässt den unbedingten Willen zum Ausdruck bringen, die Verantwortung für den Inhalt des Schriftsatzes zu übernehmen,
    – soll sicherstellen, dass es sich bei dem Schriftstück nicht nur um einen Entwurf handelt, sondern dass es mit Wissen und Willen des Berechtigten dem Gericht zugeleitet worden ist.
  3. Eine den Anforderungen des § 130 Nr. 6 ZPO genügende Unterschrift muss individuelle und entsprechend charakteristische Merkmale aufweisen, die die Nachahmung erschweren, die sich als Wiedergabe eines Namens darstellen und die die Absicht einer vollen Unterschrift erkennen lassen, selbst wenn sie nur flüchtig niedergelegt und von einem starken Abschleifungsprozess gekennzeichnet sind. Unter diesen Voraussetzungen kann selbst ein vereinfachter und nicht lesbarer Namenszug als Unterschrift anzuerkennen sein, wobei insbesondere von Bedeutung ist, ob der Unterzeichner auch sonst in gleicher oder ähnlicher Weise unterschreibt. Dabei ist in Anbetracht der Variationsbreite, die selbst Unterschriften ein und derselben Person aufweisen, jedenfalls bei gesicherter Urheberschaft ein großzügiger Maßstab anzulegen. Für die Frage, ob eine formgültige Unterschrift vorliegt, ist nicht die Lesbarkeit oder die Ähnlichkeit des handschriftlichen Gebildes mit den Namensbuchstaben entscheidend ist, sondern ob der Name vollständig, wenn auch nicht unbedingt lesbar, wiedergegeben wird.
  4. Unter Berücksichtigung dieser Umstände genügte im Streitfall das „Zeichen‟ den Anforderungen an eine Unterschrift, auch wenn es keinen lesbaren Namenszug erkennen ließ und nur noch aus zwei voneinander abgesetzten Strichbildern bestand (ein auf dem Kopf stehendes, stark zugespitztes Häkchen und davon abgesetzter Viertelkreis). Wegen der ungewöhnlichen Strichführung ließ diese Zeichenfolge keinen ernsthaften Zweifel daran aufkommen, dass es sich um eine von ihrem Urheber zum Zwecke der Individualisierung und Legitimierung geleistete Unterschrift handelt, zumal der Prozessbevollmächtigte auch in anderen Verfahren und langjährig so unterzeichnete.
  5. Dem Sinn und Zweck des Unterschriftenerfordernisses aus § 519 Abs. 4, § 130 Nr. 6 ZPO, die Identifizierung des Urhebers der schriftlichen Prozesshandlung zu ermöglichen und dessen unbedingten Willen zum Ausdruck zu bringen, die Verantwortung für den Inhalt des Schriftsatzes zu übernehmen, war danach im Streitfall Genüge getan.

Weiteres

Überschießend wies der BGH darauf hin, dass das Berufungsgericht auch eine Wiedereinsetzung hätte gewähren müssen (, was aber objektiv nicht erforderlich war, weil die Unterschrift und damit die gesamte Berufung den Formerfordernissen entsprach). Denn ein Rechtsanwalt hat zunächst einen Anspruch auf faire Verfahrensgestaltung, wonach eine Vorwarnung geboten ist, falls derselbe Spruchkörper die von ihm längere Zeit gebilligte Form einer Unterschrift nicht mehr hinnehmen will. Ferner kommt ihm ein verfassungsrechtlich gebotener Vertrauensschutz zu. Ist ein beanstandeter Schriftzug so oder geringfügig abweichend bis dahin allgemein von den Gerichten über längere Zeit als geleistete Unterschrift unbeanstandet geblieben, durfte er darauf vertrauen, dass die Unterschrift den in der Rechtsprechung anerkannten Anforderungen entspricht. Dieses Vertrauen wird allein durch die Beanstandung des Gegners in der Berufungserwiderung nicht erschüttert. Deshalb hätte das Berufungsgericht dem Wiedereinsetzungsantrag entsprechen müssen, hätte es – was ja gerade nicht – an einer wirksamen Unterschrift gefehlt.

weiterführende Artikel

  1. Fristeingang
         Das Notieren von Fristen
  2. Kontrolle der notierten Fristabläufe
         Fristenmanagement im laufenden Betrieb
  3. Der Schriftsatz
    muss unterschrieben sein (s. diesen Artikel)
  4. Der Postausgang
         Postausgangskontrolle trumpft Anwaltsverschulden
  5. Sonderfälle
         Fristversäumnis wegen Erkrankung

 

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Die Postausgangskontrolle im Anwaltsbüro

Michael PeusMichael Peus

BGH, Beschluss vom 15.07.2014, Az. VI ZB 15/14

Leitsatz
Da die Unterschriftenkontrolle, die der Rechtsanwalt zuverlässigen Bürokräften überlassen darf, gerade der Vermeidung eines erfahrungsgemäß nicht gänzlich ausschließbaren Anwaltsversehens bei der Unterschriftsleistung dient, kann auf ein zeitlich vor der unterbliebenen Unterschriftskontrolle liegendes Anwaltsversehen im Zusammenhang mit der Unterzeichnung der Berufungsschrift regelmäßig nicht zurückgegriffen werden.

Sachverhalt
Am 26.04.2013 wurde ein Urteil ordnungsgemäß zugestellt. Die Berufungsfrist endete am 27.05.2013. Am 24.05.2013 ist beim Oberlandesgericht eine Berufungsschrift aus der Kanzlei der damaligen Prozessbevollmächtigten der Beklagten ohne Unterschrift des Rechtsanwalts der Beklagten eingegangen. Am Dienstag, dem 28.05.2013, hat die Bedienstete der Geschäftsstelle das Fehlen der Unterschrift bei der Eintragung der Berufung festgestellt. Mit Verfügung vom 31.05.2013, dem anwaltlichen Vertreter der Beklagten zugestellt am 06.06.2013, hat der Vorsitzende des zuständigen Zivilsenats auf den Mangel hingewiesen.

Am 18.06.2013 hat die Beklagte eine unterschriebene Berufungsschrift beim Oberlandesgericht eingereicht und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist beantragt.

Zur Begründung hat sie vorgetragen, dass ihr Prozessbevollmächtigter versäumt habe, die ihm vorgelegte Berufungsschrift zu unterschreiben und – wie geplant – persönlich zum Oberlandesgericht mitzunehmen. Zur Versäumung der Frist sei es gekommen, weil die Rechtsanwaltsfachangestellte B., die bereits seit 25 Jahren in der Kanzlei beschäftigt sei und sich bei der ihr obliegenden Fristenkontrolle stets als zuverlässig erwiesen habe, entgegen der bestehenden allgemeinen Anweisung den Schriftsatz, ohne zu kontrollieren, ob er unterschrieben sei, zur Post gegeben und an das Oberlandesgericht übermittelt habe. Hierbei handle es sich um einen einmaligen Fehler der Angestellten. Dazu hat der Prozessbevollmächtigte der Beklagten eidesstattlich versichert, dass Frau B. seit 25 Jahren in seiner Kanzlei beschäftigt sei und sich in dieser Zeit als kompetente und stets zuverlässige Fachkraft erwiesen habe. Frau B. hat die Angaben unter Versicherung an Eides statt bestätigt.

Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Berufungsgericht den Wiedereinsetzungsantrag als unbegründet zurückgewiesen und darauf hingewiesen, dass beabsichtigt sei, die Berufung der Beklagten als unzulässig zu verwerfen. Es hat zur Begründung ausgeführt, dass das Versäumnis des Prozessbevollmächtigten der Beklagten, den Schriftsatz zu unterschreiben und mitzunehmen, die Fristversäumung verursacht habe. Es sei weder vorgetragen noch glaubhaft gemacht, dass den Prozessbevollmächtigten daran kein Verschulden treffe. Die organisatorische Anweisung, alle ausgehenden Schriftsätze auf eine vorhandene Unterschrift zu kontrollieren, habe für sich allein nicht sichergestellt, dass trotz eines auf dem Schreibtisch vorhandenen, nicht unterschriebenen Schriftsatzes zur Einlegung der Berufung die Berufungsfrist nicht versäumt werde. Zu sonstigen Anweisungen zur Sicherstellung der Einhaltung von Berufungsfristen sei nichts weiter vorgetragen. Ob die Berufungsfrist bereits gestrichen worden sei, als der Schriftsatz durch die Kanzleimitarbeiterin aufgefunden worden sei, weil der Prozessbevollmächtigte der Beklagten die Berufungsschrift mitnehmen sollte, lasse sich dem Vortrag ebenfalls nicht entnehmen. Die allgemeine Anweisung im Rahmen der Büroorganisation, ausgehende Schriftsätze auf die Unterschrift hin zu kontrollieren, verfolge nicht den Zweck, einen vom Rechtsanwalt im Einzelfall vergessenen Schriftsatz auf den Postweg zu bringen.

Diesen Beschluss des Berufungsgerichts griff die Berufungsklägerin mit der Rechtsbeschwerde an.

Entscheidungsgründe
Der BGH gab der Rechtsbeschwerde statt, weil der Berufungsklägerin (möglicherweise) Wiedereinsetzung zu gewähren war. Denn ein schuldhaftes Handeln ihres Prozessbevollmächtigten lag nach den vorgetragenen Tatsachen, sollte sie das Berufungsgericht für glaubhaft erachten, nicht vor. Dies musste das Berufungsgericht aber neu bescheiden, weil der Sachverhalt vom Berufungsgericht nicht ausreichend dargestellt war als dass der BGH hätte entscheiden können.

  1. Die Frist zur Einlegung der Berufung war verstrichen, ohne dass ein formal ausreichender Schriftsatz bei den Berufungsgericht eingegangen war. Denn der am 24.05.2013 eingegangene Schriftsatz genügte den Anforderungen der § 519 Abs. 4, § 130 Nr. 6 ZPO nicht, weil er nicht von einem – beim Berufungsgericht postulationsfähigen – Rechtsanwalt unterschrieben war. Nicht einmal die Beglaubigungsvermerke auf den beigefügten Abschriften waren unterschrieben,
  2. Den Prozessbevollmächtigten der Beklagten traf sogar ein Verschulden an der unterbliebenen Unterzeichnung der Berufungsschrift vom 22.05.2013, wenn er den Schriftsatz ohne Unterschrift auf dem Schreibtisch zurückgelassen hat, anstatt ihn zu unterzeichnen und beim Berufungsgericht einzureichen. Der Prozessbevollmächtigte der Beklagten musste nach Vorlage der Berufungsschrift Vorkehrungen dagegen treffen, dass diese vor Unterzeichnung irrtümlicherweise in den Postausgang geraten und ohne Unterschrift bei Gericht eingereicht würde.
  3. Das Verschulden einer Partei oder ihres Vertreters ist jedoch, worauf die Rechtsbeschwerde zutreffend hinweist, dann nicht rechtlich erheblich, wenn die Partei oder ihr Vertreter alle erforderlichen Schritte unternommen hat, die bei normalem Ablauf der Dinge mit Sicherheit dazu führen würden, dass die Frist gewahrt werden kann. Wird die Frist dennoch versäumt, ist nicht mehr das Verschulden der Partei oder ihres Vertreters als ursächlich für die Versäumung der Frist anzusehen, sondern das von der Partei nicht verschuldete Hindernis, das sich der Fristwahrung entgegengestellt hat. Bei fehlender Unterzeichnung der bei Gericht fristgerecht eingereichten Rechtsmittel-(Begründungs-)schrift Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden kann, wenn der Prozessbevollmächtigte sein Büropersonal allgemein angewiesen hatte, sämtliche ausgehenden Schriftsätze vor der Absendung auf das Vorhandensein der Unterschrift zu überprüfen.
  4. Da die ausreichend organisierte Unterschriftenkontrolle – die der Rechtsanwalt zuverlässigen Bürokräften überlassen darf – gerade der Vermeidung eines erfahrungsgemäß nicht gänzlich ausschließbaren Anwaltsversehens bei der Unterschriftsleistung dient, ist bei einem Versagen dieser Kontrolle ein Rückgriff auf ein Anwaltsversehen im Zusammenhang mit der Unterzeichnung ausgeschlossen.
  5. Ausreichend ist die Ausgangskontrolle zumindest dann, wenn in der Kanzlei alle Angestellten angewiesen sind, einen Schriftsatz erst dann auf den Postweg zu geben, wenn er auf das Vorhandensein einer Unterschrift kontrolliert worden ist, und der Rechtsanwalt die Zuverlässigkeit seines Personals in der Befolgung von Anweisungen der eidesstattlichen Versicherung der Angestellten B. zufolge stichprobenartig überwacht. Eine darüber hinausgehende Überwachung ist nicht gefordert, wenn der Anwalt von der Zuverlässigkeit der Mitarbeiterin ausgehen durfte.

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Fristverlängerung kann postalisch beantragt werden, muss aber begründet sein

Michael PeusMichael Peus

BGH, Beschluss vom 20.08.2019, Az. X ZB 13/18

Der Rechtsmittelführer darf die Verlängerung der Frist zur Berufungsbegründung nur dann erwarten, wenn es sich um den ersten Verlängerungsantrag handelt und er in dem Antrag erhebliche Gründe für die beantragte Verlängerung darlegt. Der Wendung, der Antrag werde „vorsorglich‟ gestellt, ist nicht zu entnehmen, aus welchen Gründen eine Verlängerung begehrt wird.

Sachverhalt
Die Berufungsbegründung war bis Dienstag, den 31.07.2018, bei dem Berufungsgericht einzureichen.

Diese Frist wollte der Prozessbevollmächtigte mit Schriftsatz, eingeworfen am Mittwoch, 25.07.2018, verlängern lassen. Im Schriftsatz beantragte er, „vorsorglich‟ die Frist zu verlängern.

Der Schriftsatz vom 25.07.2018 ging am 01.08.2018, also nach Fristablauf, bei dem Berufungsgericht ein.

Der Rechtsmittelführer beantragte erfolglos Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand, also in die Berufungsbegründungsfrist. Er stellt diese Entscheidung zur Überprüfung durch den BGH.

Entscheidungsgründe
Der BGH bestätigt zunächst, dass ein Prozessbevollmächtigter darauf vertrauen darf, dass ein werktags aufgegebener Schriftsatz innerhalb Deutschlands am folgenden Werktag bei dem Empfänger eingeht.

Jedenfalls in den Fällen, dass 6 Werktage für den Postlauf zur Verfügung stehen, bedarf es auch keines Kontrollanrufs der Anwaltskanzlei bei dem Berufungsgericht, ob der Verlängerungsantrag bei Gericht eingegangen (nicht verwechseln mit, ob ihm stattgegeben worden) ist.

Weiter bestätigt der BGH die ständige Rechtsprechung, dass ein Rechtsanwalt auf die Gewährung der ersten Fristverlängerung vertrauen darf, wenn er einen erheblichen Grund darlegt. An einen ersten Antrag sind dabei keine hohen Anforderungen zu stellen. Grundsätzlich reicht der Hinweis auf das Vorliegen eines solchen Grundes wie Urlaubsabwesenheit, Arbeitsüberlastung oder das Erfordernis weiterer Abstimmung zwischen Prozessbevollmächtigtem und Partei aus, ohne dass es einer weiteren Substantiierung bedarf. Unter Umständen kann auch eine konkludente Darlegung der für eine Fristverlängerung erforderlichen Voraussetzungen genügen.

Mit dem Antrag, die Frist vorsorglich zu verlängern, wird aber keinerlei Grund angedeutet, weshalb einem solchen Antrag nicht zu entsprechen ist.

Auch wenn der Prozessbevollmächtigte sich nicht nach dem Eingang eines Poststücks bei Gericht erkundigen muss, wenn hinreichend Zeit für die Übermittlung zur Verfügung stand, muss er sich in ungewissen Fällen (telefonisch) bei Gericht nach der Gewährung der Fristverlängerung erkundigen, weil ihn sonst ein Verschulden an der Fristversäumnis treffen kann und dies einer Wiedereinsetzung entgegensteht. Wurde dem Antrag nämlich beispielsweise wegen fehlender Benennung eines erheblichen Grundes nicht stattgegeben, kann der Rechtsanwalt dies bei ensprechender Nachfrage nämlich noch nachholen.

 

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Befangenheit eines gerichtlich bestellten Sachverständigen wegen seiner vorprozessualen Privatgutachtertätigkeit für eine Partei

OLG Oldenburg, Beschluss vom 12.07.2012 — Aktenzeichen: 2 W 38/12

Leitsatz
Ist ein gerichtlich bestellter Sachverständiger vorprozessual in der selben Angelegenheit für eine Partei als Privatgutachter tätig geworden, rechtfertigt dies die Annahme der Besorgnis der Befangenheit des Sachverständigen, da erfahrungsgemäß nicht ausgeschlossen werden kann, dass ein Privatgutachter dazu neigt, die Erwartungen seines Auftraggebers zu bestätigen.

Sachverhalt
In einem selbstständigen Beweisverfahren, in dem es um die mangelhafte Ausführung von Putzarbeiten ging, hatte das LG einen Sachverständigen als Gutachter bestellt, obwohl dieser bereits vorprozessual in dieser Angelegenheit für das antragstellende Bauunternehmen tätig geworden war. Nachdem das LG den Befangenheitsantrag gegen den Sachverständigen zurückgewiesen hatte, gab das OLG Oldenburg der sofortigen Beschwerde gegen diesen Beschluss statt.

Entscheidung
Nachdem das OLG einleitend ausgeführt worden war, dass eine Besorgnis der Befangenheit eines Sachverständigen bereits dann gegeben sei, wenn ein Grund vorliege, der bei verständiger Würdigung Anlass für ein Misstrauen der Partei gegenüber dem Sachverständigen rechtfertigen kann, machte das OLG deutlich, dass dies dann der Fall sei, wenn ein Sachverständiger vorprozessual für eine Partei als Privatgutachter tätig geworden sei, da nämlich erfahrungsgemäß nicht ausgeschlossen werden könne, dass ein Privatgutachter dazu neigt, die Erwartungen seines Auftraggebers zu bestätigen; zudem bestehe auch die Gefahr, dass er bei seinem Gutachten die Angaben seines Auftraggebers ohne Weiteres zugrunde lege.

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Umfang des Akteneinsichtsrechts bei Verfahren wegen Geschwindigkeitsübertretungen

OLG Naumburg, Beschluss vom 05.11.2012 — Aktenzeichen: 2 Ss (Bz) 100/12

Leitsatz
In Verfahren wegen Geschwindigkeitsübertretungen umfasst das Recht des Verteidigers auf Akteneinsicht auch Bedienungsanleitungen des Messgeräteherstellers.
Sachverhalt
Der Betr. war durch Urteil des AG wegen vorsätzlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu einer Geldbuße von 200,00 € verurteilt worden. Der vom Verteidiger des Betr. in der mündlichen Verhandlung gestellte Antrag auf Aussetzung des Verfahrens wegen unzureichender Gewährung von Akteneinsicht, insbesondere wegen fehlender Einsicht in die Bedienungsanleitung des Geschwindigkeitsmessgerätes war zuvor vom Einzelrichter abgelehnt worden. In der weiteren Rechtsbeschwerdeinstanz hatte der Betr. darauf hin mit seiner Verfahrensrüge Erfolg.

Entscheidung
Das OLG Naumburg hat in dieser Entscheidung die Auffassung vertreten, dass der Verteidiger im Rahmen eines Bußgeldverfahrens, das eine Geschwindigkeitsüberschreitung zum Gegenstand hat, das Recht auf Akteneinsicht in alle Unterlagen hat, die auch dem Sachverständigen zur Verfügung gestellt werden. Dies folge schon aus dem Gesichtspunkt der Gewährleistung eines fairen Verfahrens. Nur wenn dem Verteidiger alle Unterlagen zur Verfügung stehen würden, die auch dem Sachverständigen zugänglich sind, sei es ihm möglich, das Sachverständigengutachten auf seine Richtigkeit zu überprüfen. Vor diesem Hintergrund sei es nicht ausreichend, den Verteidiger auf allgemein zugängliche Sekundärliteratur zu verweisen, in denen die Funktions- und Bedienweise von Geschwindigkeitsmessgeräten erklärt wird.

Persönliche Anmerkung
Seit langem beschäftigt die Rechtsprechung und Literatur der Streit um den Umfang des Akteneinsichtsrechts — insbesondere in die Gebrauchsanweisung des eingesetzten Messgeräts. Der kostenintensive Kauf der Gebrauchsanweisung beim Hersteller der Messgeräte durch den Verteidiger kann keine Alternative sein. Es ist deshalb zu begrüßen, dass mit dem Beschluss des OLG Naumburg eine Entscheidung getroffen worden ist, aus der sich ergibt, dass das Recht auf Akteneinsicht auch die Bedienungsanleitung des Messgerätes umfasst.

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Aufhebung der PKH-Bewilligung aufgrund unrichtiger Angaben des Antragstellers nach § 124 Nr. 2 Alt. 1 ZPO

BGH, Beschluss vom 10.10.2012 — Aktenzeichen: IV ZB 16/12

Leitsatz
Für die Aufhebung der PKH-Bewilligung wegen vorsätzlicher oder aus grober Nachlässigkeit gemachter Angaben des Antragstellers ist nicht Voraussetzung, dass die Bewilligung gerade auf den Falschangaben beruht.

Sachverhalt
Dem Beklagten, der in der seinem PKH-Antrag beigefügten Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse angegeben hatte, dass er weder über eigenes Einkommen noch über Vermögen verfüge, war durch Beschluss des LG ratenfreie PKH bewilligt worden. Nachdem das Klageverfahren am Tage des PKH-bewilligenden Beschlusses durch Vergleich zum Abschluss gebracht worden war, wandte sich ca. 6 Monate später der Kläger an das LG mit der Anregung, die PKH-Bewilligung wegen Falschangaben des Beklagten aufzuheben, was auch sodann durch Beschluss des LG geschah. Dagegen erhob der Beklagte beim zuständigen OLG sofortige Beschwerde mit dem Hinweis, dass seine Falschangaben nicht kausal für die PKH-Bewilligung gewesen seien. Die sofortige Beschwerde wurde seitens des OLG zurückgewiesen. Auch die zugelassene Rechtsbeschwerde beim BGH hatte keinen Erfolg.

Entscheidung
Der BGH wies zunächst darauf hin, dass bislang in der Rechtsprechung und Literatur die Beantwortung der Frage umstritten sei, ob die Aufhebung der PKH-Bewilligung wegen absichtlich oder aus grober Nachlässigkeit gemachter falscher Angaben nach § 124 Nr. 2 Alt. 1 ZPO voraussetze, dass die falschen Angaben des Antragstellers konkret zu einer objektiv unrichtigen Bewilligung geführt haben. Sodann beantwortete der BGH diese umstrittene Rechtsfrage dahingehend, dass von § 124 Nr. 2 Alt. 1 ZPO nicht vorausgesetzt werde, dass die PKH-Bewilligung konkret kausal auf den Falschangaben beruhe. Zur Begründung führte der BGH aus, dass Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte und Gesetzeszweck des § 124 Nr. 2 Alt. 1 ZPO dafür sprechen würden, dass das Gericht die Prozesskostenhilfebewilligung bei absichtlich oder aus grober Nachlässigkeit gemachten falschen Angaben des Antragstellers auch dann aufgehoben werden könne, wenn die Bewilligung nicht auf diesen Angaben beruht, sondern die falschen Angaben jedenfalls generell geeignet erscheinen, die Entscheidung über die Prozesskostenhilfe zu beeinflussen. Die genannten Regelungen würden nämlich darauf beruhen, dass das Gericht im Bewilligungsverfahren, welches sich im Interesse des Antragstellers an einer schnellen Entscheidung mit einer Glaubhaftmachung der Bewilligungsvoraussetzungen begnüge, im besonderen Maße auf ein redliches Verhalten des Antragstellers angewiesen sei. Begründe der Antragsteller in vorwerfbarer Weise Zweifel an seiner Redlichkeit, erscheine es deshalb angemessen, ihm die nachgesuchte finanzielle Unterstützung zu versagen, weil ein summarisches Prüfungsverfahren dann nicht mehr möglich sei.

Persönliche Anmerkung
Diese Entscheidung des BGH ist bedenklich. Auch wenn der bewilligende Prozesskostenhilfebescheid kein Verwaltungsakt im engeren Sinne ist, darf nicht übersehen werden, dass die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes wegen unrichtiger oder unvollständiger Angaben des Begünstigten beispielsweise nach § 45 II 3 Nr. 2 SGB X voraussetzt, dass der begünstigende Verwaltungsakt ganz konkret auf den Falschangaben beruht.

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Ablehnung eines Sachverständigen wegen Geschäftsbeziehung zur Partei

OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11.04.2012 — Aktenzeichen: 14 W 46/11

Leitsatz
Nur intensive Geschäftsbeziehungen zwischen dem Sachverständigen und einer Partei können einem Ablehnungsantrag wegen Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen.

Sachverhalt
Im Rahmen eines Rechtsstreits, in dem der Kläger von der beklagten Versicherung aus Anlass eines Verkehrsunfalls wegen erlittener Verletzungen einen Erwerbsausfallschaden verlangte, wurde vom Gericht ein Sachverständiger mit der Erstellung des notwendigen neurologischen Gutachtens beauftragt, der im Vorjahr der Beauftragung zwölf Aufträge (von insgesamt 1608) von der beklagten Versicherung erhalten hatte. Dies nahm der Kläger zum Anlass, einen Befangenheitsantrag zu stellen.

Entscheidung
Das OLG Karlsruhe hat in diesem Beschluss die Auffassung vertreten, dass nur intensive Geschäftsbeziehungen zwischen dem Sachverständigen und einer Partei einen Ablehnungsgrund darstellen können. Allein der Umstand, dass ein Sachverständiger in einem nicht ins Gewicht fallenden Umfang in der Vergangenheit für einen Versicherer tätig geworden sei, könne nicht die Annahme rechtfertigen, dass eine wirtschaftliche oder sonstige Abhängigkeit zu befürchten sei, die einen Ablehnungsgrund begründe. Im Hinblick auf die im vorliegenden Fall in keiner Weise ins Gewicht fallende frühere Tätigkeit sei noch nicht einmal der Sachverständige dazu gehalten, bei Annahme des Gutachtenauftrags diese übliche Gutachtentätigkeit aus seiner Vergangenheit offen zu legen.

Persönliche Anmerkung
Diese Entscheidung des OLG Karlsruhe kann nur bedingt überzeugen. Nach diesseitiger Auffassung muss der Sachverständige bei einer solchen Fallkonstellation sehr wohl verpflichtet sein, diese vorausgegangene Gutachtertätigkeit zu einer Partei bei Annahme des Gutachtenauftrags offen zu legen, um der anderen Partei zumindest Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.

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