Bauleiter haftet nicht im Gesamtschuldnerregress

Oberlandesgericht Köln, Urteil vom 25.6.2013 — Aktenzeichen: 9 U 220/12

Leitsatz
Einem primär verkehrssicherungspflichtigen Unternehmer steht gegen einen sekundär verkehrssicherungspflichtigen bauleitenden Architekten kein Ausgleichsanspruch zu. Im Verhältnis des Unternehmers zum bauüberwachenden Architekten haftet der Unternehmer allein.

Sachverhalt
Der beklagte Architekt war im Zuge eines Bauvorhabens mit Planungs- und Überwachungsarbeiten befasst (Leistungsphasen 1-9 der HOAI a.F.). Ausgeschrieben war auch ein Bauzaun, den die Versicherungsnehmerin der Klägerin errichtete. Dabei wies dieser Bauzaun erhebliche Mängel auf, die dazu führten, dass der nicht standsichere Zaun bei starkem Wind umstürzte und eine Passantin erheblich verletzte. Die Klägerin regulierte diesen Schaden für Ihre Versicherungsnehmerin. Wegen der Zahlungen nahm sie bei dem bauüberwachenden Architekten Regress.

Entscheidung
Während die Klage beim Landgericht noch Erfolg hatte, wies das Oberlandesgericht die Klage ab. Dabei ließ das Gericht die Frage dahinstehen, ob der nicht nach dem Stand der Technik errichtete Bauzaun auch auf einer fehlerhaften Bauüberwachung des beklagten Architekten beruhe. Im Außenverhältnis zu den Unfallgeschädigten gelte grundsätzlich, dass in erster Linie der mit der Durchführung von Baumaßnahmen beauftragte Unternehmer verkehrssicherungspflichtig sei. Gehe es um die Verletzung von sekundären Verkehrssicherungspflichten, gelte dies auch. Eine Mithaftung komme nur in Betracht, wenn von einer groben Verletzung von sekundären Verkehrssicherungspflichten auszugehen sei.

Anmerkung
Diese (nicht rechtskräftige) Entscheidung, mit der generalisierend einem Bauüberwachungsfehler weniger Gewicht beigemessen wird, so dass Bauleiterversäumnisse im Gesamtschuldnerregress hinter primären Verkehrssicherungspflichtverletzungen „komplett zurücktreten“, überzeugt nicht. Sie fußt darauf, dass nach früherer Rechtsprechung „Fehler durch mangelnde Prüfung grundsätzlich nicht so ins Gewicht fallen, wie die Fehler bei der Ausführung oder bei der Planung“. Die Verursachungsbeiträge von Bauleitern, die die fehlerhafte Ausführung nicht bemerkt haben, dürfen aber nicht bagatellisiert werden.

SCHLÜNDER | RECHTSANWÄLTE | Bismarckstraße 16  | 59065 Hamm | Deutschland
Tel. 02381 921 55-0 | FAX 02381 921 55-99 | Mail hamm@schluender.info


Auffüllen des Rentenkontos gem. § 119 SGB X

BGH, Urteil vom 4.7.2013 — Aktenzeichen: III ZR 201/12

Leitsatz
Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch und der Folgenbeseitigungsanspruch des allgemeinen Verwaltungsrechts sind keine Rechtsmittel im Sinne des § 839 Abs. 3 BGB.

Sachverhalt
Die Klägerin nimmt die beklagte Deutsche Rentenversicherung Bund aus Amtshaftung in Anspruch. Diese habe es versäumt, auf sie gemäß § 119 SGB X übergegangene Schadensersatzansprüche gegen Dritte vor Eintritt der Verjährung zu verfolgen, wodurch ihre, der Klägerin, Rentenansprüche verringert seien.

Das Berufungsgericht hatte zwar die Amtspflichtverletzung bejaht, einen Anspruch jedoch daran scheitern lassen, dass die Klägerin gem. § 839 Abs. 3 BGB vorrangig einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch auf Weiterführung des Regresses durch den Rentenversicherer gegen den Haftpflichtversichrer aus § 119 SGB X hätte anstrengen müssen.

Entscheidung
Der BGH stellt zunächst klar, dass ein unterlassener oder unvollständiger Rentenbeitragsregess eine Amtspflichtverletzung aus § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB i.V.m. Art. 34 Satz 1 GG darstellt. Die Deutsche Rentenversicherung Bund habe dabei insbesondere auch dafür Sorge zu tragen, dass etwaige ihr zur treuhändischen Verwaltung gem. §§ 116, 119 SGB X übergegangenen Rentenansprüche ihres Versicherten nicht verjähren. Anders als das Berufungsgericht meint der BGH jedoch, dass die Klägerin vorrangig keinen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch auf Gutschrift der Beiträge, die der Beklagten aufgrund des von ihr versäumten Beitragsregresses zugeflossen wären, auf ihrem Rentenversicherungskonto gem. § 839 Abs. 3 BGB gegen den Rentenversicherer geltend zu machen habe. Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch sei kein Rechtsmittel im Sinne von § 839 Abs. 3 BGB. Die Unanwendbarkeit von § 839 Abs. 3 BGB auf den sozialrechtlichen Herstellungs- und den verwaltungsrechtlichen Folgenbeseitigungsanspruch schließe allerdings im Einzelfall nicht aus, dass der Geschädigte, der eine Amtshaftungsforderung erhebt, gemäß § 254 Abs. 2 BGB auf diese Ansprüche verwiesen werden könne, wenn die Naturalrestitution für die betroffene Körperschaft wirtschaftlich günstiger und dem Anspruchsberechtigten, auch unter Berücksichtigung einer etwaigen Ausgleichszahlungen zuzumuten sei.

Die Entscheidung verdeutlicht ebenfalls erneut, dass der Geschädigte ein Auffüllen seines Rentenkontos allenfalls gegenüber seinem Rentenversicherer geltend machen kann. Die Inanspruchnahme des gegnerischen Haftpflichtversicherers ist somit auch nicht über den Umweg einer Klage auf Weiterführung des Regresses durch den Rentenversicherer möglich.

SCHLÜNDER | RECHTSANWÄLTE | Bismarckstraße 16  | 59065 Hamm | Deutschland
Tel. 02381 921 55-0 | FAX 02381 921 55-99 | Mail hamm@schluender.info


Haftungsprivileg bei Leiharbeitern? OLG Schleswig sagt ja.

Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Urteil vom 14.3.2013 — Aktenzeichen: 11 U 4/11

Kommt es auf Baustellen zu einem Personenschaden eines Arbeiters wegen Verstößen gegen Unfallverhütungsvorschriften, ist die Haftung dessen Arbeitgebers nach den Regelungen der §§ 104 ff. SGB VII ausgeschlossen. Fraglich ist, ob dieses Haftungsprivileg auch dann gilt, wenn sich dieser Arbeitgeber eines Leiharbeiters bedient und dieser zu Schaden kommt.

Leitsatz
Auch solche Beschäftigten, die nicht Arbeitnehmer des Unfallbetriebs sind, jedoch bei einem solchen als sogenannte „Leiharbeiter“ eingesetzt werden, unterliegen dem Versicherungsschutz nach dem SGB VII, so dass Individualansprüche mit Ausnahme von Vorsatztaten und sogenannte „Wegeunfälle“ ausgeschlossen sind.

Sachverhalt
Der Beklagte ist Inhaber eines Elektrounternehmens. Er hatte den Auftrag, auf einer Reithalle eine Photovoltaik-Anlage zu installieren. Der von ihm eingesetzte Leiharbeiter stürzte im Zuge dieser Arbeiten durch Lichtplatten auf dem Dach und verletzte sich erheblich.

Die Klägerin nimmt den Beklagten gemäß § 110 SGB VII auf Ersatz ihrer Aufwendungen in Anspruch. Das Landgericht hat die Klage nach Vernehmung von Zeugen abgewiesen, da dem Beklagten keine grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen sei.

Entscheidung
Das Oberlandesgericht hat demgegenüber, ohne erneut in die Beweisaufnahme einzutreten, grobe Fahrlässigkeit bejaht und den Zahlungsantrag dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt.

Zur Frage des Haftungsprivilegs hat das Gericht kurz und bündig ausgeführt: Die Haftungsbeschränkung gemäß § 104 SGB VII greift zu Gunsten eines Unternehmers ein, wenn der geschädigte Versicherte für das Unternehmen tätig ist oder in einer sonstigen die Versicherung begründenen Beziehung steht. Davon ging das Gericht aus, weil der verunfallte Leiharbeiter „auf einer Baustelle des Beklagten tätig war und dort dessen Weisungen unterworfen war“.

Anmerkung
Fehlsam nicht befasst hat sich das Oberlandesgericht mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wonach die sozialversicherungsrechtliche Zuordnung eines Arbeitsunfalls und die haftungsrechtliche Zuordnung grundsätzlich nicht auseinander fallen sollen. Ebenso wenig hat das Oberlandesgericht die unterschiedlichen Auffassungen in Literatur und Rechtsprechung in den Blick genommen. Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig.

Sollte das Haftungsprivileg im Verhältnis Entleiher — Leiharbeiter nicht greifen, wäre die Klage wohl abzuweisen, da streitgegenständlich zunächst nur Ansprüche nach § 110 SGB VII waren und Ansprüche aus übergegangenem Recht nach § 116 SGB X erst in verjährter Zeit hilfsweise geltend gemacht worden sind.

SCHLÜNDER | RECHTSANWÄLTE | Bismarckstraße 16  | 59065 Hamm | Deutschland
Tel. 02381 921 55-0 | FAX 02381 921 55-99 | Mail hamm@schluender.info


Anwendung der §§ 104 ff SGB VII bei Auslandsbezug

OLG München, Urteil vom 8.8.2012 — Aktenzeichen: 20 U 1121/12

Leitsatz
Für die Bestimmung des anwendbaren Sozialrechtes ist das koordinierende Sozialrecht der Europäischen Union heranzuziehen, wenn sich zum einen der Unfall in einem Mitgliedstaat der EU ereignet hat, der Kläger als Geschädigter aber einem anderen Mitgliedsstaat der EU angehört. Das zivilrechtliche Haftungsrecht und das Sozialversicherungsrecht können dem Recht verschiedener Mitgliedsstaaten der EU zu entnehmen sein. Die Frage der Haftungsprivilegierung richte sich daher im vorliegenden Streitfall gemäß Art. 85 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 nach österreichischem Sozialrecht.

Sachverhalt
Der Kläger ist Tierpfleger und betreibt einen Wildpark in Österreich. Am 16.09.2009 kaufte er von der Beklagten zu 1), diese vertreten durch den Zeugen K., die einen Wildpark in Bayern. betreibt, einen Wildschweineber, den er auch sogleich bezahlte und sodann mitnehmen sollte. Der Beklagten zu 2) hatte die Aufgabe, das Tier aus dem Gehege zu holen und zu übergeben. Zu diesem Zweck sollte der Eber zunächst in einen Transportanhänger der Beklagten zu 1) verladen und sodann außerhalb des Parkgeländes in den Anhänger des Klägers umgeladen werden. Auf eine Narkotisierung des Tieres wurde verzichtet. Der Eber konnte entkommen. Bei den Einfangversuchen, an denen sich der Kläger beteiligte, wurde der Kläger von dem Eber angegriffen und mehrfach gebissen. Mit Bescheid vom 15.03.2011 erkannte die österreichische Sozialversicherungsanstalt der B. auf Grund des Unfalls vom 16.09.2011 eine Erwerbsminderung von 35% an und gewährte dem Kläger eine Dauerrente-

Der Kläger verlangt von der Beklagten zu 1) und ihrem Mitarbeiter, dem Beklagten zu 2) gesamtschuldnerisch Schadensersatz und Schmerzensgeld wegen Verletzungen, die er durch den Angriff eines Wildschweinebers erlitten hat.

Entscheidung
Neben weiteren Gesichtspunkten trugen die Beklagten vor, sie seien haftungsprivilegiert iSv §§ 104 ff. SGB VII.

Das OLG München meint nun, als Tierhalterin treffe die Beklagte zu 1) gemäß § 833 Satz 1 BGB die Gefährdungshaftung für die dem Kläger von dem Eber zugefügten Verletzungen und Schäden. Die Beklagte zu 1) könne auch keine Haftungsprivilegierung nach Sozialrecht für sich in Anspruch nehmen. Für die Bestimmung des anwendbaren Sozialrechtes sei das koordinierende Sozialrecht der Europäischen Union heranzuziehen, da sich zum einen der Unfall in einem Mitgliedstaat der EU ereignet hat, der Kläger als Geschädigter aber einem anderen Mitgliedsstaat der EU angehört. Das zivilrechtliche Haftungsrecht und das Sozialversicherungsrecht können dem Recht verschiedener Mitgliedsstaaten der EU zu entnehmen sein (BGH vom 15.07.2008 — VI ZR 105/07, NJW 2009, 916). Die Frage der Haftungsprivilegierung richte sich daher im vorliegenden Streitfall gemäß Art. 85 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 nach österreichischem Sozialrecht. Nach dieser Bestimmung gelten für die Frage der Haftungsbefreiung die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates, nach denen für den Arbeitsunfall Leistungen zu erbringen sind, dessen Sozialversicherungsträger die Unfallfürsorge also zu gewähren haben und zwar auch dann, wenn das zivilrechtliche Haftungsrecht und das Sozialversicherungsrecht für Arbeitsunfälle dem Recht verschiedener Mitgliedstaaten zu entnehmen sind. So sei es auch im vorliegenden Fall hier, denn aus dem Leistungsbescheid der österreichischen Sozialversicherungsanstalt der Bauern vom 15.03.2011 ergebe sich, dass der Kläger in der österreichischen landwirtschaftlichen Sozialversicherung versichert sei.

Anderes gälte nur, wenn der Kläger den Unfall im Rahmen einer arbeitnehmerähnlichen Tätigkeit, die dem Unternehmen der Beklagten zu 1) zuzurechnen wäre und diesem Unternehmen dienen sollte, erlitten hätte, da für Arbeitnehmer, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft besitzen — wie hier der Kläger — allein das Sozialrecht des Mitgliedstaats anzuwenden ist, in dem der Arbeitnehmer abhängig beschäftigt ist, selbst wenn er in einem anderen Mitgliedstaat wohnt (BGH vom 15.07.2008 — VI ZR 105/07, NJW 2009, 916). Nur unter diesen Voraussetzungen käme deutsches Sozialrecht zur Anwendung und damit die Haftungsprivilegierung der §§ 104 ff. SGB VII. Dies sei hier aber nicht der Fall (wird ausgeführt).

Der Kläger habe gegen den Beklagten zu 2) auch keine Schadensersatzansprüche aus § 834 BGB, da der Beklagte zu 2) zum Zeitpunkt des Unfalls kein Tieraufseher iSd Gesetzes gewesen sei. Mögliche Ansprüche aus §§ 823, 831 BGB prüft das OLG nicht.

SCHLÜNDER | RECHTSANWÄLTE | Bismarckstraße 16  | 59065 Hamm | Deutschland
Tel. 02381 921 55-0 | FAX 02381 921 55-99 | Mail hamm@schluender.info


Sturz vom noch unfertigen Gerüst – Unternehmer haftet nicht

Landgericht Osnabrück, Urteil vom 22.5.2013 — Aktenzeichen: 3 O 2063/12

Es gibt keine absolute Gefahrenfreiheit, schon gar nicht auf Baustellen. Die gilt erst recht für noch im Aufbau befindliche Gerüste. Passiert vor endgültiger Fertigstellung des Gerüsts ein Unfall, weil Sicherheitseinrichtungen noch fehlen, liegt ein Verstoß gegen Unfallverhütungsvorschriften nicht vor.

Leitsatz
1. Nach BGR 165 Ziff. 6.4.2 müssen Gerüstbauarbeiten so durchgeführt werden, dass die Absturzgefahr so gering wie möglich ist.

2. Ist das Baugerüst zum Unfallzeitpunkt noch nicht fertig gestellt, die Gerüstaufbauarbeiten noch nicht beendet, haftet der Baustellenleiter nicht dafür, dass Seitenschutzgeländer nicht angebracht und noch nicht sichere Bereiche des Gerüsts nicht abgesperrt waren.

Sachverhalt
Die Klägerin macht als gesetzlicher Unfallversicherungsträger anlässlich eines Arbeitsunfalls Ansprüche auf Aufwendungsersatz nach § 110 SGB VII geltend. Beklagter ist ein Baunternehmer, dessen Mitarbeiter von einem Gerüst fiel. Der bei der Klägerin unfallversicherte Mitarbeiter baute gemeinsam mit weiteren Beschäftigten des Beklagten, der Bauleiter war, das Gerüst auf; zu diesem Zweck musste das noch nicht fertige Gerüst betreten werden. Dabei fiel der Mitarbeiter vom Gerüst, weil die vorgesehene Sicherung, insbesondere das Schutzgerüst, noch nicht vorhanden war.

Entscheidung
Das Landgericht weist die Klage (rechtskräftig) ab. Das Landgericht verneint schon Verstöße gegen Unfallverhütungsvorschriften. Das Baugerüst sei zum Unfallzeitpunkt noch nicht fertig gestellt gewesen. Gerüstaufbauarbeiten seien zwar so durchzuführen, dass die Absturzgefahr so gering wie möglich ist; dagegen sei aber nicht verstoßen worden. Insbesondere sei es nicht notwendig gewesen, die nicht einsatzbereiten Bereiche mit einem Verbotszeichen „Zutritt verboten“ oder sonstwie abzusperren. Ebenso wenig liege darin ein Verstoß, dass an der Unfallstelle das Seitenschutzgeländer (noch) gefehlt habe. Denn um das Gerüst fertig zu stellen, habe das Gerüst von Mitarbeitern des Beklagten betreten werden müssen, ohne dass das Gerüst bereits den Sicherheitsvorgaben entsprochen habe.

Anmerkung
In Deutschland gibt es zahllose Arbeitsschutzbestimmungen und Unfallverhütungsvorschriften. Es ist kaum ein Arbeitsunfall denkbar, der nicht auf einem Verstoß gegen irgendeine Unfallverhütungsvorschrift beruht. Umso bemerkenswerter ist dieses Urteil, mit dem das Gericht dem Leitsatz des Bundesgerichtshofs, dass „eine Verkehrssicherung, die jeden Schadensfall ausschließe, nicht erreichbar sei“ (BGH, NJW 2013, 48), Rechnung trägt.

SCHLÜNDER | RECHTSANWÄLTE | Bismarckstraße 16  | 59065 Hamm | Deutschland
Tel. 02381 921 55-0 | FAX 02381 921 55-99 | Mail hamm@schluender.info


Kongruenz ALG II

BGH, Urteil vom 25.6.2013 — Aktenzeichen: VI ZR 128/12

Leitsatz
Ein Erwerbsschaden im Sinne des § 842 BGB entsteht auch demjenigen, der infolge des verletzungsbedingten Wegfalls seiner Erwerbsfähigkeit seinen Anspruch auf Arbeitslosengeld II aus § 19 SGB II verliert.

Sachverhalt
Das Berufungsgericht — OLG Jena, 28.2. 2012, Az: 4 U 527/11 — dessen Urteil hier mit Beitrag vom …. veröffentlicht ist, hat noch angenommen, dass die Klägerin gegen den Haftpflichtversicherer des Unfallverursachers keinen Anspruch auf Regress habe. Denn bei den Rentenzahlungen und dem Beitragsregress handele es sich nicht um sachlich kongruente Leistungen zu den wegen des unfallbedingt weggefallenen Arbeitslosengelds II erlittenen Nachteilen. Der Wegfall des Arbeitslosengelds II sei nicht als ersatz- und übergangsfähiger Erwerbsschaden im Sinne des § 842 BGB zu bewerten.

Entscheidung
Diese Entscheidung hat der BGH nun aufgehoben und klar gestellt, dass ein Erwerbsschaden im Sinne des § 842 BGB auch demjenigen entstehe, der infolge des verletzungsbedingten Wegfalls seiner Erwerbsfähigkeit seinen Anspruch auf Arbeitslosengeld II verliert.

Zwar weise das Arbeitslosengeld II deutliche Unterschiede zur Arbeitslosenhilfe nach altem Recht auf. Im Unterschied zur Arbeitslosenhilfe komme ihm keine Lohnersatzfunktion zu. Auch sehe das Sozialgesetzbuch II den Leistungsberechtigten von Arbeitslosengeld II nicht — wie dies früher für den Empfänger von Arbeitslosenhilfe galt — als in den Arbeitsmarkt eingegliedert an.

Im Gegensatz zur Sozialhilfe entstehe der Anspruch auf Gewährung von Arbeitslosengeld II nach der Ansicht des BGH jedoch nicht schon durch die bloße Tatsache der Hilfebedürftigkeit. Vielmehr setze er voraus, dass der Betroffene erwerbsfähig sei (§ 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB II). und für die Eingliederung in Arbeit zur Verfügung stehe. Die Arbeitslosigkeit und die vorausgegangene sozialversicherungspflichtige Beschäftigung seien anders als im Fall der Arbeitslosenhilfe nicht mehr Voraussetzungen der Leistung. Auch wer als Erwerbsfähiger nach früherem Recht nicht Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe bezog, sondern nur Sozialhilfe, falle nunmehr unter die Grundsicherung für Arbeitsuchende gemäß dem Sozialgesetzbuch II. Dass das Arbeitslosengeld II sich im Unterschied zur Arbeitslosenhilfe nicht an der Höhe des gewöhnlich erzielten Arbeitsentgelts orientiere und daher keine Lohnersatzfunktion habe, stehe der Annahme eines Erwerbsschadens nicht entgegen. Die Lohnersatzfunktion einer Sozialleistung könne zwar dafür sprechen, dass mit ihrem Verlust ein Erwerbsschaden eintritt. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts sei sie jedoch keine notwendige Bedingung für die Annahme eines Erwerbsschadens. Entscheidend sei vielmehr, dass das Sozialgesetzbuch II die Leistungsberechtigung von der Erwerbsfähigkeit abhängig mache und dem Leistungsbezieher ein Vermögensnachteil entstehe, wenn er infolge des verletzungsbedingten Wegfalls seiner Erwerbsfähigkeit seinen Anspruch auf Arbeitslosengeld II verliere. Der Annahme sachlicher Kongruenz stehe somit nicht entgegen, dass dem Arbeitslosengeld II keine Lohnersatzfunktion zukommt. Es genüge, dass der Wegfall des entsprechenden Leistungsanspruchs einen Erwerbsschaden begründt und die zu erbringende Sozialleistung dem Ausgleich dieses Schadens diene.

SCHLÜNDER | RECHTSANWÄLTE | Bismarckstraße 16  | 59065 Hamm | Deutschland
Tel. 02381 921 55-0 | FAX 02381 921 55-99 | Mail hamm@schluender.info


Helmpflicht für Radfahrer – Ist der Damm gebrochen?

Oberlandesgericht Schleswig, Urteil vom 5.6.2013 — Aktenzeichen: 7 U 11/12

Erleiden Fahrradfahrer bei einem Unfall im Straßenverkehr Kopfverletzungen, die durch Tragen eines Fahrradhelms verhindert oder gemindert worden wären, stellt sich die Frage nach einem Mitverschulden. Dies wurde bislang nur bei sportlich ambitionierten Fahrradfahrern angenommen. Das OLG Schleswig geht einen Schritt weiter.

Leitsatz
Kollidiert ein Radfahrer im öffentlichen Straßenverkehr mit einem anderen — sich verkehrswidrig verhaltenden — Verkehrsteilnehmer (Kfz; Radfahrer usw.) und erleidet er infolge des Sturzes unfallbedingte Kopfverletzungen, die ein Fahrradhelm verhindert oder gemindert hätte, muss er sich grundsätzlich ein Mitverschulden wegen Nichttragens eines Fahrradhelms anrechnen lassen.

Sachverhalt
Die Klägerin befuhr mit ihrem Fahrrad eine Straße. Sie war auf dem Weg zu ihrer physiotherapeutischen Praxis. Einen Fahrradhelm trug die Klägerin nicht. Am rechten Fahrbahnrand parkte die Beklagte. Unmittelbar vor der sich nähernden Klägerin öffnete die Beklagte die Fahrertür. Die Klägerin konnte nicht mehr ausweichen und fuhr gegen die geöffnete Fahrzeugtür. Infolgedessen stürzte die Klägerin zu Boden und auf den Hinterkopf; sie zog sich schwere Schädel-Hirnverletzungen zu.

Die Parteien streiten einzig um die Frage, ob der Klägerin ein Mitverschulden anzulasten sei, weil sie keinen Helm getragen habe; ein Helm hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit das Schädel-Hirntrauma vermieden.

Entscheidung
Das Oberlandesgericht hat ein Mitverschulden bejaht und dieses mit 20 % bemessen. Die Klägerin habe durch das Nichttragen eines Fahrradhelms Schutzmaßnahmen zu ihrer eigenen Sicherheit unterlassen. Dabei sei davon auszugehen, dass der Anscheinsbeweis für einen Kausalzusammenhang zwischen der Nichtbenutzung des Helmes und der eingetretenen Kopfverletzung spricht, wenn der Radfahrer bei einem Unfall — wie hier — Kopfverletzungen erleidet, vor denen der Schutzhelm gerade schützen soll.

Entgegen der bisher herrschenden obergerichtlichen Rechtsprechung war das OLG der Ansicht, dass das Radfahren ohne Schutzhelm ein Mitverschulden begründet. Argumentiert hat das OLG u.a. damit, dass ja auch im Bereich sportlicher Betätigungen wie Reiten oder Skifahren eine Obliegenheit zum Tragen von Helmen im Sinne des § 254 BGB gebildet. Nichts anderes gelte beim Radfahren.

Das OLG hat die Revision zum Bundesgerichtshof zugelassen.

SCHLÜNDER | RECHTSANWÄLTE | Bismarckstraße 16  | 59065 Hamm | Deutschland
Tel. 02381 921 55-0 | FAX 02381 921 55-99 | Mail hamm@schluender.info


Gemeinsame Betriebsstätte

LG Oldenburg, Urteil vom 15.5.2013 — Aktenzeichen: 16 O 3932/11

Leitsatz
Eine gemeinsame Betreibsstätte i.S.d. § 106 Abs. 3, 3. Alt. SGB VII liegt auch dann vor, wenn bei einem grundsätzlich einheitlichen Arbeitsvorgang zum Schadenszeitpunkt einzelne Arbeitsschritte nicht zwingend für den Gesamterfolg erforderlich waren (Leitsatz der Redaktion).

Sachverhalt
Anlässlich eines Arbeitsunfalls ihres Versicherten nahm die Klägerin als zuständiger Unfallversicherungsträger die Beklagten zu 1) und zu 2) nach § 116 Abs. 1 SGB X in Anspruch. Der Versicherte der Klägerin sollte im Auftrag seines Arbeitgebers mit einem Lkw an der von der Beklagten zu 1) betriebenen Kaianlage Düngemittel laden. An dem Kai befindet sich ein Silo, das von einem auf dem Kai fest montierten Kran befüllt wird. Diesen Kran bediente zum Unfallzeitpunkt der Beklagte zu 2). Das Beladen erfolgt dergestalt, dass der Kran im Bedarfsfall von an dem Kai angelegten Schiffen Düngemittel löscht und in den Silo füllt. Unter dem Silo können die zu beladenden Lkw einfahren. Durch einen weiteren Bediensteten des Anlagenbetreibers wird dann der Lkw durch einen Trichter am Siloboden befüllt, indem eine Klappe geöffnet wird. Am Unfalltag sollten mehrere Lkw des Arbeitgebers des Versicherten der Klägerin befüllt werden. Der Versicherte steuerte den ersten Lkw und platzierte ihn unter dem Silo. Der Beklagte zu 2) hatte den Kran bestiegen und wollte dessen zunächst noch auf dem Boden befindlichen Greifer für den bevorstehenden Beladevorgang vorbereiten. Dazu hob er ihn an. Der Greifer geriet in eine Pendelbewegung und verletzte dabei den außerhalb seines Lkw stehenden Versicherten der Klägerin.

Entscheidung
Streitentscheidend war letztlich die Frage, ob der Beklagte zu 2) und der Versicherte der Klägerin im Schadenszeitpunkt auf einer gemeinsamen Betriebsstätte gem. § 106 Abs. 3, 3. Alt. SGB VII gearbeitet haben.

Das Landgericht hat eine gemeinsame Betriebsstätte für den Versicherten der Klägerin und den Beklagten zu 2) bejaht, da der unmittelbar bevorstehende Beladevorgang in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken beider Personen erfolgt sei. Daran ändere auch der Umstand nichts, dass für die Beladung des ersten Lkw der Einsatz des Kranes nicht erforderlich gewesen ist, weil noch genug Düngemittel im Silo vorhanden war. Für das Landgericht war entscheidend, dass unstreitig sieben Lkw desselben Auftragnehmers hintereinander beladen werden sollten. Deshalb hätte das Silo in jedem Fall vom Kran neu befüllt werden müssen. Dies reiche für eine von Anfang an erforderlich Verständigung auch zwischen dem Beklagten zu 2) und dem Versicherten der Klägerin aus. Der Beladevorgang könne nur als Ganzes betrachtet werden. Der Bekalgte zu 2), der Versichere der Klägerin und auch der Bediener des Silos hätten ihre Arbeiten nicht ohne sich aufeinander abzustimmen verrichten können, so dass sie sich ablaufbedingt in die Quere kamen, wie der BGH im Rahmen einer gemeinsamen Betriebsstätte verlange. Eine Aufspaltung dieses einheitlichen Arbeitsvorganges sei lebensfremd.

Das Landgericht bejaht somit eine gemeinsame Betriebsstätte, obwohl sich die Arbeiten nicht zwingend sachlich ergänzten oder unterstützten. Dem ist im Ergebnis zuzustimmen, da die Arbeiten in Übereinstimmung mit der Rechtsprerchung des BGH jedenfalls so sehr verknüpft waren, dass die gleichzeitige Ausführung der Arbeiten wegen ihrer räumlichen Nähe und Abhängigkeit voneinander eine — wenn auch nur stillschweigende — Verständigung über den Arbeitsablauf erforderten. Für die Annahme eines Haftungsprivilegs kann es in der Tat nicht vom Zufall abhängen, wann bei grundsätzlich ineinandergreifenden Arbeiten, die nur zusammen zum Erfolg führen, einzelne Arbeitsschritte konkret erforderlich sind.

Auch die Beklagte zu 1) haftet im vorliegenden Fall nicht. Zutreffend hat das Landgericht erkannt, dass sich die Beklagte zu 1) als Unternehmen zwar nicht auf § 106 Abs. 3, 3. Alt. SGB VII berufen könne, jedoch eine Haftungsfreistellung über die Figur der gestörten Gesamtschuld erfolgen müsse. Denn der haftungsprivilegierte Beklagte zu 2) hafte aus eigenem Verschulden, während die Beklagte zu 1) nur aus vermutetem Verschulden gem. § 831 BGB hafte, was im Rahmen des fiktiven Innenausgleichs zwischen beiden Gesamtschuldnern wegen § 840 Abs. 2 BGB dazu führe, dass die Beklagte zu 1) wegen gestörter Gesamtschuld auch im Außenverhältnis zur Klägerin nicht in Anspruch genommen werden könne.

SCHLÜNDER | RECHTSANWÄLTE | Bismarckstraße 16  | 59065 Hamm | Deutschland
Tel. 02381 921 55-0 | FAX 02381 921 55-99 | Mail hamm@schluender.info


BGH: § 108 Abs. 1 SGB VII und „Wie-Beschäftigter“

BGH, Urteil vom 30.4.2013 — Aktenzeichen: VI ZR 155/12

Leitsatz
Diente die Tätigkeit des Schädigers sowohl dem Interesse des Unfallbetriebs als auch dem seines eigenen bzw. seines Stammunternehmens, kann sie dem Unfallbetrieb nur dann im Sinne des § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB VII zugeordnet werden, wenn sie der Sache nach für diesen und nicht für das eigene Unternehmen geleistet wurde.

Sachverhalt
Der Kläger ist bei der B. AG angestellt und arbeitet in deren Werk in D. Er wird an Arbeitstagen von einem sogenannten Werksbus der B. AG von seinem Wohnort in E. abgeholt und an seine Arbeitsstelle gebracht. Mit der Durchführung der Fahrten der Werksbusse beauftragte die B. AG die Beklagte zu 2, die hierfür u.a. den bei ihr als Busfahrer angestellten Beklagten zu 1 einsetzte. Am 22. Juni 2009 gegen 4.10 Uhr holte der Beklagte zu 1 den Kläger mit einem Bus der Beklagten zu 2, der bei der Beklagten zu 3 haftpflichtversichert ist, in E. ab und erreichte gegen 4.40 Uhr die Ausstiegsstelle für den Werksbus der B. AG in D. Der Kläger stieg an der hinteren Tür des Busses aus, kam dabei zu Fall und zog sich eine distale Unterarmfraktur links mit Gelenkbeteiligung zu. Die für die B. AG zuständige Berufsgenossenschaft Holz und Metall erkannte den Unfall mit Bescheid vom 23. September 2010 als Arbeitsunfall an.

Mit der Behauptung, der Beklagte zu 1 habe die hintere Bustür geschlossen, als er gerade im Begriff gewesen sei, auszusteigen, begehrt der Kläger die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes sowie die Feststellung der Ersatzverpflichtung der Beklagten hinsichtlich zukünftiger materieller und immaterieller Schäden. Die Beklagten machen geltend, ihre Haftung sei gemäß § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB VII ausgeschlossen, weil der Beklagte zu 1 zum Unfallzeitpunkt in den Betrieb der B. AG wie ein Beschäftigter im Sinne des § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII eingegliedert gewesen sei.

Entscheidung
Zunächst bestätigt der BGH seine Urteile vom 22. April 2008 — VI ZR 202/07, VersR 2008, 820 — sowie 19. Mai 2009 — VI ZR 56/08 — BGHZ 181, 160 — und wiederholt, dass gemäß § 108 Abs. 1 SGB VII der Zivilrichter an unanfechtbare Entscheidungen der Unfallversicherungsträger und der Sozialgerichte hinsichtlich der Frage gebunden sei, ob ein Arbeitsunfall vorliegt, in welchem Umfang Leistungen zu erbringen sind und ob der Unfallversicherungsträger zuständig ist. Die Bindungswirkung erstrecke sich dabei ebenfalls auf die Entscheidung darüber, ob der Verletzte den Unfall als Versicherter aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 1 oder Abs. 2 Satz 1 SGB VII erlitten habe und welchem Betrieb der Unfall zuzurechnen sei.

Da im konkreten Fall die für die B. AG zuständige Berufsgenossenschaft den Unfall des K. bereits als Arbeitsunfall anerkannt und somit dem bei ihr versicherten Unternehmen — der B . AG — zugesprochen hatte, konnte K. aufgrund der Bindungswirkung des § 108 Abs. 1 SGB VII von Anfang an nicht mehr über die Figur des „Wie-Beschäftigten“ nach § 2 Abs. 2 SGB VII der Beklagten zu 2) zugeordnet werden, um über eine nach alter Rechtsprechung noch möglich „Doppelversicherung“ zugunsten der Beklagten zu 1) und 2) die Haftungsprivilegien der §§ 104, 105 SGB VII zu eröffnen.

Während der BGH in den beiden vorangestellten Urteilen ausgeurteilt hat, dass derartige Fälle dann noch über die Haftungsprivilegierung des § 106 Abs. 3, 3. Alt SGB VII gelöst werden könnten, wird mit dieser neuen Entscheidung klar gestellt, dass zwar nicht mehr hinsichtlich des Geschädigten, wohl aber grundsätzlich noch hinsichtlich des Schädigers eine Zuordnung als „Wie-Beschäftigter“ zum Fremdunternehmen des Geschädigten in Betracht kommt. Als Folge könnten bei Vorliegen der im Leitsatz wiedergegebenen Voraussetzungen die §§ 104, 105 SGB VII haftungsausschließend greifen.

Im Ergebnis wurde dies hier vom BGH zwar ebenso verneint wie das Vorliegen einer „gemeinsamen Betriebsstätte“. Jedoch zeigt die Entscheidung auf, dass die Figur des „Wie-Beschäftigten“ für den Schädiger weiterhin eine enorme haftungsrechtliche Bedeutung hat. Der Anwendungsbereich der §§ 104, 105 SGB VII bleibt eröffnet. Deren Voraussetzungten sind mitunter deutlich leichter darzutun als die des § 106 Abs. 3, 3. Alt SGB VII.

SCHLÜNDER | RECHTSANWÄLTE | Bismarckstraße 16  | 59065 Hamm | Deutschland
Tel. 02381 921 55-0 | FAX 02381 921 55-99 | Mail hamm@schluender.info


Angehörigenprivileg bei nichtehelicher Lebensgemeinschaft

BGH, Urteil vom 5.2.2013 — Aktenzeichen: VI ZR 274/12

Leitsatz
§ 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X ist analog auch auf Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft anwendbar.

Sachverhalt
Die Klägerin begehrt als Trägerin der gesetzlichen Rentenversicherung von dem beklagten Haftpflichtversicherer aus gemäß § 116 Abs. 1 SGB X übergegangenem Recht die Erstattung von Aufwendungen, die sie für ihre Versicherte R. erbracht hat und künftig erbringen muss. Die Versicherte erlitt einen Verkehrsunfall, bei dem sie schwer verletzt wurde. Zu dem Unfall kam es, weil der Versicherungsnehmer J. der Beklagten mit seinem Kraftfahrzeug, in dem sich die Versicherte als Beifahrerin befand, aufgrund Übermüdung von der Fahrbahn abkam. J. verstarb an der Unfallstelle. Die volle Haftung der Beklagten steht außer Streit. Die Beklagte ist der Auffassung, einem Anspruchsübergang auf die Klägerin stehe das Familienprivileg (§ 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X) entgegen, denn R. und J. seien Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft gewesen und hätten in häuslicher Gemeinschaft gelebt.

Entscheidung
Das Oberlandesgericht hatte die Revision gegen sein Urteil zugelassen, weil die analoge Anwendung von § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X auf nichteheliche Lebensgemeinschaften in der Literatur umstritten und diese Frage höchstrichterlich noch nicht geklärt sei.

Der BGH spricht sich nunmehr eindeutig für eine zumindest analoge Anwendung des § 116 Abs. 6 SGB X aauf nichteheliche Lebensgemeinschaften aus:

Bereits mit der am 1. Januar 2008 in Kraft getretenen Neufassung des VVG wurde das ehemals in § 67 VVG a.F. geregelte Haftungsprivileg dahin geändert, dass der Anspruchsübergang nicht geltend gemacht werden kann, wenn sich der Ersatzanspruch des Versicherungsnehmers gegen eine Person richtet, mit der er bei Eintritt des Schadens in häuslicher Gemeinschaft lebt. Mit dieser Gesetzesreform hat sich das Familienangehörigenprivileg zu einem Haushaltsangehörigenprivileg gewandelt. Für diese Neuregelung war ausschlaggebend, dass nach Auffassung des Gesetzgebers eine Beschränkung des Regressausschlusses auf Familienangehörige (in häuslicher Gemeinschaft) nicht mehr den heutigen Verhältnissen entspreche und die für die Sonderregelung maßgeblichen Gesichtspunkte für alle Personen gelten, die in einer häuslichen Gemeinschaft miteinander leben.

Nach Inkrafttreten der VVG-Reform ist der BGH bereits der in einigen Entscheidungen der ober- und landgerichtlichen Rechtsprechung aus jüngerer Zeit vertretenen und auch im Schrifttum zunehmend geäußerten Auffassung gefolgt, dass die Einbeziehung von Partnern nichtehelicher Lebensgemeinschaften in den Schutzbereich des § 67 Abs. 2 VVG a.F. gebotenn ist. Die Vergleichbarkeit der Schutzwürdigkeit erfordere zumindest eine analoge Anwendung. In einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, für die gemeinsame Mittelaufbringung und -verwendung prägende Merkmale seien, treffe die Inanspruchnahme des Partners den Versicherungsnehmer wirtschaftlich nicht minder als in einer Ehe. In eheähnlichen Lebensgemeinschaften können zudem Konfliktsituationen, die diese Vorschrift verhindern wolle, ebenso wie in einer Familiengemeinschaft auftreten, wenn der Schädiger einem Regress nach § 116 Abs. 1 SGB X ausgesetzt sei. Ob dies mit dem Gesetzesverständnis, insbesondere dem objektivierten Willen des Gesetzgebers, den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte der Vorschrift vereinbar sei, könne offen bleiben. Denn die seinerzeit geäußerten Zweifel haben angesichts des seitdem weiter fortgeschrittenen gesellschaftlichen Wandels und der diesen tatsächlichen Veränderungen Rechnung tragenden rechtlichen Fortentwicklung (vgl. BVerfG 82, 6, 12) inzwischen an Gewicht verloren und können nach heutiger Beurteilung der Einbeziehung von Partnern nichtehelicher Lebensgemeinschaften in den Schutzbereich des § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X nicht länger entgegenstehen.

SCHLÜNDER | RECHTSANWÄLTE | Bismarckstraße 16  | 59065 Hamm | Deutschland
Tel. 02381 921 55-0 | FAX 02381 921 55-99 | Mail hamm@schluender.info