Beweislastumkehr beim Hausnotrufvertrag

BGH, Urteil vom 11.5.2017 — Aktenzeichen: III ZR 92/16

Sachverhalt
Die Beklagten haben mit dem (mittlerweile verstorbenen) Kläger einen Hausnotrufvertrag geschlossen, bei dem im Fall eines Notrufs unverzüglich eine angemessene Hilfeleistung vermittelt werden sollte, z. B. durch Alarmierung des Rettungsdienstes oder des Hausarztes.

Am 09.04.2012 betätigte der Kläger den Notruf. Der Mitarbeiter der Beklagten vernahm minutenlang ein Stöhnen. Die Beklagte konnte den Kläger telefonisch nicht erreichen und veranlasste, dass sich ein Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes zu der Wohnung begab, der den Kläger am Boden liegend vorfand. Es gelang ihm aber nicht, den übergewichtigen Kläger aufzurichten. Eine ärztliche Versorgung wurde nicht veranlasst. Zwei Tage später wurde der Kläger in der Wohnung mit einer Halbseitenlähmung sowie einer Sprachstörung aufgefunden und in eine Klinik eingeliefert, wo ein nicht mehr ganz frischer, wahrscheinlich ein bis drei Tage zurückliegender Schlaganfall diagnostiziert wurde. Wegen der Folgen dieses Schlaganfalls hat der Kläger die Beklagte in Anspruch genommen. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die dagegen gerichtete Berufung war erfolglos.

Entscheidung
Der BGH hat die Entscheidung der Berufungsinstanz aufgehoben und die Sache an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.

Der BGH betont in seiner Entscheidung, dass es sich beim Hausnotrufvertrag um einen Dienstvertrag im Sinne von § 611 BGB handelt, bei dem kein Erfolg etwaiger Rettungsmaßnahmen geschuldet wird, sondern lediglich die Verpflichtung besteht, unverzüglich eine angemessene Hilfeleistung zu vermitteln.

Im vorliegenden Fall hätte es sich den Mitarbeitern aber aufdrängen müssen, dass der Kläger medizinische Hilfe benötigte. Bereits die Entsendung eines medizinisch nicht geschulten, lediglich in Erster Hilfe ausgebildeten Mitarbeiters eines Sicherheitsdienstes in der vorliegenden dramatischen Situation stellte nach Auffassung des BGH keine angemessene Hilfeleistung mehr dar. Die Pflichtverletzung sei auch als grob einzustufen und dürfe einem Betreiber eines Hausnotrufdienstes nicht passieren.

Im Bereich der Arzthaftung ist anerkannt, dass ein grober Behandlungsfehler zur Umkehr der Beweislast im Rahmen des Ursachenzusammenhangs zwischen Pflichtverletzung und Schaden führt. Der BGH hat im vorliegenden Fall eine Vergleichbarkeit der Interessenlage angenommen und geht davon aus, dass die grobe Verletzung von Berufs- und Organisationspflichten, sofern diese — ähnlich wie beim Arztberuf — dem Schutz von Leben und Gesundheit anderer dienen, jeweils eine Umkehr der Beweislast rechtfertigt.

Auch wenn der BGH im konkreten Fall diese Beweisgrundsätze nur für den angebotenen Hausnotrufvertrag anwendet, der unzweifelhaft dem Schutz von Leben und Gesundheit älterer und pflegebedürftiger Teilnehmer dienen sollte, stellt der BGH damit klar, dass allein der konkrete Bezug zum Gesundheits- und Lebensschutz ausreicht, um auch außerhalb des Arzthaftungsrechts eine Beweislastumkehr zu rechtfertigen.

In der Vergangenheit hatte die Rechtsprechung diese Grundsätze bereits auf den Bereich der Pflegeheimhaftung übertragen (vgl. u. a. OLG Hamm, Urteil v. 09.09.2015, AZ 3 U 60/14). Eine vergleichbare Interessenlage lässt sich jedoch bei einer Vielzahl von Dienstleistern annehmen, deren Tätigkeit in irgendeiner Weise mit dem Gesundheitsschutz der Kunden verbunden sein kann.

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Haftung des Durchgangsarztes

BGH, Urteil vom 29.11.2016 — Aktenzeichen: VI ZR 208/15 (und BGH, Urt. v. 20.12.2016, VI ZR 395/15

Leitsatz
1. Die ärztliche Heilbehandlung ist regelmäßig nicht Ausübung eines öffentlichen Amtes im Sinne von Art. 34 GG.

2. Die Tätigkeit eines Durchgangsarztes ist jedoch nicht ausschließlich dem Privatrecht zuzuordnen. Die vom Durchgangsarzt zu treffende Entscheidung, ob die allgemeine oder die besondere Heilbehandlung erforderlich ist, ist als hoheitlich im Sinne von Art. 34 S. 1 GG, § 839 BGB zu qualifizieren. Gleiches gilt für die vom Durchgangsarzt im Rahmen der Eingangsuntersuchung vorgenommenen Untersuchungen zur Diagnosestellung, die anschließende Diagnosestellung und die sie vorbereitenden Maßnahmen.

3. Für etwaige Fehler in diesem Bereich haften die Unfallversicherungsträger (Aufgabe der Rechtsprechung zur „doppelten Zielrichtung‟).

4. Eine Erstversorgung durch den Durchgangsarzt ist ebenfalls der Ausübung eines öffentlichen Amtes zuzurechnen mit der Folge, dass die Unfallversicherungsträger für etwaige Fehler in diesem Bereich haften (Aufgabe BGH III ZR 131/72; BGHZ 63, 265)

5. Bei der Bestimmung der Passivlegitimation ist regelmäßig auf den Durchgangsarztbericht abzustellen, in dem der Durchgangsarzt selbst die „Art der Erstversorgung (durch den D-Arzt)“ dokumentiert.

Sachverhalt
Beiden vom BGH entschiedenen Fällen zur Frage, wer im Falle eines — unterstellten — Diagnose- bzw. Behandlungsfehlers eines Durchgangsarztes (D-Arzt) haftet, nämlich der jeweilige Arzt persönlich oder die zuständige gesetzliche Unfallversicherung (gUV), lag zugrunde, dass ein Versicherter der gUV nach einem Unfall einen D-Arzt aufgesucht und dieser nach Durchführung diagnostischer Untersuchungen darüber entschieden hatte, ob im Weiteren die sog. „Allgemeine Heilbehandlung“ oder die „Besonderen Heilbehandlung“ erforderlich war. In dem Sachverhalt zur Entscheidung vom 29.11.2016, hatte der D-Arzt darüber hinaus auch eine therapeutische Erstversorgung durchgeführt, die als fehlerhaft gerügt worden war. Wie nachfolgende Untersuchungen ergaben, waren jeweils die gestellten Erstdiagnosen und die darauf veranlasste weitere Heilbehandlungsart falsch bzw. unzureichend.

Entscheidung
Unter teilweiser Aufgabe seiner Rechtsprechung stellt der BGH folgende Vorgaben für die Beurteilung, ob der D-Arzt persönlich (aus Behandlungsvertrag bzw. § 823 BGB) oder der gUV (aus Art. 34 S.1 GG, § 839 BGB) haftet, auf:

Die ärztliche Heilbehandlung sei regelmäßig nicht Ausübung eines öffentlichen Amtes im Sinne von Art. 34 GG. Auch die ärztliche Heilbehandlung nach einem Arbeitsunfall sei als solche keine der gUV obliegende Aufgabe. Der Arzt, der die Heilbehandlung durchführe, übe deshalb kein öffentliches Amt aus und hafte für Fehler persönlich

Bei der nach Art und Schwere der Verletzung zu treffenden Entscheidung eines D-Arztes, ob die allgemeine oder die besondere Heilbehandlung erforderlich sei, erfülle er eine der gUV obliegende Aufgabe und übe damit ein öffentliches Amt aus. Sei seine Entscheidung über die Art der Heilbehandlung fehlerhaft und werde der Verletzte dadurch geschädigt, hafte für Schäden nicht der D-Arzt persönlich, sondern die gUV nach Art. 34 S. 1 GG, § 839 BGB. Dies gelte auch, soweit die Überwachung des Heilerfolgs lediglich als Grundlage der Entscheidung diene, ob der Verletzte in der allgemeinen Heilbehandlung verbleibe oder in die besondere Heilbehandlung überwiesen werden solle.

Wegen des regelmäßig gegebenen inneren Zusammenhangs zwischen der Diagnosestellung und den sie vorbereitenden Maßnahmen einerseits und der Entscheidung über die richtige Heilbehandlung andererseits seien solche Maßnahmen ebenfalls der öffentlich-rechtlichen Aufgabe des D-Arztes zuzuordnen.

Da die vorbereitenden Maßnahmen zur Diagnosestellung und die Diagnosestellung durch den D-Arzt in erster Linie zur Erfüllung seiner sich aus dem öffentlichen Amt ergebenden Pflichten vorgenommen würden, seien diese Maßnahmen dem Amt zuzuordnen, mit der Folge, dass die gUV für Fehler in diesem Bereich hafte. Soweit aus der Rechtsprechung des Senats zur „doppelten Zielrichtung“ etwas anderes abgeleitet werden könne, halte der BGH daran für die vorbereitenden Maßnahmen zur Diagnosestellung und die Diagnosestellung nicht fest.

Die gUV hätten nach § 34 I 1 SGB VII bei der Durchführung der Heilbehandlung alle Maßnahmen zu treffen, durch die eine möglichst frühzeitig nach dem Versicherungsfall einsetzende und sachgemäße Heilbehandlung und, soweit erforderlich, besondere unfallmedizinische oder Berufskrankheiten-Behandlung gewährleistet werde. Dies spreche bereits dafür, nicht nur die Entscheidung, ob die allgemeine oder die besondere Heilbehandlung erforderlich ist, sondern auch die sie vorbereitenden Maßnahmen als Ausübung eines öffentlichen Amtes zu betrachten. Maßgeblich für eine solche Zuordnung seien aber auch inhaltliche Überlegungen. D-Arzt-Untersuchungen, insbesondere notwendige Befunderhebungen zur Stellung der richtigen Diagnose und die anschließende Diagnosestellung, seien regelmäßig unabdingbare Voraussetzungen für die Entscheidung, ob eine allgemeine Heilbehandlung oder eine besondere Heilbehandlung erfolgen soll. Ein Fehler in diesem Stadium werde regelmäßig der Vorgabe des § 34 I 1 SGB VII entgegenstehen, eine möglichst frühzeitig nach dem Versicherungsfall einsetzende und sachgemäße Heilbehandlung zu gewährleisten. Mithin bilde die Befunderhebung und die Diagnosestellung die Grundlage für die der gUV obliegende, in Ausübung eines öffentlichen Amtes erfolgende Entscheidung, ob eine allgemeine Heilbehandlung ausreiche oder wegen der Schwere der Verletzung eine besondere Heilbehandlung erforderlich sei.

Weiter stellt der BGH – ebenfalls unter Aufgabe seiner bisher anderen Rechtsauffassung – klar, dass eine Erstversorgung durch den D-Arzt der Ausübung eines öffentlichen Amtes zuzurechnen sei.

Sowohl die Regelungen des SGB VII, hier § 34 I 1 und § 27 I SGB VII, wie auch die Reglungen in dem Vertrag zwischen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung, dem Spitzenverband der landwirtschaftlichen Sozialversicherung und der kassenärztlichen Bundesvereinigung („Vertrag 2008“) zur Wahrnehmung der Pflichten der gUV durch D-Ärzte, verdeutlichten, dass die Erstversorgung des Verletzten Teil der hoheitlichen Tätigkeit des D-Arztes seien. Gem. § 27 I SGB VII umfasse die Heilbehandlung insbesondere die Erstversorgung sowie die ärztliche Behandlung und zahnärztliche Behandlung. Das berufsgenossenschaftliche Heilverfahren werde beherrscht von dem Grundsatz, bei den Verletzungsfolgen, die eine fachärztliche Versorgung erfordern, möglichst in unmittelbarem zeitlichem Anschluss an den Unfall eine Versorgung durch den besonders qualifizierten D-Arzt sicherzustellen. Deshalb werde der Verletzte verpflichtet, zunächst zum D-Arzt zu gehen, der entscheiden müsse, welche Art der Weiterbehandlung erfolgen soll, und auch die sofort notwendige Erstversorgung durchzuführen habe. Da der D-Arzt regelmäßig in engem räumlichem und zeitlichem Zusammenhang mit der Entscheidung über das „Ob“ und „Wie“ der Heilbehandlung und der diese vorbereitenden Maßnahmen auch als Erstversorger tätig werde, seien dabei unterlaufende Behandlungsfehler der gUV zuzurechnen. Diese Tätigkeiten gingen ineinander über, könnten nicht sinnvoll auseinander gehalten werden und stellten aus Sicht des Geschädigten einen einheitlichen Lebensvorgang dar, der nicht in haftungsrechtlich unterschiedliche Tätigkeitsbereiche aufgespaltet werden könne

Dem stehe nicht entgegen, dass die ärztliche Heilbehandlung regelmäßig nicht Ausübung eines öffentlichen Amtes im Sinne von Art. 34 GG ist. Die Erstversorgung werde in § 27 I 1 SGB VII getrennt von der ärztlichen und zahnärztlichen Behandlung aufgeführt. Dies gelte auch für die §§ 6, 9, 10, 11 des „Vertrags 2008“, wonach bei Arbeitsunfällen die Heilbehandlung als allgemeine Heilbehandlung oder als besondere Heilbehandlung durchgeführt und die Erstversorgung davon unterschieden werde. Dies sei ein Indiz, dass an sie andere Rechtsfolgen geknüpft werden können als an die nach der Erstversorgung folgenden ärztlichen Behandlungen.

Die Betrachtung der von dem D-Arzt zu treffenden Maßnahmen als einheitlicher Lebensvorgang vermeide schließlich die in der Praxis beklagten Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Passivlegitimation. Denn in dem Durchgangsarztbericht dokumentiere der D-Arzt selbst die „Art der Erstversorgung (durch den D-Arzt)“.

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Klinik haftet für intraoperative Aufklärungspflichtverletzung bei Nierenentfernung

OLG Hamm, Urteil vom 23.2.2017 — Aktenzeichen: 3 U 122/15

Leitsatz
Stellt sich während der Operation an der Niere eines 8-jährigen Kindes heraus, dass der ursprünglich geplante Eingriff nicht durchführbar ist, kann eine neue Situation vorliegen, die eine neue Aufklärung der sorgeberechtigten Eltern über die zu verändernde Behandlung und ihre hierzu erteilte Einwilligung erfordert.

Sachverhalt
Der im Juli 2004 geborene Kläger litt unter anderem an multiplen Nierengewebsdefekten und einem erweiterten Nierenbeckenkelchsystem, weswegen die linke Niere noch 22 % ihrer Funktion hatte. Nach einem mit den Eltern des Klägers geführten Aufklärungsgespräch wurde der Kläger im Januar 2013 operiert. Bei der Operation sollte eine neue Verbindung zwischen dem Nierenbecken und dem Harnleiter geschaffen werden, um die Abflussverhältnisse der linken Niere zu verbessern. Intraoperativ stellte sich heraus, dass die geplante Rekonstruktion aufgrund nicht vorhersehbarer anatomischer Gegebenheiten nicht möglich war. Die Operation wurde unterbrochen, eine behandelnde Ärztin schilderte den Kindeseltern die veränderte Situation und empfahl die sofortige Entfernung der linken Niere. Die Kindeseltern stimmten zu, die Operation wurde fortgesetzt und die linke Niere des Klägers entfernt. Nach der Operation hat der Kläger die Entfernung der linken Niere beanstandet, Aufklärungsmängel geltend gemacht und vom Klinikum und der interoperativ aufklärenden Ärztin Schadensersatz verlangt, unter anderem ein Schmerzensgeld in Höhe von 25.000,00 €.

Die Klage hatte vor dem OLG Hamm teilweise Erfolg. Dem Kläger wurde aufgrund eines Aufklärungsmangels 12.500,00 € Schmerzensgeld zugesprochen.

Entscheidung
Nach Auffassung des erkennenden Senats sind die Eltern des Klägers während der Operation nicht ordnungsgemäß aufgeklärt worden. Es habe eine neue Situation vorgelegen, als sich interoperativ herausgestellt hat, dass die ursprünglich geplante Rekonstruktion nicht möglich gewesen ist. Dies habe eine veränderte Behandlung erforderlich gemacht. Diese Situation habe eine neue Aufklärung eine neue Einwilligung der sorgeberechtigten Eltern des Klägers erfordert. Die interoperativ erfolgte Aufklärung sei defizitär gewesen. Die das aufklärende Gespräch führende Ärztin habe nämlich die Entfernung der linken Niere als alternativlos dargestellt und die sofortige Nierenentfernung empfohlen.

Diesbezüglich führte der hinzugezogene medizinische Sachverständige aus, dass es nicht zwingend notwendig gewesen sei, die Niere sofort zu entfernen. Alternativ wäre es möglich gewesen, die Operation der Gestalt zu beenden, dass das Nierenbecken verschlossen und die Nieren über eine Nierenhautfistel abgeleitet werde, um danach die weitere Vorgehensweise in Ruhe mit den Eltern zu besprechen. Dabei habe neben der Nierenentfernung auch die Möglichkeit bestanden, später nierenerhaltend zu operieren. Es habe zur Wahrung des Selbstbestimmungsrechts des Klägers der interoperativen Aufklärung seiner Eltern dahingehend bedurft, dass neben der sofortigen Entfernung der linken Niere auch der Abbruch der Operation mit einer äußeren Harnableitung für eine Übergangszeit möglich gewesen sei. In dieser Übergangszeit hätte dann eine ärztliche Aufklärung, Beratung und eine Entscheidung der Eltern erfolgen können. Angesichts der Tragweite und Bedeutung der Entscheidung zwischen einer Nierenentfernung und einer riskanten und schwierigeren Nierenerhaltungsoperation habe dieses Aufklärungserfordernis eindeutig und unzweifelhaft bestanden. In dieser Situation könne auch nicht von einer hypothetischen Einwilligung der Eltern in die sofortige Entfernung der Niere ausgegangen werden. Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass sich die Kindeseltern in der vor der Operation bestehenden Situation ausdrücklich gegen eine Nierenentfernung beim Kläger entschieden haben, ist von einem echten Entscheidungskonflikt der Kindeseltern auszugehen.

Die gebotene Aufklärung ist im vorliegenden Fall daher versäumt worden. Die erteilte Einwilligung der Eltern erachtete das OLG als unwirksam und den Eingriff als rechtswidrig. Angesichts der Vorschädigung der entfernten Niere sei das zu erkannte Schmerzensgeld angemessen.

Das Urteil ist rechtskräftig.

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Sekundäre Darlegungslast des Krankenhaus bei behaupteten Hygieneverstößen

BGH, Urteil vom 16.8.2016 — Aktenzeichen: VI ZR 634/15

Sachverhalt
Der Kläger (K) nimmt die Beklagte (B) u.a. wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung in Anspruch.

Nach bereits länger anhaltenden Beschwerden im rechten Ellenbogen wurde K an die B überwiesen. Nach erfolglosen konservativen Behandlungen und entsprechender Indikationsstellung erfolgte am 09.03.2010 bei B eine Operation des Ellenbogens. Nachfolgend wurde K bei reizlosen Verhältnissen entlassen. Ca. einen Monat später stellte sich K erneut bei B wegen anhaltender Schmerzen im rechten Ellenbogen vor. Es wurde eine deutliche Schwellung festgestellt und eine Revisionsoperation empfohlen, die am 23.04.2010 auch durchgeführt wurde. Dabei entleerte sich Eiter. Ein Abstrich wurde genommen, ein Debridement durchgeführt und eine Antibiotikatherapie eingeleitet. Der Abstrich ergab eine Wundinfektion mit Staphylococcus Aureus. Trotz weiterer Nachoperationen verblieben K Bewegungseinschränkungen.

Das LG hatte die Klage des K abgewiesen. Die Berufung vor dem OLG wurde zurückgewiesen und die Revision nicht zugelassen. Hiergegen wendete sich K mit der Nichtzulassungsbeschwerde.

Entscheidung
Die Nichtzulassungsbeschwerde hatte Erfolg und führte gem. § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Die Beurteilung des OLG, der B sei ein Verstoß gegen Hygienestandards nicht vorzuwerfen, beruhe auf einer Verletzung des Anspruchs des K auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG.

Zunächst bestätigt der BGH das Berufungsgericht in dessen Ausführungen, dass dem K eine Beweislastumkehr nach den Grundsätzen über das vollbeherrschbare Risiko nicht zugute komme. Die strikten Grundsätze für die Anwendbarkeit einer dahingehenden Beweislastumkehr verneint der BGH mit der Begründung, es stehe nicht fest, wo und wann sich K infiziert habe. Der bei ihm nachgewiesene Erreger sei ein physiologischer Hautkeim, der bei jedem Menschen vorzufinden sei. Es sei möglich, dass K selbst Träger des Keims war und dieser in die Wunde gewandert sei oder der Keim durch einen Besucher übertragen worden sei.

Die Nichtzulassungsbeschwerde wendet sich nach Auffassung des BGH aber mit Erfolg gegen die Beurteilung des OLG, K habe einen Verstoß gegen Hygienestandards nicht bewiesen, er habe insoweit nur Mutmaßungen mitgeteilt. Das OLG habe den Prozessstoff nicht vollständig gewürdigt und wesentliche, dem K günstige Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen unberücksichtigt gelassen.

Der BGH betont sodann, dass — gerade in Arzthaftungsprozessen — auch ohne entsprechende ausdrückliche Erklärung davon auszugehen sei, dass eine Partei sich Ausführungen eines gerichtlichen Sachverständigen, die ihr günstig seien, zumindest konkludent zu Eigen mache. Es entspreche einem allgemeinen Grundsatz, dass eine Partei die bei einer Beweisaufnahme zutage tretenden Umstände, soweit sie ihre Rechtsposition zu stützen geeignet seien, auch ohne dahingehende ausdrückliche Erklärung in ihr Klagevorbringen aufnehme. Dieser Grundsatz verdiene im Arzthaftungsprozess nach Einholung eines Sachverständigengutachtens zugunsten des geschädigten Patienten umso mehr Beachtung, als der Patient im allgemeinen die medizinischen Vorgänge und Zusammenhänge nur unvollkommen zu überblicken vermöge und deshalb in gewissem Umfange darauf angewiesen sei, dass der Sachverhalt durch Einholung eines Sachverständigengutachtens aufbereitet werde. Die Nichtberücksichtigung der die Rechtsposition des K stützenden Ausführungen des Sachverständigen bedeute, dass erhebliches Vorbringen des K im Ergebnis übergangen und damit dessen verfassungsrechtlich gewährleisteter Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt worden sei.

K sei nach eigenen Angaben er im Anschluss an die OP vom 9. März 2010 in einem Zimmer neben einem Patienten untergebracht, der unter einer offenen, eiternden und mit einem Keim infizierten Wunde im Kniebereich litt, sein „offenes Knie“ dem K und allen anderen Anwesenden bei den verschiedenen Verbandswechseln zeigte und darüber klagte, dass man den Keim nicht „in den Griff“ bekomme. Die gemeinsame Unterbringung eines solchen Patienten neben einem Patienten mit unauffälligem postoperativem sei nach den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen nicht zu beanstanden, wenn konkret aufgezeigte Empfehlungen der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention des Robert-Koch-Institutes eingehalten worden wären.

Die Feststellung des OLG, der gerichtliche Sachverständige habe keine Anhaltspunkte für eine Verletzung der von ihm beschriebenen Hygienestandards gefunden, finde in den Ausführungen des Sachverständigen keine Grundlage. Der Sachverständige habe vielmehr angegeben, es entziehe sich seiner Kenntnis, inwieweit die veröffentlichten Empfehlungen beachtet worden seien; hier müsse ggf. eine entsprechende Recherche betrieben werden. Dies könne er aus den ihm vorgelegten Unterlagen nicht ableiten. Er selbst vermeide derartige Patientenkonstellationen, um derartige Diskussionen nicht führen zu müssen.

Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass das OLG bei der gebotenen Berücksichtigung der Angaben des Sachverständigen zu einer anderen Beurteilung gelangt wäre.

Bei der neuen Verhandlung werde das OLG Gelegenheit haben, auf die weitere Aufklärung des Sachverhalts hinzuwirken. Es werde dabei zu berücksichtigen haben, dass die B die sekundäre Darlegungslast hinsichtlich der Maßnahmen treffe, die sie ergriffen habe, um sicherzustellen, dass die vom Sachverständigen als Voraussetzung für ein behandlungsfehlerfreies Vorgehen aufgeführten Hygienebestimmungen eingehalten wurden. Zwar müsse grundsätzlich der Anspruchsteller alle Tatsachen behaupten, aus denen sich sein Anspruch herleite. Dieser Grundsatz bedürfe aber einer Einschränkung, wenn die primär darlegungsbelastete Partei außerhalb des von ihr vorzutragenden Geschehensablaufs stehe und ihr eine nähere Substantiierung nicht möglich oder nicht zumutbar sei, während der Prozessgegner alle wesentlichen Tatsachen kenne oder unschwer in Erfahrung bringen könne und es ihm zumutbar sei, nähere Angaben zu machen. So verhalte es sich hier. Der Kläger habe darauf hingewiesen, dass er als frisch operierter Patient neben einen Patienten gelegt worden sei, der unter einer offenen, mit einem Keim infizierten Wunde im Kniebereich litt und sein „offenes Knie“ allen Anwesenden zeigte. Dieser Vortrag genüge, um eine erweiterte Darlegungslast der Beklagten auszulösen. Denn an die Substantiierungspflichten der Parteien im Arzthaftungsprozess seien nur maßvolle und verständige Anforderungen zu stellen. Vom Patienten könne regelmäßig keine genaue Kenntnis der medizinischen Vorgänge erwartet und gefordert werden. Er sei insbesondere nicht verpflichtet, sich zur ordnungsgemäßen Prozessführung medizinisches Fachwissen anzueignen. Vielmehr dürfe er sich auf Vortrag beschränken, der die Vermutung eines fehlerhaften Verhaltens des Arztes aufgrund der Folgen für den Patienten gestattet. Zu der Frage, ob die B den vom Sachverständigen genannten Empfehlungen zu Hygienestandards nachgekommen sei, könne und müsse der K nicht näher vortragen. Welche Maßnahmen die B getroffen habe, um eine sachgerechte Organisation und Koordinierung der Behandlungsabläufe und die Einhaltung der Hygienebestimmungen sicherzustellen (interne Qualitätssicherungsmaßnahmen, Hygieneplan, Arbeitsanweisungen), entziehe sich seiner Kenntnis.

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Versteifung des Sprunggelenks rechtfertigt ein Schmerzensgeld von 6.000,00 € wegen unzureichender Risikoaufklärung

OLG Hamm, Urteil vom 8.7.2016 — Aktenzeichen: 26 U 203/15

Sachverhalt
Im Januar 2013 suchte der im Juli 1952 geborene Kläger, von Beruf Metallbaumeister und Berufskraftfahrer, die beklagte ärztliche Gemeinschaftspraxis auf. Er hatte Beschwerden im rechten oberen Sprunggelenk, welches in den 1980er Jahren nach einer Fraktur operativ versorgt worden war. In der beklagten Praxis diagnostizierte man eine Arthrose, die zunächst konservativ behandelt wurde. Nachdem die Behandlung erfolglos blieb, empfahl der behandelnde Arzt dem Kläger eine Versteifungsoperation. Diese Arthrodese ließ der Kläger im April 2013 durch den Arzt durchführen. In der Folge entwickelte sich beim Kläger eine Pseudo-Arthrose, weil die gewünschte knöcherne Konsolidierung ausblieb. Hierdurch entstand eine Spitzfußstellung, die der Kläger im Januar 2014 mit einer Re-Arthrodese operativ behandeln ließ. Mit der Begründung, die Versteifungsoperation sei behandlungsfehlerhaft ausgeführt und er sei zuvor nicht ausreichend über die Operationsrisiken aufgeklärt worden, hat der Kläger von der beklagten Praxis Schadensersatz verlangt, unter anderem ein Schmerzensgeld in Höhe von 6.000,00 €. Das Landgericht wies die Klage ab. Auf die Berufung des Klägers änderte das OLG Hamm das Urteil ab und gab der Klage statt. Die Entscheidung ist rechtskräftig.

Entscheidung
Nach der Anhörung der Parteien und einem eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten hat der erkennende Senat die beklagte Praxis aufgrund eines Aufklärungsfehlers zum Schadensersatz verurteilt. Der Senat geht davon aus, dass die durchgeführte Aufklärung defizitär war; denn es ist nicht mit ausreichender Sicherheit feststellbar, dass der Kläger über das erhöhte Risiko der Entwicklung einer Pseudo-Arthrose mit der Folge einer Schraubenlockerung informiert worden ist. Dieses Risiko bestand nach Angaben des Sachverständigen in einem nicht unerheblichen Umfang von 14 % und war in jedem Fall aufklärungspflichtig. Für die erfolgte Aufklärung ist die Beklagtenseite darlegungs- und beweispflichtig. Die gebotene Aufklärung konnte diese nicht nachweisen. Aus dem vom Kläger unterzeichneten Aufklärungsbogen ergibt sich kein Hinweis auf eine derartige erteilte Aufklärung, weil das Risiko gar nicht aufgeführt ist. Entgegen der Auffassung des Landgerichts geht der Senat nach erneuter Anhörung des Klägers auch nicht vom Vorliegen einer hypothetischen Einwilligung aus. Insoweit hat der Kläger vielmehr einen Entscheidungskonflikt bei Kenntnis eines erhöhten Risikos plausibel dargelegt, wenn er erklärt hat, dass er in diesem Fall sich zumindest noch einmal einen Rat in einer anderen Klinik eingeholt hätte, da er bereits über eine Überweisung in diese Klinik verfügt habe. Ausgehend von einer Aufklärungspflichtverletzung ist bei dem Kläger am 18.04.2013 eine rechtswidrige operative Maßnahme vorgenommen worden, die mit Schmerzen und der aufgetretenen Risikoverwirklichung der Pseudo-Arthrose verbunden war. Vor diesem Hintergrund hält der Senat das beantragte Schmerzensgeld von 6.000,00 € für angemessen, aber auch ausreichend, um den Kläger entsprechend zu entschädigen.

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Deutliche Worte setzen Verjährung in Gang

OLG Saarbrücken, Urteil vom 18.5.2016 — Aktenzeichen: 1 U 121/15

Sachverhalt
Die Klägerin ließ sich beim Beklagten, einem Augenarzt, im Jahr 2009 behandeln. Dieser stellte eine Netzhautprominenz fest und überwies die Klägerin zur weiteren Abklärung in eine Augenklinik, wo ein Hämangiom diagnostiziert wurde und weitere regelmäßige Kontrollen empfohlen wurden. Bei einer MRT-Untersuchung wurde eine 9 x 4 mm große hyperintense Formation der linken lateralen Retina entdeckt. Die Klägerin legte dem Beklagten den entsprechenden Befund vom 25.05.2010 vor. Am 04.11.2012 verwies der Beklagte die Klägerin zur weiteren Diagnostik an eine Augenklinik, um den Verdacht auf das Vorliegen eines Aderhauttumors abzuklären. Nach Verweisung in eine weitere Klinik und der Einleitung einer Brachy-Therapie mit Ruthenium wurde festgestellt, dass das Augenlicht des linken Auges der Klägerin nicht mehr erhalten werden konnte. In der Klinik sagte man ihr, man könne nicht mehr viel machen, weil sie so spät komme und der Tumor zu groß sei. Die Klägerin hatte gegenüber dem Landgericht — informatorisch angehört — angegeben, der Chefarzt in Essen habe wörtlich zu ihr gesagt, dem Vorbehandler — hier dem Beklagten — gehöre „in den Arsch getreten“. Das Landgericht wies die Klage wegen Verjährung ab.

Entscheidung
Das OLG Saarbrücken hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen und das landgerichtliche Urteil bestätigt.

Gemäß den §§ 195, 199 Abs. 1 BGB verjähren Ansprüche in drei Jahren, beginnend mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste.

In seiner Entscheidung stellt der Senat klar, dass an die maßgebende Kenntnis im Bereich des Arzthaftungsrechts hohe Anforderungen zu stellen sind. Es genügt nicht, wenn ein Patient weiß oder wissen muss, dass die ärztliche Behandlung negativ ausgegangen ist, da es sich bei dem Behandlungsvertrag um einen Dienstvertrag handelt, bei dem lediglich das ernsthafte Bemühen um die Herbeiführung des Erfolges geschuldet ist. Daher kann der Fehlschlag der Behandlung auch in der Eigenart der Erkrankung liegen.

Im vorliegenden Fall war dies jedoch anders, da die Klägerin nicht nur den konkreten Ablauf der Behandlung kannte, sondern auch durch die Äußerung des Arztes in der nachbehandelnden Klinik wusste, dass der Beklagte vom ärztlichen Standard abgewichen war und dies aus seiner Sicht zu Schaden geführt hatte.

Der Senat stellte ferner klar, dass grundsätzlich allein ein Hinweis eines Nachbehandlers die erforderliche Kenntnis nicht zwingend herzustellen vermag; im vorliegenden Fall konnte die Klägerin jedoch aus dem ihr umfassend bekannten Behandlungsverlauf und der Aussage den Schluss ziehen, dass der Beklagte eine frühzeitigere weitere Diagnostik und Behandlung versäumt hatte und dass dies für ihren Schaden ursächlich war. Die Aussage des Nachbehandlers sei auch für ein einen Laien hinreichend verständlich gewesen, so dass die Klägerin gehalten war, bis zum Ende des Jahres 2013 tätig zu werden. Die erst am 10.04.2015 eingegangene Klage war daher nicht mehr in der Lage, die Verjährung noch zu hemmen.

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Ein vom Patienten gewünschtes behandlungsfehlerhaftes Vorgehen muss ein Arzt ablehnen

OLG Hamm, Urteil vom 26.4.2016 — Aktenzeichen: 26 U 116/14

Das OLG Hamm hat in einer aktuellen Entscheidung klargestellt, dass ein Arzt ein behandlungsfehlerhaftes Vorgehen ablehnen muss, selbst wenn der Patient dieses wünscht. Auch eine eingehende ärztliche Aufklärung über die möglichen Behandlungsfolgen legitimiert kein behandlungsfehlerhaftes Vorgehen.

Die Klägerin nahm den beklagten Zahnarzt wegen eines angeblichen Behandlungsfehlers auf Zahlung von Schmerzensgeld und Ersatz materieller Schäden in Anspruch. Im Streit stand insbesondere, ob die Behandlung fehlerhaft mit der Frontzahnsanierung begonnen wurde. Das Landegericht hatte auf Grund der Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen einen Behandlungsfehler festgestellt. Der Beklagte habe zwar ein richtiges Behandlungskonzept geplant, habe sich jedoch davon abbringen lassen, ohne die Klägerin hinreichend auf die Konsequenzen hinzuweisen. Überdies sei die vorliegende CMD (craniomandibuläre Dysfunktion)-Symptomatik nicht konsequent behandelt worden. Die definitive Eingliederung des Frontzahnersatzes ohne vorherige Herstellung eines therapeutischen Bisses sei als grober Behandlungsfehler zu bewerten.

Hiergegen wandte sich der Beklagte mit der Berufung: Es sei das zutreffende Behandlungskonzept ermittelt worden. Die Klägerin habe danach allerdings abweichend von diesem Konzept die vorrangige Behandlung des Frontzahnbereiches verlangt. Trotz nachfolgenden Hinweisen, dass zunächst eine vernünftige Bisslage und Bisshöhe durch eine Schienentherapie wiederhergestellt werden müsse, habe die Klägerin in einem weiteren Termin, bei dem die Unterkieferschiene eingesetzt worden sei, erklärt, sie wolle die Schienenbehandlung nicht abwarten. Die Klägerin habe auf die vorrangige Sanierung des Frontzahnbereiches bestanden. Diesem Verlangen sei der Beklagte nachfolgend gefolgt, da eine vorrangige Schienentherapie aus verschiedenen Gründen nicht (mehr) notwendig bzw. möglich gewesen sei.

Das OLG hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Nach erneuter Anhörung des gerichtlichen Sachverständigen hat es festgestellt, dass dem Beklagten frühzeitig im Behandlungsverlauf eine bei der Klägerin vorhandene CMD bekannt war, die zunächst durch eine Schienentherapie und Stabilisierung der Seitenzahnbereiche zu behandeln war. Die zunächst angedachte Frontzahnsanierung, für die ein Heil- und Kostenplan eingeholt worden war, habe deshalb zurückgestellt werden sollen. Gleichwohl habe der Beklagte dann nachfolgend die Schienentherapie nicht im gebotenen Umfang durchgeführt, sondern die Sanierung des Frontzahnbereiches vorgenommen. Der Beklagte habe damit eine nach den Feststellungen des Sachverständigen notwendige Schienentherapie nicht im erforderlichen Umfang durchgeführt. Jedenfalls sei die Schienentherapie keinesfalls lange genug durchgeführt worden. Die gleichwohl durchgeführte Frontzahnsarnierung sei daher zu früh vorgenommen worden.

Insbesondere könne der Beklagte sich nicht darauf berufen, dass die Vorziehung der Frontzahnsanierung von der Klägerin ausdrücklich verlangt worden sei. Auch bei Unterstellung eines solchen Verlangens ändere dies nichts daran, dass das verlangte Vorgehen gegen den medizinischen Standard verstieße und deshalb hätte abgelehnt werden müssen. Selbst wenn der Beklagte über die Risiken der vorgezogenen Behandlung des Frontzahnbereiches eindringlich belehrt hätte, ändere dies nichts an der Annahme eines zur Haftung führenden Behandlungsfehlers. Auch unter Berücksichtigung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten würde ein behandlungsfehlerhaftes Vorgehen nicht durch eine diesbezügliche umfassende Belehrung und eine trotzdem vom Patienten gewünschte derartige Behandlung legitimiert.

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Keine generelle Subsidiarität der Feststellungsklage

BGH, Urteil vom 19.4.2016 — Aktenzeichen: VI ZR 506/14

Eine Geschädigter muss nicht seine Klage in eine Leistungs- und in eine Feststellungsklage aufspalten, wenn bei Klageerhebung ein Teil des Schadens schon entstanden, die Entstehung weiteren Schadens aber noch zu erwarten ist. Einzelne bei Klageerhebung bereits entstandene Schadenspositionen stellen lediglich einen Schadensteil in diesem Sinne dar.

Im vom BGH entschiedenen Fall nahm der Kläger die dortige Beklagte wegen einer mangels hinreichender Aufklärung rechtswidrig vorgenommenen sectio, die bei ihm zu einer Schwerstbehinderung geführt hatte, auf Schmerzensgeld und Feststellung in Anspruch.

Im Berufungsverfahren hatte das Oberlandesgericht durch Teil-Grund- und -Endurteil entschieden, dass der Antrag auf Zahlung von Schmerzensgeld dem Grunde nach gerechtfertigt sei. Ferner stellte es fest, die Beklagte sei verpflichtet, dem Kläger sämtliche im Zeitpunkt der Klageerhebung noch nicht bezifferbaren oder in der Fortentwicklung befindlichen sowie zukünftigen materiellen Schäden zu ersetzen. Im Übrigen wies es wegen des weitergehenden Feststellungsantrags die Klage ab und die Berufung des Klägers zurück aufgrund des Vorrangs der Leistungsklage bzgl. bereits bezifferbarer Schäden.

Demgegenüber hat der BGH im Revisionsverfahren den umfassenden Feststellungantrag des Klägers, auch soweit dieser bereits bezifferbare Schadenspositionen aus der Vergangenheit umfasst, zuerkannt.

Der Kläger sei grundsätzlich nicht gehalten, seine Klage in eine Leistungs- und eine Feststellungsklage aufzuspalten, wenn bei Klageerhebung ein Teil des Schadens schon entstanden, die Entstehung weiteren Schadens aber noch zu erwarten sei. Zwar fehle grundsätzlich das Feststellungsinteresse, wenn der Kläger dasselbe Ziel mit einer Klage auf Leistung erreichen könne. Es bestehe jedoch keine allgemeine Subsidiarität der Feststellungsklage gegenüber der Leistungsklage. Vielmehr sei eine Feststellungsklage trotz der Möglichkeit, Leistungsklage zu erheben, zulässig, wenn die Durchführung des Feststellungsverfahrens unter dem Gesichtspunkt der Prozesswirtschaftlichkeit zu einer sinnvollen und sachgemäßen Erledigung der aufgetretenen Streitpunkte führe. Wenn eine Schadensentwicklung noch nicht abgeschlossen sei, könne daher der Kläger in vollem Umfang Feststellung der Ersatzpflicht begehren.

Diese Voraussetzungen — so der BGH — seien im konkreten Fall gegeben, so dass die vom Berufungsgericht vorgenommen teilweise Abweisung des Feststellungantrags zu korrigieren sei.

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Kompetenzüberschreitung eines Rettungssanitäters

KG Berlin, Urteil vom 19.5.2016 — Aktenzeichen: 20 U 122/15

Leitsatz
Wird der Rettungssanitäter für die Feuerwehr tätig, richtet sich die Haftung nach Amtshaftungsgrundsätzen.

Sachverhalt
Der Kläger kontaktierte wegen erheblicher Atembeschwerden und Schmerzen im Brustbereich die Berliner Feuerwehr. Zwei Rettungsassistenten stellten Pulsfrequenz, Blutdruck und Sauerstoffsättigung fest sowie einen atem- und bewegungsabhängigen Intercostalschmerz. Sie stellten ferner fest, dass die „Pulmo“ des Klägers beidseits gut belüftet und frei von „RGS“ sei. Die Rettungsassistenten beließen den Kläger zu Hause und verwiesen ihn an seinen Hausarzt, der ihn wenige Stunden später wegen des Verdachts auf Herzinfarkt in ein Krankenhaus einliefern ließ, wo die Diagnose Bestätigung fand. Während einer Herzkatheter-Untersuchung erlitt der Kläger einen Schlaganfall.

Er hat vor dem Landgericht ein Schmerzensgeld in Höhe von 10.000,00 € begehrt. Das Landgericht hat der Klage stattgegeben.

Entscheidung
Der Kammergerichtssenat bestätigte das Urteil.

Nach Auffassung des KG Berlin richtet sich die Haftung nach § 839 BGB i.V.m. Artikel 34 GG. Die rettungsdienstlichen Aufgaben sind sowohl im Ganzen als auch im Einzelfall der hoheitlichen Betätigung zuzurechnen.

Nach Auffassung des Kammergerichts haben die Rettungsassistenten auch fahrlässig ihre gegenüber dem Kläger obliegenden Amtspflichten verletzt, weil sie ihre Kompetenzen überschritten haben.

Aufgabe der sogenannten Notrettung ist es, das Leben oder die Gesundheit von Notfallpatienten zu erhalten, sie transportfähig zu machen und sie unter fachgerechter Betreuung in eine für weitere Versorgung geeignete Einrichtung zu befördern, was sich auch aus dem Berliner Rettungsdienstgesetz ergibt.

Die eigentliche fachliche Versorgung und die abschließende Diagnosestellung fallen grundsätzlich nicht in den Aufgabenbereich des Rettungsdienstes. Die im konkreten Fall vorgenommene Einordnung der Beschwerden als Intercostalschmerzen war pflichtwidrig. Völlig unabhängig davon, ob die Einschätzung im Ergebnis richtig oder falsch war, durften die Rettungsassistenten den Kläger nicht als Nicht-Notfall-Patienten ansehen; es war ihre Aufgabe, ihn einer umgehenden ärztlichen Abklärung zuzuführen. Denn nach der Beweisaufnahme stand fest, dass der Kläger nicht nur von Schmerzen im Brustbereich, sondern auch von einem Engegefühl und Atemnot berichtet hatte. Unabhängig davon, dass Rettungssanitätern nicht grundsätzlich ihre Fachkenntnis oder die Fähigkeit zu einer medizinischen Beurteilung abgesprochen werden soll, war im vorliegenden Fall der geschilderten Brustschmerzen der konkrete Fall einer medizinischen Diagnosestellung durch einen Arzt zuzuführen.

Im vorliegenden Fall hatten die Rettungssanitäter jedoch durch ihre Einordnung der Schmerzen als Intercostalschmerzen selbst eine Diagnosestellung vorgenommen, die eine Beteiligung von Herz und Lunge ausschloss.

Da das Kammergericht die Kompetenzüberschreitung auch als grob fehlerhaft bewertete, kam dem Kläger auch im Rahmen des Ursachenzusammenhangs eine Beweislastumkehr zugute. Das Kammergericht hielt ausdrücklich fest, dass die Regeln zur Beweislastumkehr bei groben Behandlungsfehlern auch im Amtshaftungsbereich ihre Anwendung finden.

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Alternativaufklärung beim Zahnarzt

OLG Hamm, Urteil vom 19.4.2016 — Aktenzeichen: 26 U 199/15

Sachverhalt
Im Juli 2013 führte der Beklagte beim Kläger wegen starker Schmerzen eine Neuverplombung zweier Zähne im Unterkiefer durch. Zur Betäubung des Klägers setzte der Beklagte eine Leitungsanästhesie ein.

Der Kläger machte geltend, der Beklagte habe durch das Setzen der Spritze den nervus lingualis verletzt, was zu erheblichen Zungengefühlsstörungen in Form permanenter Gefühllosigkeit des Zungenbereichs geführt habe; über ein solches Risiko sei er nicht aufgeklärt worden.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, weil es keinen Behandlungsfehler feststellen konnte.

Entscheidung
Das OLG Hamm hat das Urteil abgeändert und dem Kläger ein Schmerzensgeld zugesprochen.

Grundlage hierfür waren jedoch nicht die Behandlungsfehlervorwürfe des Klägers, die sich nicht bestätigt hatten, sondern die Feststellung, dass die gesamte Behandlung mangels wirksamer Einwilligung des Klägers rechtswidrig gewesen sei.

Unabhängig davon, ob der Kläger über das Risiko einer Nervverletzung aufgeklärt worden ist, haftet der Beklagte nach Auffassung des OLG Hamm schon deshalb, weil er über eine echte Behandlungsalternative nicht aufgeklärt hat.

Nach Auffassung des OLG Hamm standen sich im vorliegenden Fall zwei Behandlungsmethoden mit unterschiedlichen Chancen und Risiken gegenüber.

Die Leitungsanästhesie habe den Vorteil, dass sie vergleichsweise schnell durchgeführt werden könne, wobei sich als gravierender Nachteil die Gefahr von (wenn auch sehr seltenen) Nervenverletzungen zeige; darüber hinaus bestehe die Möglichkeit eines verzögerten Wirkungseintritts von zwei Minuten und länger, eines von ein bis zu vier Stunden anhaltenden Taubheitsgefühls, das Risiko selbst beigebrachter Bissverletzungen und eine Versagerquote von bis zu 20 % für den Unterkiefer.

Dem gegenüber habe die ligamentäre Anästhesie den Vorteil, dass es unmöglich sei, hierbei eine Nervverletzung zu verursachen, und dass ein Taubheitsgefühl schon nach 30-45 Minuten wieder nachlasse. Der Nachteil der ligamentären Anästhesie liege jedoch darin, dass es zu einer Aufbissempfindlichkeit des betäubten Zahnes bis zu 24 Stunden, Schleimhautnekrose und zu Nekrosen der Interdentalpapille kommen könne.

Das OLG hielt fest, dass jedenfalls zum Zeitpunkt der Behandlung die ligamentäre Anästhesie soweit in der ambulanten medizinischen Praxis angekommen war, dass sie zum medizinischen Standard gehörte. Infolgedessen war sie aufklärungspflichtig; zwar sei die Wahl der Behandlungsmethode primär Sache des Arztes. Diese Wahl ist allerdings eingeschränkt, wenn sich mehrere medizinisch gleichermaßen indizierte Behandlungsmethoden gegenüberstehen, die wesentliche Unterschiede und Risiken und Erfolgschancen aufweisen.

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