zweite und dritte Fristverlängerungsanträge und die Krux mit beA

Michael PeusMichael Peus

BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

BGH, Beschluss vom 31.07.2023 – VIa ZB 1/23

BGH, Beschluss vom 10.10.2023 – XI ZB 1/23

 

Sachverhalte

Immer wieder kommt es vor, dass Anwälte bei den Berufungsgerichten beantragen, die Berufungsbegründungsfrist erst-, zweit- oder drittmalig zu verlängern, und die Vorsitzenden des Berufungsgerichts sind der Ansicht, das ginge nun aber nicht.

Fiktiver Fall:

Rechtsanwalt A trifft abends Rechtsanwalt B, als sie im örtlichen Wirtshaus Mandantenakcuise betreiben. Beide stehen sich als Vertreter ihrer Mandanten X bzw. Y vor dem örtlichen Oberlandesgericht in einem Berufungsverfahren gegenüber. A erwähnt beiläufig, dass er schon gespannt ist auf den Erhalt der Berufungsbegründung des B; immerhin laufe die Frist des B ja „heute‟ ab. B, dem leider Kaffee über seinen Fristenkalender gelaufen war und er daher die letzte eingetragene Frist des Tages nicht mehr enträtseln  konnte, schwant, dass der vom Koffein vernichtete Eintrag auf den Ablauf der bereits zweimal (zunächst um einen Monat und sodann um 2 Wochen) verlängerten Berufungsbegründungsfrist hinwies. B erklärte seine missliche Lage und fragte A, ob er weitere sechs Wochen Fristverlängerung von A genehmigt bekäme. Nach Rücksprache mit seinem ebenfalls vor Ort anwesenden Mandanten erklärte sich A einverstanden, gab aber zu bedenken, dass das Berufungsgericht schon bei der letzten Fristverlängerung mitgeteilt habe, die Frist würde „letztmalig‟ verlängert.

Rechtsanwalt B eilte daraufhin in sein Büro. Er erstellte einen Fristverlängerungsantrag und begründete diesen mit allgemeiner Arbeitsüberlastung, teilte das Einverständnis des Kollegen A mit und beantragte Fristverlängerung von 6 Wochen. Dann stellte er fest, dass das besondere elektronische Anwaltsfach nicht funktionierte. Er fertigte noch einen inhaltsgleichen Fristverlängerungsantrag, in den er einen Screenshot des beA-Portals einfügte mit den Hinweisen, dass dies nicht funktioniere und sich die Störung auch aus der Webseite des beA-Portals ergebe, und übersandte ihn vollständig vor Tagesablauf per Telefax an das Berufungsgericht. Von Adrenalin getrieben fertigte B die Berufungsbegründung direkt am nächsten Tag und reichte sowohl den per Telefax bereits eingereichten Fristverlängerungsantrag als auch die Berufungsbegründung ein.

Das Berufungsgericht wies – mit oder ohne Beratung durch den Kantinensenat – den Fristverlängerungsantrag am Folgetag zurück. Immerhin seien schon zwei Verlängerungen erfolgt und es sei darauf hingewiesen worden, dass  eine weitere Fristverlängerung nicht gewährt würde; 6 Wochen Verlängerung seien ohnehin unangemessen. Der weiterer Fristverlängerung  würde auch das Recht des Gegners auf effektiven Rechtsschutz entgegenstehen. Die Tatsache, dass Arbeitsüberlastung an der Fertigung gehindert habe, sei schon dadurch widerlegt, dass am Folgetag die Berufungsbegründung eingegangen sei. Außerdem sei der Fristverlängerungsantrag so spät am Tag des Fristablaufs eingereicht worden, dass an dem Tag weder über dessen Stattgabe entschieden werden konnte noch der Anwalt über dessen Schicksal habe Erkundigungen einholen können. Letztlich könne das alles dahinstehen, weil die Beantragung der Fristverlängerung per Telefax unwirksam sei und Rechtsanwalt B nicht einmal anwaltlich versichert habe, dass beA nicht funktioniere.

B stellte Wiedereinsetzungsantrag (unter Beachtung aller Formalien), der aus vorstehenden Erwägungen zurückgewiesen wurde. Nun wurde der BGH angerufen.

Warum gibt der BGH Rechtsanwalt B Recht?

 

Entscheidungsgründe

1. Unschädlich war die „späte‟ Stellung des Fristverlängerungsantrages. Denn eine Partei darf eine Frist ausschöpfen. Eine Frist kann auch nach deren Ablauf verlängert werden, solange der Fristverlängerungsantrag vor Fristablauf bei Gericht eingegangen ist:

Eine Partei ist grundsätzlich berechtigt, eine Frist bis zum letzten Tag auszuschöpfen (BGH, Beschluss vom 8. Mai 2018 – VI ZB 5/17, NJW-RR 2018, 958 Rn. 11 mwN).
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

 

Der Fristverlängerungsantrag muss nicht so rechtzeitig gestellt werden, dass vor Fristablauf noch mit einer Entscheidung gerechnet werden könnte.
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

Für eine Rückfrage, ob dem Antrag stattgegeben wurde, besteht kein erkennbarer Anlass, wenn der Anwalt – wie im Streitfall – mit der Verlängerung der Frist rechnen konnte (BGH, Beschluss vom 16. Oktober 2007 – VI ZB 65/06, NJW-RR 2008, 367 Rn. 9; Beschluss vom 5. Juni 2012 – VI ZB 16/12, NJW 2012, 2522 Rn. 10; Beschluss vom 26. Januar 2017 – IX ZB 34/16, NJW-RR 2017, 564 Rn. 12).
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

 

Die Begründungsfrist kann auch nach ihrem Ablauf verlängert werden, wenn dies vor Fristablauf beantragt wurde (vgl. BGH, Beschluss vom 18. März 1982 – GSZ 1/81, BGHZ 83, 217, 219, 221).
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

 

2. Das Telefax des Anwalts B war ausreichend, da beA eine Störung hatte. Eine anwaltliche Versicherung der Störung war nicht erforderlich, da Anwalt B einen Screenshot von der Störung übermittelte und aus den öffentlich zugänglichen Protokollen des beA-Portals bzw. dessen Archivs das Gericht die Störung unproblematisch nachvollziehen konnte:

Allerdings überspannt das Berufungsgericht die sich aus § 130d Satz 3 ZPO ergebenden Anforderungen an die Glaubhaftmachung einer auf technischen Gründen beruhenden vorübergehenden Unmöglichkeit der Übermittlung als elektronisches Dokument, indem es im vorliegenden Fall eine anwaltliche Versicherung des Scheiterns der Übermittlung für zwingend erforderlich erachtet, ohne den vorgelegten Screenshot zu berücksichtigen.
vgl. BGH, Beschluss vom 10.10.2023 – XI ZB 1/23

 

Die Vorlage dieses Screenshots, bei dem es sich um ein Augenscheinsobjekt im Sinne von § 371 Abs. 1 ZPO handelt (OLG Jena, GRUR-RR 2019, 238 Rn. 15; BeckOK ZPO/Bach, 50. Edition, Stand: 1. September 2023, § 371 Rn. 3), war im vorliegenden Fall geeignet, die behauptete Störung glaubhaft zu machen.
vgl. BGH, Beschluss vom 10.10.2023 – XI ZB 1/23

 

Denn sein Inhalt stimmt überein mit den Angaben in der beA-Störungsdokumentation auf der Internetseite der Bundesrechtsanwaltskammer (…).
vgl. BGH, Beschluss vom 10.10.2023 – XI ZB 1/23

Gegebenenfalls hätte es des Screenshots gar nicht bedurft:

Unter diesen Umständen kann dahinstehen, ob das Berufungsgericht die von der Prozessbevollmächtigten des Klägers geschilderte Störung angesichts der auf der Internetseite der Bundesrechtsanwaltskammer verfügbaren Informationen als offenkundig (§ 291 ZPO) hätte behandeln können (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. Mai 2023 – V ZR 14/23, juris Rn. 1 und vom 24. Mai 2023 – VII ZB 69/21, WM 2023, 1428 Rn. 17 ff.).
vgl. BGH, Beschluss vom 10.10.2023 – XI ZB 1/23

 

3.  Auch wenn das Gericht bereits mit der Gewährung der letzten Fristverlängerung mitgeteilt hatte, dass die Frist „letztmalig‟ verlängert würde, stand dies – wenig überraschend – einer weiteren Fristverlängerung nicht entgegen, da weitere Gründe durch das Gericht nicht dargelegt werden:

Der vorangegangene Hinweis, mit einer weiteren Verlängerung sei nicht zu rechnen, stand dem Vertrauen der Prozessbevollmächtigten des Klägers in die Fristverlängerung nicht entgegen. Das Berufungsgericht verkennt, dass ein solcher Hinweis das Gericht nicht davon entbindet, die in § 520 Abs. 2 ZPO angelegte Differenzierung danach, ob der Gegner eingewilligt hat oder nicht, und die vom Gesetzgeber beabsichtigte (BT-Drucks. 14/4722 S. 95) vereinfachte Verlängerungsmöglichkeit bei erteilter Einwilligung zu beachten (vgl. BVerfGE 79, 372, 376 f.; BGH, Beschluss vom 1. August 2001 – VIII ZB 24/01, NJW 2001, 3552).
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

 

Der mit der zweiten Fristverlängerung verbundene Hinweis der Vorsitzenden auf eine „letztmalige‟ Verlängerung stand dem Vertrauen des Prozessbevollmächtigten des Klägers in die Fristverlängerung ohne Rücksicht darauf nicht entgegen, ob er ihn bei Aufwendung der gebotenen Sorgfalt zur Kenntnis nehmen konnte. Ein solcher Hinweis entbindet das Gericht nicht davon, die in § 520 Abs. 2 ZPO angelegte Differenzierung danach, ob der Gegner eingewilligt hat oder nicht, und die vom Gesetzgeber (BT-Drucks. 14/4722, S. 95) beabsichtigte vereinfachte Verlängerungsmöglichkeit bei erteilter Einwilligung zu beachten (BGH, Beschluss vom 30. Januar 2023 – VIa ZB 15/22, NJW 2023, 1449 Rn. 11 mwN).
vgl. BGH, Beschluss vom 31.07.2023 – VIa ZB 1/23

 

Eine Erschütterung des Vertrauens eines Rechtsmittelführers aufgrund eines entsprechenden Zusatzes hätte allenfalls in Betracht kommen können, wenn das Berufungsgericht mit der Fristverlängerung tragfähige und zum Zeitpunkt der Ermessensausübung fortgeltende Erwägungen offenlegt hätte, aus denen eine weitere Verlängerung der Frist zur Berufungsbegründung nicht in Betracht kam.
vgl. BGH, Beschluss vom 31.07.2023 – VIa ZB 1/23

Grundsätzlich steht es dem Gericht mithin nicht frei, das ihm obliegende Ermessen für zukünftige Entscheidungen durch vorherige Ankündigungen zu reduzieren.

 

4. Dass das Berufungsgericht die Arbeitsbelastung nicht als ausreichenden wichtigen Grund ansah, weil die Berufungsbegründung am Folgetag eingereicht wurde, war aus zwei Gründen falsch. Einerseits bedurfte es schon gar keines wichtigen Grundes, weil Rechtsanwalt A einverstanden war.

Auf erhebliche Gründe für die Fristverlängerung im Sinne von § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO kam es entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ebenso wenig an (….)
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

Er durfte darauf vertrauen, dass sein rechtzeitig gestellter Antrag, die bis zum 9. Juni 2022 verlängerte Berufungsbegründungsfrist erneut zu verlängern, nicht abgelehnt würde. Die Auffassung des Berufungsgerichts, der Kläger hätte vor dem Hintergrund eines früheren Hinweises, mit einer weiteren Fristverlängerung sei nicht zu rechnen, über die Mitteilung der Einwilligung der Beklagten hinaus erhebliche Gründe für die erneute Fristverlängerung darlegen müssen, ist unzutreffend. Sie überspannt die sich aus § 520 Abs. 2 Satz 2 ZPO ergebenden Anforderungen an einen bewilligungsfähigen Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist.
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

Andererseits konnte das Einreichen der Berufungsbegründung am Folgetag nicht die Arbeitsbelastung widerlegen.

Auf erhebliche Gründe für die Fristverlängerung im Sinne von § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO kam es entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ebenso wenig an wie auf dessen Mutmaßungen, die Einreichung der Berufungsbegründung bereits am Folgetag zeige, dass keine Überlastung vorgelegen habe.
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

Und so war die am Folgetag eingelegte Berufungsbegründung auch grundsätzlich rechtzeitig.

Beantragt der Berufungskläger mit Einverständnis des Gegners, die wegen eines erheblichen Grundes bereits um einen Monat verlängerte Frist zur Berufungsbegründung um weitere sieben Tage zu verlängern, darf der Berufungskläger nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs darauf vertrauen, dass dem Antrag stattgegeben werde (BGH, Beschluss vom 9. Juli 2009, aaO, Rn. 10; Beschluss vom 1. Juli 2013 – VI ZB 18/12, NJW 2013, 3181 Rn. 10).
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

 

Daran gemessen konnten die Prozessbevollmächtigten des Klägers darauf vertrauen, dass ihrem zweiten Fristverlängerungsantrag – jedenfalls teilweise – gemäß § 520 Abs. 2 Satz 2 ZPO stattgegeben werde. Aus dem Umstand, dass im Streitfall eine Verlängerung um weitere sechs Wochen beantragt wurde, folgt schon deshalb nichts anderes, weil dem Kläger, der die Berufungsbegründung einen Tag nach Fristablauf eingereicht hat, eine teilweise Stattgabe seines Verlängerungsantrags für sieben Tage genügt hätte, um die Frist zu wahren (vgl. BGH, Beschluss vom 8. April 2015 – VII ZB 62/14, NJW 2015, 1966 Rn. 12 mwN).
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

 

5. Wenn das Gerichts dann noch meinte, im Interesse der Gegenseite die Frist nicht verlängern zu können, da diese Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz habe, so stellt der BGH klar, dass dieses Interesse bzw. die Verfahrensbeschleunigungspflicht zurücktritt, wenn der Gegner sich mit der Fristverlängerung einverstanden erklärt hat.

Die aus der verfassungsrechtlichen Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes (…) resultierende Verpflichtung der Fachgerichte, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zu einem Abschluss zu bringen (…), trat (…) zurück, solange der Gegner mit der weiteren Fristverlängerung einverstanden war (…).
vgl. BGH, Beschluss vom 31.07.2023 – VIa ZB 1/23

 

6. Nach den vorstehenden Grundsätzen hätte dem Fristverlängerungsantrag von B eigentlich entsprochen werden müssen. Da dies nicht geschehen war, war die Berufungsbegründung eigentlich verspätet. Über die Wiedereinsetzung war dies – eigentlich schon von dem Berufungsgericht – wieder geradezurücken:

Im Wiedereinsetzungsverfahren kann sich der Rechtsmittelführer deshalb nur dann mit Erfolg auf sein Vertrauen in eine Fristverlängerung berufen, wenn deren Bewilligung mit großer Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte (BGH, Beschluss vom 4. Juli 1996 – VII ZB 14/96, NJW 1996, 3155; Beschluss vom 21. Februar 2000 – II ZB 16/99, NJW-RR 2000, 947; Beschluss vom 9. Juli 2009 – VII ZB 111/08, NJW 2009, 3100 Rn. 8, jeweils mwN).
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

 

Das Vertrauen in die Gewährung einer wiederholten Fristverlängerung ist im Regelfall erst erschüttert, wenn aus Sicht eines Rechtsmittelführers Anhaltspunkte dafür gegeben sind, dass die Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens trotz der Einwilligung zu einer Ablehnung der begehrten Fristverlängerung führen kann.
vgl. BGH, Beschluss vom 31.07.2023 – VIa ZB 1/23

 

Anders als das Berufungsgericht meint, ist bei Einwilligung des Gegners allerdings auch das Vertrauen in eine zweite Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist geschützt.
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

 

 

 

obiter dicta:

Das Risiko, dass das Berufungsantrag einem Fristverlängerungsantrag nicht entspricht, trägt der Antragsteller. Der Rechtsmittelführer ist generell mit dem Risiko belastet, dass der Vorsitzende des Rechtsmittelgerichts in Ausübung seines pflichtgemäßen Ermessens eine beantragte Verlängerung der Rechtsmittelbegründungsfrist versagt.
vgl. BGH, Beschluss vom 30.01.2023 – VIa ZB 15/22

 

Dass zahlreiche ähnlich gelagerte Rechtsstreitigkeiten bei Instanzgerichten anhängig sind, ändert im Übrigen nichts an der Gültigkeit allgemeiner prozessualer Grundsätze (aA für Fristverlängerungen in „Massenverfahren‟ OLG Bamberg, Beschluss vom 25. April 2019 – 8 U 2/19, juris Rn. 22).
vgl. BGH, Beschluss vom 31.07.2023 – VIa ZB 1/23

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Aufklärungspflicht des Berufungsgerichts bzgl. des Eingangs von Telefaxen

Michael PeusMichael Peus

BGH, Beschl. v. 08.03.2022 – VIII ZB 96/20

 

Leitsatz (amtlich)

Zu den Pflichten des Rechtsmittelgerichts bei Zweifeln am rechtzeitigen Eingang einer per Telefax übermittelten Berufungsbegründung.

 

Sachverhalt  

Der Prozessbevollmächtigte der Beklagten legte gegen ein für den Beklagten nachteiliges Urteil fristgerecht Berufung ein. Die Berufungsbegründungsfrist lief bis zum Ablauf des 14.05.2018.

Der Prozessbevollmächtigte schickte die Berufungsbegründung per Telefax an das Berufungsgericht. Das Empfangsgerät wies jedoch den 15.05.2018 um 0:01 Uhr als Empfangszeit aus, woraufhin das Berufungsgericht den Prozessbevollmächtigten daraufhin wies, dass die Berufungsbegründung nicht mehr fristgerecht bei Gericht eingegangen sei. Der Prozessbevollmächtigte legte sodann den Sendebericht seines Telefaxgerätes vor, der den 14.05.2018, 23:52 Uhr als Sendezeit und eine Übertragungsdauer von einer Minute und 26 Sekunden erkennen ließ und bat, dies nochmal zu überprüfen und beantragte hilfsweise mit Schriftsatz vom 18.01.2019 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Er schilderte den Ablauf der Einreichung der Berufungsbegründung und beantragte die „amtliche Auskunft“ über die Funktionsweise der Zeitangaben des Empfangsgeräts. Daraufhin wurde das Journal des Faxgeräts herangezogen, dass ebenfalls den 15.05.2018 um 0:01 Uhr als Empfangszeitpunkt und eine Übertragungsdauer von einer Minute und 27 Sekunden auswies.

Das Berufungsgericht wies den Wiedereinsetzungsantrag zurück und verwarf die Berufung als unzulässig. Es führte zur Begründung aus, dass die Berufungsbegründungsfrist nicht eingehalten worden sei. Das gehe aus dem Empfangsbericht des gerichtlichen Faxgerätes sowie dem Faxjournal hervor. Dass das gerichtliche Faxgerät nicht ordnungsgemäß funktioniere, sei weder bekannt noch ersichtlich. Das Faxgerät des Bevollmächtigten weise nicht die richtige Uhrzeit aus oder es sei zwischen der Absendung und dem Empfang zu Verzögerungen gekommen.

Auch der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei nicht fristgerecht gestellt und im Übrigen unbegründet, da die Beklagte nicht hinreichend dargelegt habe, dass ihren Prozessbevollmächtigten kein Verschulden an der Versäumung der Rechtsmittelbegründungsfrist treffe.

 

Entscheidung

Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Das Berufungsgericht hat den Vortrag der Beklagten nicht hinreichend beachtet und die Widersprüchlichkeiten anhand der für die Beklagte nicht zugänglichen, gerichtsinternen Vorgänge, nicht aufgeklärt und dadurch den Zugang zu einer gerichtlichen Instanz erschwert. Die Ausführung des Berufungsgerichts, es fehle der Nachweis eines rechtzeitigen Eingangs der Berufungsbegründung, ist rechtsfehlerhaft.

Zweifel bzgl. der fristgerechten Einreichung des Antrags gehen zulasten des Antragstellers, der hierfür die Beweislast trägt. Bei einer Berufungsbegründung, die per Telefax versandt wird, ist der Zeitpunkt des Eingangs bei Gericht maßgeblich, d.h. der Schriftsatz hätte im vorliegenden Fall am 14.05.2018 bis spätestens 24:00 Uhr vom Gericht vollständig empfangen werden müssen.

Der BGH konnte mangels ausreichender Feststellungen des Berufungsgerichts nicht beurteilen, ob dem Beklagten dieser Nachweis gelingt. Das Berufungsgericht beschäftigte sich weder mit dem Parteivorbringen der Beklagten zum rechtzeitigen Eingang der Berufungsbegründung noch mit der anwaltlichen Versicherung, dass der Prozessbevollmächtigte die Zeitangabe des Faxgerätes mittels zweier Funkuhren überprüft hat. Auch eine Auseinandersetzung des Gerichts mit den hinsichtlich der Übertragungsdauer nahezu identischen Sendeberichten des Beklagtenvertreters sowie des gerichtlichen Faxjournals fehlt. Dieser Aspekt ist jedoch von entscheidungserheblicher Bedeutung, denn die unterschiedlichen zeitlichen Angaben führen vor Augen, dass diese entweder auf einer falschen Zeitangabe des Faxgeräts des Beklagtenvertreters oder auf einer zeitlichen Verzögerung zwischen Absendung und Empfang zurückzuführen sind. Ebenso möglich wäre, dass die im gerichtlichen Faxjournal und auf dem Empfangsbericht angegebene Uhrzeit nicht mit dem Zeitpunkt des vollständigen Empfangs übereinstimmt.

Da die Beklagtenseite keinerlei Einblick in die gerichtsinternen Vorgänge hat und daher auch keine etwaigen Fehlerquellen kennt, obliegt die weitere Aufklärung des Sachverhalts dem Gericht. Eine alleinige Beurteilung nur anhand des Faxjournals reicht hierfür nicht aus. Nähere Ausführungen dazu, wieso das Berufungsgericht eine Fehlfunktion des gerichtlichen Faxgerätes ausschließt, fehlen gänzlich.

Weiterhin hätte das Gericht angesichts der unterschiedlichen Zeitangaben und der unterschiedlichen Übertragungsdauer des Sende- und Empfangsberichts klären müssen, ob das gerichtliche Faxjournal den Zeitpunkt des vollständigen Empfangs oder den kompletten Ausdruck des Faxes als „Empfangszeit“ angibt sowie ob das gerichtliche Faxgerät zum maßgeblichen Zeitpunkt eine andere als die tatsächliche Uhrzeit angab.

Ergänzend weist der BGH daraufhin, dass das Berufungsgericht in dem Falle, dass über eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entschieden werden muss, diese wohl nicht mehr fristgerecht beantragt worden ist. Der Hinweis des Berufungsgerichts vom 24.09.2018, war eindeutig und bedurfte keinen weiteren, deutlicheren Ergänzungen. Die Frist des § 234 Abs. 1 S. 2 ZPO wurde somit in Gang gesetzt. Auch die Voraussetzungen einer konkludenten Beantragung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dürften nicht vorliegen. Hierfür müsste der Antragsteller deutlich gemacht haben, dass eine Versäumung der Frist möglich ist, Ausführungen zu den Wiedereinsetzungsgründen machen und den Willen zum Ausdruck bringen, das Verfahren fortführen zu wollen. Ebenso dürfte eine Wiedereinsetzung von Amts wegen trotz des Vorliegens der Voraussetzungen des § 236 Abs. 2 S. 2 HS 1 ZPO nicht vorliegen. Diese Voraussetzungen hätten innerhalb der Frist des § 234 Abs. 1 ZPO dargetan werden müssen.

 

Anmerkung: Durch die Nutzungspflicht des elektronischen Übertragungsweges (§ 130d S. 1 ZPO) wird es zu Übertragungsfragen zukünftig weniger Unklarheit geben. Da aber im Fall des Ausfalls der elektronischen Übertragungswege nach § 130d S. 2 ZPO auch die „herkömmliche Faxübermittlung“ zulässig ist, hat die Entscheidung grundsätzlich auch weiterhin Relevanz.

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Begründung des Wiedereinsetzungsantrags

Michael PeusMichael Peus

BGH, Beschl. v. 28.07.2022 – III ZB 65/21

 

Leitsatz (redaktionell)

Der Wiedereinsetzungsantrag muss eine substantiierte, in sich schlüssige Darstellung der entscheidungserheblichen Tatsachen enthalten. Hierzu zählen auch Angaben, worin das Versehen, auf dem die Fristversäumnis beruht, besteht.

 

Sachverhalt

Der Kläger legte form- und fristgerecht Berufung ein. Die Berufungsbegründung ging beim Oberlandesgericht über das Elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach ein, jedoch war diese mit einer ungültigen qualifizierten elektronischen Signatur des Prozessbevollmächtigten versehen. Im gerichtlichen Prüfprotokoll hieß es: „Die mathematische Prüfung der Signatur ist fehlgeschlagen. Die Inhaltsdaten oder die Signatur wurden nach der Signatur verändert.“

Nach einem Hinweis des Gerichts, beantragte der Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und führte zur Begründung aus, dass die Fristversäumung auf einem Versehen einer stets zuverlässigen, regelmäßig geschulten und stichprobenartig überprüften Kanzleiangestellten beruhe. Sie habe die Berufungsbegründung nach der Signierung durch den Prozessbevollmächtigten und die Signaturdatei per beA an das Gericht geschickt und den Sendebericht kontrolliert. Dieser wies aus, dass die Berufungsbegründung übersandt worden war. Fehler waren hieraus nicht ersichtlich.

Das Oberlandesgericht wies den Wiedereinsetzungsantrag zurück und verwarf die Berufung als unzulässig. Eine den gesetzlichen Anforderungen genügende Berufungsbegründung sei innerhalb der Frist nicht eingegangen. Der eingereichte Schriftsatz genüge den Voraussetzungen des § 530 Abs. 5 i.V.m. 130a Abs. 1 und 3 ZPO nicht. Gem. § 130a Abs. 3 ZPO muss ein elektronisches Dokument über einen sicheren Übermittlungsweg eingereicht und eine qualifizierte elektronische Signatur enthalten. Die Signatur sei nach dem Prüfungsprotoll ungültig. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei nicht zu gewähren, da ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten nach dem klägerischen Vortrag nicht ausgeschlossen sei. Worin das Versehen der Angestellten zu sehen sei, werde nicht dargelegt. Weiterhin fehle es an Angaben, wie es zu der fehlerhaften Signatur kam und wer dafür verantwortlich sei, dass das Dokument nach der Signatur noch verändert wurde.

Hiergegen wendet sich der Kläger mit der Rechtsbeschwerde.

 

Entscheidung

Der BGH verwarf die Rechtsbeschwerde als unzulässig.

Es fehlt an einer den gesetzlichen Anforderungen genügenden Berufungsbegründung, da keine gültige qualifizierte elektronische Signatur vorlag.

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist gem. § 233 ZPO zu gewähren, wenn das Fristversäumnis nicht auf einem Parteiverschulden beruht. Dabei wird das Verschulden des Prozessbevollmächtigten der Partei gem. § 85 Abs. 2 ZPO zugerechnet.

Der Wiedereinsetzungsantrag muss die die Wiedereinsetzung begründenden Tatsachen enthalten, § 236 Abs. 2 S. 1 ZPO. Hierfür ist eine verständliche, geschlossene Schilderung der Abläufe erforderlich, aus der sich ergibt, worauf das Fristversäumnis konkret beruht und auf wie und durch wessen Verschulden es dazu kam. Wenn auch nur die Möglichkeit besteht, das das Fristversäumnis auf einem Verschulden des Prozessbevollmächtigten beruht, kann keine Wiedereinsetzung gewährt werden.

Daher kann vorliegend keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden. Der Wiedereinsetzungsantrag enthält keine substantiierte, in sich schlüssige Darstellung der entscheidungserheblichen Tatsachen. Es fehlen Angaben dazu, worin das Versehen der Kanzleiangestellten bestanden haben soll.

Es ist nicht erwähnt, dass es sich um einen für den Benutzer nicht ersichtlichen technischen Fehler gehandelt haben könnte. Eine technische Fehlerursache, die in den Verantwortungsbereich des Gerichts fällt oder auf das Übermittungsmedium zurückzuführen ist, kann nicht ohne Weiteres angenommen werden.

Deshalb kann nicht ausgeschlossen werden, dass den Prozessbevollmächtigten ein (Mit-)Verschulden trifft, dass das Dokument nach der Signatur entsprechend dem Prüfprotokoll verändert worden ist und die Signatur deshalb ungültig war.

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Wiedereinsetzung: Hinweispflichten des Gerichts

BGH, Beschl. v. 08.03.2022 – VIII ZB 45/21

 

Leitsatz (amtlich)

War die von dem Prozessbevollmächtigten der Partei zulässigerweise gewählte Übermittlung eines fristwahrenden Schriftsatzes am Tag des Fristablaufs aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen gescheitert und hält das mit dem Wiedereinsetzungsgesuch befasste Gericht einen anderen Übermittlungsweg für zumutbar, womit der Prozessbevollmächtigte nicht zu rechnen brauchte, hat das Gericht vor der Entscheidung hierauf hinzuweisen und der Partei Gelegenheit zur Stellungnahme zur Frage der Zumutbarkeit dieses anderen Übermittlungswegs im konkreten Fall zu geben.

 

Sachverhalt

Die Beklagte, eine sich selbst vertretene Rechtsanwältin, legte fristgerecht Berufung ein. Die Berufungsbegründungsfrist lief am 14.07.2021 ab. Die Berufungsbegründung ging erst am 15.07.2021 bei Gericht ein. Mit Schriftsatz vom 20.07.2021 beantragte die Beklagte Fristverlängerung. Das Berufungsgericht lehnte den Antrag ab, da dieser erst nach Fristablauf bei Gericht eingegangen war. Daraufhin beantragte die Beklagte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zur Begründung führte sie an, dass ihr Kanzleianschluss von dem Telekommunikationsanbieter unerwartet gesperrt worden und seit dem 14.07.2021 nicht mehr nutzbar gewesen sei. Auch das besondere elektronische Anwaltspostfach könne sie deshalb nicht verwenden. Am 14.07.2021 habe sie telefonisch bei der Geschäftsstelle des Gerichts einen Antrag auf Fristverlängerung bis zum 15.07.2021 gestellt und auf dessen Gewährung vertrauen dürfen, da sie die Einwilligung der Gegenseite eingeholt habe. Da der Telekommunikationsanschluss am nächsten Tag immer noch nicht funktioniert habe, habe sie am 15.07.2021 den Schriftsatz persönlich bei Gericht eingeworfen.

Das Berufungsgericht wies den Antrag zurück und verwarf die Berufung als unzulässig. Ihr wäre es bei Bemerken der Sperrung des Anschlusses „ohne weiteres möglich gewesen“ die Berufungsbegründung noch am 14.07.2021 persönlich bei Gericht einzuwerfen. Auf eine erneute Fristverlängerung habe sie nicht vertrauen dürfen und der telefonische Fristverlängerungsantrag genüge den Schriftformanforderungen nicht.

Hiergegen richtet sich die Beklagte mit der Rechtsbeschwerde und macht u.a. geltend, dass es ihr aufgrund einer Gehbehinderung infolge eines Schlaganfalls nicht möglich gewesen sei, die Berufungsbegründung noch am 14.07.2021 persönlich zu Gericht zu bringen.

 

Entscheidung

Mit Erfolg – die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung des Berufungsgerichts verletzt die Beklagte in ihrem Recht auf rechtliches Gehör und wirkungsvollen Rechtsschutz.

Die gesetzlichen Fristen können bis zu ihrer Grenze ausgereizt werden, ohne dass eine erhöhte Sorgfalt an den Tag zu legen ist, um die fristgemäße Übertragung sicherzustellen. Die Parteivertreter müssen auch nicht mit einem unvorhersehbaren Vorfall rechnen, der eine rechtzeitige Übertragung unmöglich macht. Die Beklagte befand sich noch in Verhandlungen mit dem Telekommunikationsanbieter. Die Sperrung beruhte auf einem internen Fehler des Telekommunikationsunternehmens. Der Fall unterscheidet sich daher nicht von den Fällen, in denen die Fristversäumnis auf nicht vorhersehbaren bzw. nicht vermeidbaren technischen Störungen zurückgeht.

Ein Verschulden kann nicht mit der Begründung, die Beklagte hätte den Schriftsatz noch am 14.07.2021 persönlich zum Gericht bringen können, bejaht werden. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung darf von einem Prozessbevollmächtigten, bei dem die geplante Übersendung eines Schriftsatzes per Telefax aufgrund eines technischen Defekts des Empfängergeräts fehlschlägt, nicht erwartet werden, dass dieser die Zustellung innerhalb der verbleibenden, kurzen Zeit durch alle möglichen Bemühungen sicherstellt. Dies ist vielmehr im Einzelfall nach der persönlichen Zumutbarkeit und Möglichkeit zu beurteilen. Zumutbar für den Prozessbevollmächtigten ist es jedenfalls, innerhalb des gewählten Übermittlungsweges nach anderen Möglichkeiten zu suchen, die ohne großen Aufwand genutzt werden können und sich geradezu aufdrängen. Das Berufungsgericht hätte die Beklagte jedenfalls darauf hinweisen müssen, dass es in dem Unterlassen der persönlichen Überbringung des Schriftsatzes am letzten Tag der Frist ein Verschulden sieht und ihr so die Möglichkeit geben müssen, zur Zumutbarkeit vorzutragen.

Aufgrund der glaubhaften Darlegung der Gehbehinderung kann nicht ausgeschlossen werden, dass die persönliche Überbringung der Berufungsbegründung am letzten Tag der Frist für die Beklagte unzumutbar war. Etwas Anderes ergebe sich auch nicht daraus, dass die Beklagte den Schriftsatz am Folgetag zum Gericht gebracht hat. Würde man dies bei der Beurteilung berücksichtigen, würde es zu einer schlechteren Beurteilung desjenigen führen, der alle Möglichkeiten zur fristgerechten Übermittlung ausschöpft, gegenüber demjenigen, der dies nicht tut.

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Fristverlängerungs- vor Wiedereinsetzungsantrag

Michael PeusMichael Peus

BGH, Beschl. v. 27.05.2021 – III ZB 64/20

 

Leitsatz (amtlich)

Ein Prozessbevollmächtigter, der erkennt, eine Rechtsmittelbegründungsfrist nicht einhalten zu können, muss durch einen rechtzeitig gestellten Antrag auf Fristverlängerung dafür Sorge tragen, dass ein Wiedereinsetzungsgesuch nicht notwendig wird. Dies setzt allerdings voraus, dass die Fristverlängerung rechtlich zulässig und ein Vertrauen auf deren Bewilligung begründet ist.

 

Sachverhalt

Eine Prozessbevollmächtigte erster Instanz legte Berufung gegen ein Urteil des Amtsgerichts vom 06.05.2020 ein. Die Frist zur Einreichung der Berufungsbegründung wurde auf Antrag hin durch das Berufungsgericht erstmals verlängert. Dann meldeten sich für die Beklagte neue Prozessbevollmächtigte, die mit der Einwilligung der Gegenseite einen weiteren Fristverlängerungsantrag stellten, weil der zuständige Anwalt urlaubsabwesend war. Dieser Antrag wurde von dem Berufungsgericht zurückgewiesen.

 

Deshalb wurden doch die ursprünglichen Prozessbevollmächtigen mit der Fertigung der Berufungsbegründungsschrift beauftragt.

 

Die Prozessbevollmächtigte stellte am letzten Tag der Frist um 23:00 Uhr den Schriftsatz fertig, konnte ihn jedoch aufgrund eines unvorhersehbaren Druckerfehlers nicht ausdrucken und an das Gericht faxen. Ein Ersatzdrucker war wegen der Fahrzeit eines Angehörigen erst am Folgetag um 2:45 Uhr bei der Bevollmächtigten, sodass die Berufungsbegründungsschrift erst nach 3:30 Uhr bei Gericht einging, mithin verspätet.

 

Es wurde Antrag auf Wiedereinsetzung in die Berufungsbegründungsfrist gestellt.

 

Das Berufungsgericht wies den Wiedereinsetzungsantrag zurück. Da um 23 Uhr erkennbar war, dass ein Ersatzdrucker nicht bis Mitternacht eintreffen könnte, hätte ein neuer Fristverlängerungsantrag gestellt werden müssen. Zudem dargelegt werden müssen, dass die neuen Prozessbevollmächtigen kein Verschulden für die Versäumung der Frist treffe und diese nicht in der Lage waren, die Berufungsbegründung innerhalb der Frist einzureichen. Zumindest hätte eine Vertretung für den ortsabwesenden Rechtsanwalt organisiert sein müssen.

 

Hiergegen wendet sich die Beklagte nun mit der Rechtsbeschwerde.

 

Entscheidung

Mit Erfolg: Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird gewährt.

 

  1. Die Ablehnung der Wiedereinsetzung konnte nicht damit begründet werden, dass die neuen Prozessbevollmächtigen die fristgerechte Einreichung der Berufungsbegründung hätten sicherstellen müssten, denn diese waren nicht mit der Fertigung der Berufungsbegründungsschrift betraut.
  2. Weiterhin stellt das Verhalten der ursprünglichen Prozessbevollmächtigten kein der Wiedereinsetzung entgegenstehendes Verschulden dar, das sich die Beklagte gem. § 85 II ZPO zurechnen lassen müsse. Zwar sind Prozessbevollmächtigte, die erkennen, die Frist nicht mehr einhalten zu können, gehalten, einen rechtzeitigen Fristverlängerungsantrag zu stellen um einen Wiedereinsetzungsantrag zu verhindern, hierzu muss die Fristverlängerung jedoch rechtlich zulässig sein und der Antragsteller müsste auch auf die Bewilligung vertrauen dürfen.

 

Vorliegend war das nicht der Fall. Denn für einen erneuten, aussichtsreichen Fristverlängerungsantrag hätte zunächst die Einwilligung der Gegenseite eingeholt werden müssen (§ 520 Abs. 2 S. 2 ZPO). Dies war um 23:00 Uhr am letzten Tag der Frist nicht mehr möglich. Auch die zuvor den neuen Prozessbevollmächtigen erteilte Einwilligung kam hierfür nicht in Betracht, denn diese war vor einem anderen Hintergrund erteilt worden und der Fristverlängerungsantrag bereits beschieden. Es konnte somit kein rechtzeitiger Fristverlängerungsantrag mehr gestellt werden.

 

Anmerkung

Seit 2022 sind die bestimmenden Eingaben bei Gericht per beA einzureichen. Für die Zeit zuvor kann man unter Berücksichtigung der Urteilsgründe deuten, dass es kein Verschulden darstellte, Schriftsätze nicht per beA zu versenden, wenn der „analoge“ Weg – auch per Telefax – scheiterte.

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Indizwirkung einer medizinischen EDV-Dokumentation, die nachträgliche Änderungen nicht erkennbar macht

Stefan KrappelStefan Krappel

BGH, Urt. v. 27.04.2021 – VI ZR 84/19

 

Leitsätze (amtlich)

  1. In § 630c Abs. 2 S. 1 BGB sind die vom Senat entwickelten Grundsätze zur therapeutischen Aufklärung bzw. Sicherungsaufklärung kodifiziert worden. Diese Grundsätze gelten inhaltlich unverändert fort; neu ist lediglich die Bezeichnung als Informationspflicht.
  2. Der Umfang der Dokumentationspflicht ergibt sich aus § 630f Abs. 2 BGB. Eine Dokumentation, die aus medizinischer Sicht nicht erforderlich ist, ist auch aus Rechtsgründen nicht geboten.
  3. Einer elektronischen Dokumentation, die nachträgliche Änderungen entgegen § 630f Abs. 1 Satz 2 und 3 BGB nicht erkennbar macht, kommt keine positive Indizwirkung dahingehend zu, dass die dokumentierte Maßnahme von dem Behandelnden tatsächlich getroffen worden ist.

 

Sachverhalt

Der Kläger verlangt aufgrund einer fehlerhaften ärztlichen Behandlung Schadensersatz. Die Beklagte ist Augenärztin und untersuchte am 07.11.2013 den Kläger, der an schwarzen Flecken im linken Auge litt. Sie diagnostizierte eine altersbedingte Erscheinung infolge einer Glaskörpertrübung. Ein Termin zur erneuten Vorstellung wurde nicht vereinbart.

Am 14.02.2014 stellte ein Optiker bei dem Kläger einen Netzhautriss fest. Infolgedessen ließ sich der Kläger erneut von der Beklagten untersuchen, wobei diese eine Netzhautablösung diagnostizierte und ihn sofort als Notfall an ein Krankenhaus überwies. Schließlich wurde der Kläger im Krankenhaus operiert. Infolge von Komplikationen erblindete er auf dem linken Auge.

Der Kläger wirft der Beklagten vor, sie habe bei der ersten Untersuchung am 07.11.2013 einen Netzhautriss übersehen und keine Pupillenweitstellung veranlasst, weshalb eine ordnungsgemäße Untersuchung des Augenhintergrundes nicht möglich gewesen sei. Sie hätte ihn zudem darauf hinweisen müssen, dass er bei weiteren Beschwerden erneut vorstellig werden müsse und spätestens in einem Jahr eine Kontrolle erfolgen sollte.

Zur medizinischen Dokumentation verwendete die Beklagte ein EDV-Programm, bei dem nachträgliche Veränderungen ohne Erkennbarkeit eingetragen werden können.

 

Entscheidung

Die Revision hat teilweise Erfolg. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.

In der unterlassenen therapeutischen Information des Klägers liegt kein Behandlungsfehler der Beklagten. Die Beklagte musste den Kläger aber darauf hinweisen, dass bei Verschlechterung der Beschwerden, spätestens aber nach einem Jahr eine Kontrolle stattfinden sollte. Diese Verpflichtung wird aus § 630c Abs. 2 S. 1 BGB abgeleitet. Hierin wurden die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur therapeutischen Aufklärung bzw. Sicherungsaufklärung kodifiziert. Diese Grundsätze gelten unter der neuen Bezeichnung als Informationspflicht fort.

Der Beklagten ist jedoch ein Befunderhebungsfehler vorzuwerfen. Die Beklagte hätte eine Pupillenweitstellung zur Untersuchung des Augenhintergrundes vornehmen müssen. In der Behandlungsdokumentation war eine Eintragung, die diese Untersuchung dokumentierte zu finden. Mit der von der Beklagten genutzten EDV-Dokumentation war es jedoch möglich, Einträge nachträglich zu verändern, ohne dass diese Änderungen erkennbar waren. Eine elektronische Dokumentation, die Änderungen nicht erkennbar macht, genügt jedoch nicht den Anforderungen des § 630f Abs. 1 S. 2, 3 BGB.

Das Berufungsgericht maß dem in unzulässiger Weise eine positive Indizwirkung zu. Es nahm an, dass eine Pupillenweitstellung erfolgt war und der Augenhintergrund untersucht wurde. Die Dokumentation hätte durch jeden Zugriffsberechtigten innerhalb kurzer Zeit, mit wenig Aufwand und fast ohne Entdeckungsrisiko nachträglich geändert werden können. Der Dokumentation fehlt es deshalb an der für die Annahme einer Indizwirkung erforderlichen Überzeugungskraft und Zuverlässigkeit. Die Verwendung einer solchen Software führt aber nicht zu der Vermutung des § 630h Abs. 3 BGB.

Es kann auch keine Indizwirkung angenommen werden, wenn der Patient keine Anhaltspunkte dafür vortragen kann, dass die Dokumentation nachträglich zu seinen Lasten verändert wurde. Aufgrund der fehlenden Zuverlässigkeit steht der Patient weit außerhalb des maßgeblichen Geschehensablaufes und wird daher meist keine Anhaltspunkte für eine nachträgliche Änderung vortragen können. Allerdings kann die Dokumentation bei der Beweiswürdigung auch nicht völlig unberücksichtigt bleiben. Sie bildet vielmehr einen tatsächlichen Umstand, den der Tatrichter bei seiner Überzeugungsbildung unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses der Beweisaufnahme einer umfassenden und sorgfältigen, angesichts der fehlenden Veränderungssicherheit aber auch kritischen Würdigung zu unterziehen hat (§ 286 ZPO).

Eine Dokumentation ist zudem nur bei einem medizinischen Erfordernis vorzunehmen, nicht hingegen aus Rechtsgründen.

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Zuständigkeit des Wohnungseigentumsgerichts für Klagen ehemaliger Wohnungseigentümer

Michael PeusMichael Peus

BGH, Urt. v. 13.12.2019 – V ZR 313/16

 

Leitsätze (redaktionell)

  1. Wohnungseigentumssachen gem. § 43 Nr. 1 WEG sind Streitigkeiten über die sich aus der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer ergebenden Rechte und Pflichten der Wohnungseigentümer untereinander. Dies ist weit auszulegen.
  2. Für die Zuständigkeit des Gerichts kommt es nur darauf an, ob das in Anspruch genommene Recht oder die ihn treffende Pflicht in einem inneren Zusammenhang mit einer Angelegenheit steht, die sich aus dem Gemeinschaftsverhältnis der Wohnungseigentümer ergibt.
  3. Das Ausscheiden eines Eigentümers aus der Wohnungseigentümergemeinschaft vor Rechtshängigkeit ändert nichts an der Zuständigkeit des Wohnungseigentumsgerichts.

 

Sachverhalt

Kläger und Beklagte waren Mitglieder einer Wohnungseigentümergemeinschaft. Die Kläger verlangen von den Beklagten Schadensersatz für einen Wasserschaden. Dieser sei in Wohn- und Badezimmer infolge einer Leckage im Abflussrohr des darüber liegenden Badezimmers der Beklagten entstanden. Die Haftpflichtversicherung der Wohnungseigentümergemeinschaft hatte bereits die Kosten für den Schaden an der Wohnzimmerdecke übernommen. Die Kläger verlangen nun die Kosten für den Schaden im Badezimmer. Sie veräußerten ihre Wohnung noch vor Rechtshängigkeit der Klage.

 

Das Amtsgericht Bottrop (allgemeine Zivilabteilung) hatte die Klage wegen fehlender Aktivlegitimation abgewiesen. Die Rechtsmittelbelehrung wies das Landgericht Essen als zuständiges Berufungsgericht aus. Die Kläger erhoben bei dem Landgericht Dortmund Berufung. Das Landgericht Dortmund hat die Berufung der Kläger als unzulässig verworfen, da es sich für unzuständig hielt. Es vertrat die Ansicht, dass es sich nicht um eine Wohnungseigentumssache i.S.v. § 43 Nr. 1 WEG mit der Sonderzuständigkeit nach § 72 Abs. 2 GVG handele. Hiergegen wenden sich die Kläger mit der Revision.

 

§ 43 WEG

Zuständigkeit

(1) 1Die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer hat ihren allgemeinen Gerichtsstand bei dem Gericht, in dessen Bezirk das Grundstück liegt. 2Bei diesem Gericht kann auch die Klage gegen Wohnungseigentümer im Fall des § 9a Absatz 4 Satz 1 erhoben werden.

(2) Das Gericht, in dessen Bezirk das Grundstück liegt, ist ausschließlich zuständig für

  1. Streitigkeiten über die Rechte und Pflichten der Wohnungseigentümer untereinander,
  2. Streitigkeiten über die Rechte und Pflichten zwischen der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer und Wohnungseigentümern,
  3. Streitigkeiten über die Rechte und Pflichten des Verwalters einschließlich solcher über Ansprüche eines Wohnungseigentümers gegen den Verwalter sowie
  4. Beschlussklagen gemäß § 44.

 

§ 72 Abs. 2 GVG

(2) In Streitigkeiten nach § 43 Absatz 2 des Wohnungseigentumsgesetzes ist das für den Sitz des Oberlandesgerichts zuständige Landgericht gemeinsames Berufungs- und Beschwerdegericht für den Bezirk des Oberlandesgerichts, in dem das Amtsgericht seinen Sitz hat. Die Landesregierungen werden ermächtigt, durch Rechtsverordnung anstelle dieses Gerichts ein anderes Landgericht im Bezirk des Oberlandesgerichts zu bestimmen. Sie können die Ermächtigung auf die Landesjustizverwaltungen übertragen.

 

 

Entscheidung

Mit Erfolg! Die Kläger haben trotz der falschen Rechtsmittelbelehrung bei dem zuständigen Gericht Berufung eingelegt.

 

Das Landgericht Dortmund war gem. § 72 Abs. 2 GVG für die Entscheidung der Berufung zuständig, da es sich um eine Wohnungseigentumssache i.S.v. § 43 Nr. 1 WEG handelt. Hierunter fallen auch Streitigkeiten aus der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer. Dies ist wiederum weit auszulegen. Maßgeblich für die Beurteilung ist, ob das in Anspruch genommene Recht oder die Pflicht in einem inneren Zusammenhang mit einer Angelegenheit steht, die aus dem Gemeinschaftsverhältnis der Wohnungseigentümer erwachsen ist. Die Rechtsgrundlage, aus der sich die Ansprüche ergeben, ist für die Beurteilung hingegen irrelevant.

 

Dass der Kläger nicht mehr Teil der Wohnungseigentümergemeinschaft ist, spielt für die Zuständigkeit des Gerichts keine Rolle, denn § 43 WEG ist nicht personen-, sondern gegenstandsbezogen. Der innere Zusammenhang der Streitigkeit mit dem Gemeinschaftsverhältnis der Wohnungseigentümer entfällt nicht dadurch, dass eine der Parteien vor Rechtshängigkeit aus der Wohnungseigentümergemeinschaft ausscheidet.

 

Bei Streitigkeiten nach § 43 Nr. 1 WEG, gilt § 72 Abs. 2 GVG unabhängig davon, ob in der ersten Instanz nach dem Geschäftsverteilungsplan zuständige Amtsrichter entschieden hat.

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WEG: Prozessführungsbefugnis eines einzelnen Wohnungseigentümers (für vor dem 01.12.2020 anhängige Verfahren)

Michael PeusMichael Peus

BGH, Urteil vom 07.05.2021 – V ZR 299/19

 

Leitsätze (redaktionell)

  1. Einzelne Wohnungseigentümer, die nach bisher geltendem Recht prozessbefugt waren und ein vor dem 01.12.2020 bei Gericht anhängiges Verfahren besteht, sind weiterhin prozessbefugt, bis dem Gericht eine schriftliche Äußerung des nach § 9a WEG vertretungsbefugten Organs (z.B. ein Hausverwalter) über den entgegenstehenden Willen der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer zur Kenntnis gebracht wird.
  2. Der Rechtsgedanke des § 48 Abs. 5 WEG gilt bis dahin fort.

 

Sachverhalt

Der Kläger ist zusammen mit einer weiteren Person Eigentümer eines Grundstücks. Er verlangt die Beseitigung oder hilfsweise die Zurückschneidung von vier Zypressen, die auf dem Nachbarsgrundstück an der angrenzenden Grundstücksseite zum Kläger, in weniger als vier Metern Abstand zur Grundstücksgrenze gepflanzt wurden.

Nachdem das Amtsgericht der Klage stattgab, wies das Landgericht die Berufung der Beklagten zurück. Mit der Revision möchten die Beklagten nun eine Klageabweisung erreichen.

 

Problemdarstellung

Der BGH hatte hier zu entscheiden, ob der Kläger nach dem seit dem 01.12.2020 geltenden § 9a Abs. 2 WEG überhaupt noch prozessführungsbefugt ist. Nach dem bisherigen WEG war der Kläger allein prozessführungsbefugt, nach der neuen Fassung, ist zur Geltendmachung von Ansprüchen aus dem gemeinschaftlichen Eigentum jedoch nur die gesamte Wohnungseigentümergemeinschaft befugt. Daher wäre die Klage folglich als unzulässig abzuweisen.

Da die Klage jedoch bereits vor dem 01.12.2020 erhoben wurde und sie daher nach dem zu dieser Zeit geltenden, alten Fassung des WEG zulässig war, stellt sich die Frage, wie dies nun rechtlich zu beurteilen ist.

 

Entscheidung

Die Prozessführungsbefugnis besteht für vor dem 01.12.2020 anhängige Verfahren nach dem Rechtsgedanken des § 48 Abs. 5 WEG fort, solange dem Gericht kein entgegenstehender Wille der Eigentümergemeinschaft schriftlich zur Kenntnis gebracht wurde.

Denn die Regelung des § 48 Abs. 5 WEG enthält nach dem BGH eine planwidrige Regelungslücke. Wäre die Prozessführungsbefugnis des Klägers nach dem neuen WEG nachträglich entfallen, wäre das bereits jahrelang, über mehrere Instanzen geführte Verfahren nutzlos gewesen, hätte jedoch Aufwand und Kosten verursacht.

 

Gegen die Annahme, dass der Gesetzgeber dies bewusst gewollt und hingenommen hätte, spräche, dass in der Gesetzesbegründung keine Erläuterungen hierzu enthalten sind.

Zudem läge sodann ein Fall der unechten Rückwirkung vor. Hierzu wäre aufgrund des Ausmaßes des Eingriffs und der Vielzahl der Betroffenen eine Gesetzesbegründung anhand des gesetzgeberischen Ziels zu erwarten gewesen. Der Gesetzgeber hätte ausführen müssen, wieso dem Vertrauen des Wohnungseigentümers ein geringeres Gewicht zukommt.

Weiterhin führt der BGH aus, dass der Gesetzgeber, wenn er diese Regelungslücke erkannt hätte, diese wahrscheinlich ähnlich des § 48 Abs. 5 WEG und nach dem Rechtsgedanken des § 9a Abs. 2 WEG geschlossen hätte.
Auch § 48 Abs. 5 WEG deute daraufhin, dass der Gesetzgeber keine prozessualen Änderungen an bereits anhängigen Verfahren beabsichtigte.

Daher nimmt der BGH an, dass der Gesetzgeber auch im Hinblick auf den neuen § 9a WEG, die Prozessführungsbefugnis im anhängigen Verfahren nicht entfallen lassen wollte. Zugleich wollte er aber auch durch § 9a WEG den Rechten der WEG Rechnung tragen. Die WEG hätte das anhängige Verfahren selbst als Partei übernehmen oder die Fortführung des Prozesses untersagen können.

Demnach ist der Kläger mangels entgegenstehenden Willens des weiteren Wohnungseigentümers auch weiterhin prozessführungsbefugt. Der Anspruch auf Beseitigung der Zypressen ist begründet und die Revision der Beklagten daher nicht erfolgreich.

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Anmeldefähigkeit von vorgerichtlichen Gutachterkosten zur Klärung eines möglichen Versicherungsbetruges

Michael PeusMichael Peus

LG Hagen, Kostenfestsetzungsbeschluss – 6 O 178/17

 

Leitsatz (redaktionell)

Kosten vorgerichtlicher Gutachten zur Prüfung einer vermeintlichen Unfallmanipulation sind im Kostensetzungsverfahren anmeldefähig und zu erstatten, wenn sie zur Aufklärung sachdienlich sind.

 

Sachverhalt

Infolge eines Unfalls wurde u.a. eine Versicherung gerichtlich in Anspruch genommen.

Im anschließenden Kostenfestsetzungsverfahren tat sich die Frage offen, ob auch die Kosten eines vorgerichtlichen Gutachtens, das zur Klärung eines möglichen Versicherungsbetruges eingeholt wurde, anmeldefähig und damit zu erstatten sind. Für einen möglichen Versicherungsbetrug bestanden Anhaltspunkte.

 

Entscheidung

Nach dem LG Hagen sind auch solche Gutachterkosten anmelde- und erstattungsfähig, sofern sie der Aufklärung sachdienlich sind.

Die Erstattungsfähigkeit der angemeldeten Gutachterkosten richtet sich nach der Notwendigkeit zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung, §§ 91 Abs. 1 S. 1, 103 Abs. 1 ZPO. Sachverständigengutachten sind zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig, soweit dies eine verständige und wirtschaftlich vernünftig denkende Person aus ex ante Sicht als sachdienlich ansehen durfte. Hierbei können alle zur vollen Wahrnehmung der Belange erforderlichen Schritte ergriffen werden.

Da im vorliegenden Fall Anhaltspunkte für den Verdacht eines versuchten Versicherungsbetruges bestanden, war das Sachverständigengutachten zur Aufklärung auch sachdienlich und somit anmelde- und erstattungsfähig.

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Sorgfaltsanforderungen an eine Übermittlung per Telefax

Michael PeusMichael Peus

BGH, Beschluss vom 15.09.2020 – VI ZB 60/19

 

Anmerkung

Wenn ohne oder nur mit geringem Verschulden eine Frist versäumt wurde, kann gem. § 233 ZPO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt werden. Ist der Antrag auf Wiedereinsetzung begründet, gilt die versäumte Frist als eingehalten und die Rechtskraft der Entscheidung ist beseitigt. Die nicht rechtzeitig erfolgte Prozesshandlung muss jedoch nachgeholt werden.

 

Leitsätze (redaktionell)

  1. Bei der Übermittlung eines Telefaxes ist zusätzlich zur Übertragungszeit ein Sicherheitszuschlag von etwa 20min einzurechnen.
  2. Im Falle einer technischen Störung hat der Versender alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen zur Fristwahrung zu ergreifen.
  3. Misslingt die Übermittlung an eine Telefaxnummer mehrfach, so ist das Telefax an eine andere Telefaxnummer des Gerichts zu versenden.

 

Sachverhalt

Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin übermittelte am 06.05.2019 (letzter Tag der Berufungsbegründungsfrist) um 23:40 Uhr per Telefax neun komplette und eine angefangene Seite der zwölfseitigen Berufungsbegründung an die Zweigstelle des Oberlandesgerichts Frankfurt in Darmstadt. Auf den übermittelten Seiten befand sich keine anwaltliche Unterschrift.

Da der komplette Schriftsatz mit der Unterschrift erst am 07.05.2019 um 00:13 Uhr vollständig an die Hauptstelle in Frankfurt übermittelt wurde, beantrage die Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

Diese trägt vor, der Prozessbevollmächtigte habe am 06.05.2019 um 23:43 Uhr versucht, die Berufungsbegründung zu übermitteln. Das Faxgerät unternehme bei fehlgeschlagenen Sendeversuchen selbstständig vier weitere Wahlversuche und breche dann erst den Sendeauftrag ab.

Nach dem ersten Fehlerbericht um 23:47 Uhr unternahm der Prozessbevollmächtigte einen zweiten Sendeversuch an dieselbe Nummer, der jedoch um 23:57 Uhr fehlschlug. Auch ein dritter Versuch war laut Sendebericht um 00:01 Uhr nicht erfolgreich. Zusätzlich habe er um 23:55 Uhr oder 23:56 Uhr einen Sendeauftrag an die Hauptstelle des OLG in Frankfurt am Main eingegeben, der sich jedoch in die Warteschlange der anderen Aufträge einreihte.

 

Das OLG Frankfurt lehnte den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ab. Die Versäumung der Frist sei durch den Prozessbevollmächtigen verschuldet und der Klägerin gem. § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen.

Es zeuge von einer mangelnden Kenntnis der Gerichtsstruktur, dass der Prozessbevollmächtigte bei der Eingabe der Worte „olg frankfurt darmstadt“ bei Google keine weitere Faxnummer gefunden habe. Er hätte wissen müssen, dass Schriftsätze auch an die Hauptstelle in Frankfurt fristwahrend übermittelt werden können. Die Nummer des OLG Frankfurt sei jedoch leicht mit den Suchbegriffen „OLG Frankfurt“ zu finden. Dass er nicht versucht habe, die Berufungsbegründung an die Hauptstelle des OLG Frankfurt zu übermitteln sei ebenso wie die mangelnde Kenntnis der Gerichtsstruktur schuldhaft.

 

Entscheidung

Die Rechtsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig, da die Entscheidung nicht gem. § 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist.

Der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand steht entgegen, dass zumindest die Möglichkeit besteht, dass das Versäumnis der Frist auf einem Verschulden des Prozessbevollmächtigten beruht.

Dieser hat Übermittlungsverzögerungen wie z.B. durch die Belegung des gerichtlichen Telefaxgerätes oder durch schwankende Übertragungsgeschwindigkeiten von vornherein zusätzlich zur Übertragungszeit einzurechnen. Dieser Sicherheitszuschlag beträgt ca. 20 min.

Kommt es zu einer unverschuldeten technischen Störung, müssen alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen zur Fristwahrung ergriffen werden. Schlagen mehrere Versuche, das Telefax zu übermitteln fehl, muss der Versender aus einer allgemein zugänglichen Quelle – wie die Startseite des Internetauftritts des OLG Frankfurts – eine weitere Telefaxnummer des Gerichts in Erfahrung bringen und den Schriftsatz an diese senden. Dies hat insb. zu erfolgen, wenn das betreffende Gericht durch seine Gerichtsstruktur über mehrere Faxanschlüsse verfügt.

Im vorliegenden Fall ist der Prozessbevollmächtigte dem nicht nachgekommen. Dieser Sorgfaltsverstoß kann ihm jedoch nicht mit der Begründung des OLG Frankfurt vorgeworfen werden.

Ob mit der Übermittlung so früh begonnen wurde, dass diese noch rechtzeitig hätte erfolgen können, kann dahinstehen. Der Prozessbevollmächtigte hätte nach den ersten zwei gescheiterten Sendeversuchen versuchen müssen, den Schriftsatz an die Hauptstelle des OLG in Frankfurt am Main zu übermitteln, anstatt noch ein weiteres Mal an die Zivilsenate in Darmstadt.

 

Hinweis

Der BGH hält zurzeit an seiner Rechtsprechung bzgl. des Sicherheitszuschlages von etwa 20min bei der Versendung von Telefaxen fest. So auch in dieser Rechtsprechung: beA-Pflicht bei Faxproblemen: BGH zweifelt – SCHLÜNDER | RECHTSANWÄLTE (schluender.info).

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