Keine Nutzungsausfallentschädigung für Porsche bei mittelklassigem Zweitwagen

Michael PeusMichael Peus

OLG Frankfurt, Urt. v. 21.07.2022 – 11 U 7/21

 

Leitsatz (amtlich)

Einem Unfallgeschädigten steht während der Reparaturzeit eines beschädigten Porsche keine Nutzungsausfallentschädigung zu, wenn ihm ein Ford als Zweitfahrzeug zur Verfügung steht; auf eine Einschränkung des Fahrvergnügens kann er sich nicht berufen.

 

Sachverhalt

Der Kläger verlangt von den Beklagten Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall. Hierbei wurde der Porsche 911 des Klägers beschädigt. Die Haftung ist unstreitig.

Er führte aus, er habe seinen Porsche für 112 Tage nicht nutzen können. Nutzungswille und subjektive Nutzungsmöglichkeit hätten bestanden. Die Nutzung eines anderen Fahrzeugs sei für ihn nicht zumutbar. Er habe zwar noch vier andere Fahrzeuge, jedoch würden zwei von Familienmitgliedern genutzt, bei dem dritten handele es sich um einen BMW (Rennfahrzeug), das für Rennen ausgestattet sei und ihm daher die Nutzung im normalen Verkehr nicht zumutbar sei. Das vierte Fahrzeug (Ford Mondeo, Baujahr 2014) werde von der ganzen Familie lediglich für Lasten- und Urlaubsfahrten genutzt. Für Fahrten zur Arbeit und Privatfahrten habe ihm nur der Porsche zur Verfügung gestanden. Dieser habe gänzlich andere Eigenschaften als der für den Stadtverkehr zu sperrige Ford.

Das Landgericht führte aus, dass dem Kläger kein Anspruch auf Vorhaltekosten zustünde. Der Ford sei gerade nicht angeschafft worden, um fremdverschuldete Ausfälle auszugleichen, sondern für Lasten- und Urlaubsfahrten. Er habe auch keinen Anspruch auf eine Nutzungsausfallentschädigung, da er über ein anderes Fahrzeug, den Ford, verfüge und ihm dessen Einsatz möglich und zumutbar sei. Hierbei handele es sich um ein Fahrzeug der Mittelklasse und auch die Sperrigkeit führe nicht zur Untauglichkeit für den städtischen Bereich.

Dies stellte der Kläger zur Überprüfung durch die Berufungsinstanz.

 

Entscheidung

Die Berufung hatte zu den Fragen des Nutzungsausfalls und der Vorhaltekosten keinen Erfolg.

Vorhaltekosten sind Kosten, die entstehen, wenn zusätzlich zu den benötigten Fahrzeugen, weitere Fahrzeuge angeschafft werden, um im Falle der Beschädigung eines Fahrzeugs einen Ausfall des Fahrbetriebs zu vermeiden. Davon umfasst ist der betriebliche Aufwand für die Fahrzeuganschaffung, Kosten des Kapitaldienstes und des Unterhalts und der Wertverlust. Werden Vorhaltekosten geltend gemacht, ist eine Nutzungsausfallentschädigung grds. nicht geschuldet.

Im vorliegenden Fall habe der Kläger auch faktisch keine Erstattung von Vorhaltekosten begehrt, sondern wollte vielmehr eine Nutzungsausfallentschädigung geltend machen. Er trug keine Kosten für z.B. Anschaffung, Versicherung oder Unterhaltung für den Ford vor, sondern machte geltend, dass dieses Fahrzeug als Lasten- und Urlaubsfahrzeug angeschafft worden sei.

Dem Kläger steht auch kein Anspruch auf Nutzungsausfallentschädigung zu. Der Anspruch auf Nutzungsausfallentschädigung besteht nicht, wenn bei bestehendem Nutzungswillen ein Zweitwagen vorhanden ist und dessen Nutzung möglich und zumutbar ist.

Dem Kläger stand der Ford zur Verfügung. Trotz der von dem Kläger bemängelten Untauglichkeit für den städtischen Bereich aufgrund der „Sperrigkeit“, handelt es sich um ein Mittelklassefahrzeug, das für die Fahrten zur Arbeit und für private Fahrten eingesetzt werden kann. Auch wenn es sich bei dem Porsche um einen Sportwagen handelt, führt dies nicht zu einer Unzumutbarkeit der Nutzung des Fords. Die Nutzung des Fords anstelle des Porsches führt nur zu einer Beeinträchtigung des Fahrvergnügens, das als subjektive Wertschätzung eine immaterielle und damit nicht zu ersetzende Beeinträchtigung darstellt. Der objektive Schaden, die Verfügbarkeit des Porsches für Fahrten zur Arbeit und privaten Fahrten wird mit der Nutzungsmöglichkeit des Fords ausgeglichen.

Nutzungsersatz kann nur für eine vermögensmehrende, erwerbswirtschaftliche Verwendung der Sache (hier des Fahrzeugs als Fortbewegungsmittel) als Wirtschaftsgut mit vergleichbarem eigenwirtschaftlichem und vermögensmäßig erfassbarem Einsatz zugesprochen werden, dessen Funktionsstörung sich auf die materielle Grundlage der Lebenshaltung signifikant auswirkt. Sonst bestünde die Gefahr, dass die Ersatzpflicht auch auf Nichtvermögensschäden ausgedehnt wird. Dies wäre mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit und der Berechenbarkeit des Schadens nicht zu vereinbaren.

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Teilungsabkommen: Auslegungsgrundsätze zur Frage der Kausalität

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

OLG Bamberg, Urteil vom 21.3.2023, Az.: 5 U 54/22

 

Sachverhalt

Die Klägerin, eine gesetzliche Krankenkasse, verlangt – gestützt auf ein zwischen ihr und der Beklagten abgeschlossene Rahmen-Teilungsabkommen (TA) von der Beklagten zu 1), einem Kfz-Haftpflichtversicherer, 55 % der Aufwendungen, die ihr aus Anlass eines Unfalls der bei ihr Versicherten entstanden sind sowie Feststellung der Ersatzpflicht für weitere Aufwendungen in Höhe von 55 %. Zu dem Verkehrsunfall kam es, weil der Fahrer des bei der Beklagten haftpflichtversicherten Fahrzeugs auf das verkehrsbedingt anhaltende Fahrzeug, das von der Versicherten geführt wurde, auffuhr. Die maßgeblichen Regelungen des Teilungsabkommens lauten:

§ 1a
(1) Erhebt eine diesem Abkommen beigetretene Betriebskrankenkasse („K“) Schadensersatzansprüche nach § 116 SGB X gegen Kraftfahrzeughalter und -führer, die aus dem Schadenfall bei der „H“ Versicherungsschutz genießen, so erstattet die „H“ der „K“ ohne Prüfung der Haftungsfrage namens der haftpflichtversicherten Personen im Rahmen des bestehenden Haftpflichtversicherungsvertrages und nach Maßgabe der nachstehenden Bestimmungen 55 % ihrer anlässlich des Schadensfalls aufgrund Gesetzes erwachsenen Aufwendungen.
(2) Eigenes Verschulden des Geschädigten oder das Vorliegen eines unabwendbaren Ereignisses (§ 7 Abs. 2 StVG) schließt die Erstattungspflicht der „H“ nicht aus.
(3) Voraussetzung für die abkommensgemäße Beteiligung ist jedoch das Bestehen eines adäquaten Kausalzusammenhangs zwischen dem Gebrauch des Kraftfahrzeuges und dem Eintritt des Schadenfalles.

§ 2
Die Aufwendungen der „K‟ unterliegen der Erstattung nach §§ 1a und 1b nur insoweit und solange, als sie sich mit dem sachlich und zeitlich kongruenten Schaden des Verletzten decken (Übergang nach § 116 SGB X).

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass nach dem Teilungsabkommen die Klägerin den erforderlichen Kausalzusammenhang zwischen der diagnostizierten Verletzung und dem Unfall zu beweisen habe (haftungsausfüllende Kausalität).

 

Entscheidung

Die Berufung der Klägerin hatte nach Ansicht des OLG Erfolg: Entgegen der Ansicht des Landgerichts ist das TA nicht dahingehend auszulegen, dass der Eintritt des adäquat kausalen Schadensfalls den Nachweis einer unfallbedingten Verletzung der Versicherten erfordert. Das TA ist dahingehend auszulegen, dass ein Verzicht auf die Prüfung der Haftungsfrage vereinbart wurde, von dem auch der Nachweis des Ursachenzusammenhangs zwischen Unfallereignis und Verletzung umfasst ist.

Im Streitfall ist nach § 1a Abs. 3 TA Voraussetzung für die Anwendung des Teilungsabkommens der adäquate Kausalzusammenhang zwischen „dem Schadenfall und dem Gebrauch eines Kraftfahrzeugs‟.. Der in § 1a Abs. 3 TA genannte Zusammenhang ist gegeben. Das bei der Beklagten zu 1) versicherte Fahrzeug fuhr auf das verkehrsbedingt stehen gebliebene Fahrzeug der Versicherten auf. Ein solcher Verkehrsvorgang liegt auch nicht außerhalb der allgemeinen Verkehrserfahrung, sondern ist typisch. Die Parteien haben mit dieser Regelung und der Begrenzung auf adäquat kausale Schadenfälle offensichtlich die „Groteskfälle“ von der Erstattungspflicht ausgenommen. Dabei handelt es sich um Fälle, die schon aufgrund des unstreitigen Sachverhalts unzweifelhaft und offensichtlich eine Schadensersatzpflicht des Versicherungsnehmers nicht hervorrufen können und daher gemäß § 242 BGB von der Erstattungspflicht ausgenommen sind (BGH NJW 1956, 1237).

Zu Regelungen im Sinne des § 1a Abs. 2 TA – unabwendbares Ereignis – hat der BGH mit Urteil vom 23.09.1963, Az.: II ZR 118/60 bereits entschieden, dass durch den im Teilungsabkommen vereinbarten Verzicht auf die Prüfung der Haftungsfrage nach dem Willen der Vertragsschließenden auch ein auf § 7 Abs. 2 StVG wegen eines unabwendbaren Ereignisses gestützter Einwand des Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherers ausgeschlossen sein soll

Die Regelung in § 2 TA beinhaltet ebenfalls keine Einschränkung des Verzichts auf die Prüfung der Haftungsfrage bzw. einer Kausalität im obigen Sinne. Denn danach unterliegen die Aufwendungen der Klägerin der Erstattung nach §§ 1a und 1b nur insoweit und so lange, als sie sich mit dem sachlich und zeitlich kongruenten Schaden des Verletzten decken (Übergang nach §§ 116 SGB X). Dies ist so zu verstehen, dass damit der Einwand der mangelnden zivilrechtlichen Übergangsfähigkeit behandelt wird. Dies betrifft weder die Haftungsfrage noch die Deckungsfrage, sondern die Frage, ob der Sozialversicherungsträger gemäß § 116 SGB X zur Geltendmachung des Anspruchs des Geschädigten berechtigt ist.

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Verkehrssicherungspflicht IV: Abstehende Schrauben am Handlauf sind eine Gefahrenquelle

Michael PeusMichael Peus

OLG Hamm, Urt. v. 09.02.2022 – 11 U 71/21

 

Leitsatz (amtlich)

Aus dem Handlauf einer Brücke für den Fußgänger- und Radverkehr hervorstehende, scharfkantige Schraubenköpfe können eine abhilfebedürftige Gefahrenquelle darstellen.

 

Sachverhalt

Der Kläger verlangt von der Beklagten aufgrund einer Verletzung der Verkehrssicherungspflicht Schmerzensgeld.

Der Kläger fuhr mit dem Fahrrad über eine von der Beklagten unterhaltenen Radfahrer- und Fußgänger-Brücke, die einen Handlauf mit hervorstehenden, scharfkantigen Schraubenköpfen aufwies. Als er auf der Brücke anhielt, fasste er mit der Hand an das Brückengeländer. Dabei zog er sich eine Schnittwunde am rechten Handballen zu.

Die Beklagte lässt die Verkehrssicherheit der Brücke regelmäßig kontrollieren. Der hierfür zuständige Zeuge E vermerkte jedoch, diese sei in Ordnung gewesen.

 

Entscheidung

Dem Kläger steht ein Anspruch auf Schmerzensgeld i.H.v. 200,00€ gem. § 839 Abs. 1 S. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG, §§ 9, 9a, 47 StrWG zu. Die Beklagte hat die Brücke nicht verkehrssicher gehalten und dadurch schuldhaft ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt. Vorliegend stellte der Handlauf der Brücke eine abhilfebedürftige Gefahrenquelle dar. Der Handlauf wies mehrere herausstehende, scharfkantige Schrauben auf, an denen sich Verkehrsteilnehmer, die sich an dem Handlauf festhielten verletzen konnten. Gewidmet ist die Brücke dem allgemeinen Fußgänger- und Radverkehr. Das Festhalten an dem Handlauf und das darüberstreichen u.a. älterer Leute und Kindern gehört zum normalen Gebrauch. Hiermit musste der Verkehrssicherungspflichtige auch rechnen.

Die Beklagte verletzte ihre Verkehrssicherungspflicht dadurch, dass sie die herausragenden Schrauben nicht beseitigte oder zumindest aufgrund der anstehenden Sanierung der Brücke vor diesen warnte.

Die Beklagte ließ die Verkehrssicherheit der Brücke zwar durch den Zeugen E kontrollieren, jedoch vermerkte dieser im Kontrollbuch, dass die Brücke in Ordnung gewesen sei und gab an, er habe keine konkrete Erinnerung mehr an den Zustand der Brücke und würde bei solchen Kontrollen vorwiegend den Geh- und Fahrbereich zu kontrollieren. Die hervorstehenden Schrauben hätte er jedoch als Gefahrenstelle gemeldet, wenn er sie gesehen hätte.

Dies spricht dafür, dass der Zeuge die scharfkantigen Schrauben am Handlauf fahrlässig übersah. Hierfür hat die Beklagte aufgrund der Amtshaftung einzustehen.

Hinsichtlich der Bemessung des Schmerzensgeldes ist dem Kläger ein Mitverschulden i.H.v. einem Drittel anzulasten, § 254 Abs. 1 BGB. Die Schrauben waren bei näherer Betrachtung erkennbar. Daher hätte auch damit gerechnet werden müssen, dass diese scharfkantig sein könnten. Grds. ist mit solch einer Gefahrenstelle zwar nicht zu rechnen, der Kläger konnte jedoch die Oberseite des Handlaufes sehen und die Schrauben bemerken.

Nach der Kürzung des Anspruchs aufgrund des Mitverschuldens des Klägers verbleibt ein Anspruch auf Schmerzensgeld i.H.v. 200,00€.

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Verkehrssicherungspflicht III: Absicherung von Gefahrenstellen in Privatwohnungen

Michael PeusMichael Peus

OLG Hamm, Beschl. v. 25.04.2022 – 11 W 15/22

 

Leitsatz (amtlich)

Ein Handwerker ist bei Bauarbeiten in einer privaten Wohnung unter dem Gesichtspunkt der Verkehrssicherungspflicht nicht verantwortlich, wenn der Mieter die Wohnung während der Arbeiten abredewidrig betritt und dann aufgrund einer durch die Arbeiten bedingten, von ihm nicht erkannten Gefahrenstelle zu Schaden kommt.

 

Sachverhalt

Die Antragstellerin ist Mieterin einer Wohnung. Im Zuge von durchzuführenden Renovierungsarbeiten in ihrer Wohnung vereinbarte sie einvernehmlich mit ihrem Vermieter, die Wohnung zum Zwecke der Durchführung der Bauarbeiten vorübergehend zu verlassen und sie währenddessen auch nicht aufzusuchen.

Als die Antragstellerin die Wohnung am Unfalltag während der noch stattfindenden Arbeiten betrat, stürzte sie aufgrund des im Zuge der Arbeiten bis zur Rigipsdecke der unteren Wohnung geöffneten Fußbodens in der Küche und verletzte sich. Die Gefahrenstelle war weder abgesperrt, noch anderweitig abgesichert. Sie behauptet, ein Bauarbeiter habe sie aufgrund ihres kurzen Grußes beim Betreten der Wohnung bemerkt, ihr jedoch keine weiteren Hinweise zu den Bauarbeiten mitgeteilt.

Die Antragstellerin möchte klageweise Schadensersatzansprüche gegen die Handwerker, die die Arbeiten durchführten, geltend machen. Hierzu beantragt sie Prozesskostenhilfe, die jedoch vom Landgericht versagt wurde. Hiergegen wendet sie sich nun mit der sofortigen Beschwerde.

 

Entscheidung

Die sofortige Beschwerde ist unbegründet.

Die Antragstellerin hat mangels Verkehrssicherungspflichtverletzung keinen Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB gegen die Antragsgegner. Andere Ansprüche kommen nicht in Betracht. Zwischen den Parteien bestand kein Vertragsverhältnis und aus dem Werkvertrag und nach den Grundsätzen des Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter ergeben sich für die Antragstellerin auch keine Ansprüche. Hierfür fehlt es schon an dem Kriterium der Leistungsnähe, denn die Antragstellerin konnte mit den Leistungen der Handwerker gar nicht in Berührung kommen, denn sie sollte die Wohnung während der Arbeiten nicht nutzen oder betreten.

Das Prozesskostenhilfegesuch kann jedoch nicht aufgrund eines anspruchsausschließenden Mitverschuldens gem. § 254 BGB versagt werden, wie das Landgericht zuvor annahm. Die Haftung aufgrund einer Verkehrssicherungspflichtverletzung entfällt nicht schon dann, wenn der Geschädigte bei gebotener Sorgfalt die Gefahrenstelle hätte erkennen und sich hierauf einstellen können, denn damit würde die haftungsrechtliche Gesamtverantwortung allein den Geschädigten treffen, auch wenn der Verkehrssicherungspflichtige die Ursache für den Schaden gesetzt hat. Dies widerspräche dem Schutzzweck der Verkehrssicherungspflicht. Ein haftungsausschließendes Mitverschulden kann daher nur angenommen werden, wenn der Geschädigte in einer unverständlichen Weise besonders sorglos handelt. Dies liegt im vorliegenden Fall nicht nahe.

Hier fehlt es jedoch bereits an einer Verkehrssicherungspflichtverletzung.

Der Antragsgegner war schon nicht verpflichtet, die Gefahrenstelle abzusichern, denn die Arbeiten fanden in einer Privatwohnung statt und für die beteiligten Bauarbeiter war die Gefahrenstelle, die im Übrigen nicht betreten werden konnte und durfte, offensichtlich. Mit Personen, die die Wohnung betreten würden und sich der Gefahrenstelle nicht bewusst waren, insb. den Mietern, die die Wohnung vorübergehend verlassen hatten und sie auch nicht aufsuchen sollten, musste er nicht rechnen. Auch daraus, dass die Antragstellerin trotzdem die Wohnung betrat, entsteht keine Verkehrssicherungspflicht. Sie war ortskundig und für sie waren die Arbeiten in der Wohnung offensichtlich. Mit Personen, die die Wohnung betreten und die mit der Gefahrenstelle nicht umgehen können, brauchte der Antragsgegner nicht zu rechnen. Auch war er nicht verpflichtet, der Antragstellerin Hinweise zu den Bauarbeiten mitzuteilen, vielmehr durfte er davon ausgehen, dass sich die Antragstellerin auf die offensichtlichen Bauarbeiten einstellen und sich ggfs. danach erkundigen würde. Die Antragstellerin als Mieterin konnte als Ortskundige feststellen, welcher Bereich der Wohnung von den Bauarbeiten betroffen war und dass dieser wohlmöglich nur nach vorheriger Abstimmung mit den Handwerkern betreten werden kann.

Der Antrag auf Prozesskostenhilfe war daher schon aufgrund einer fehlenden haftungsbegründenden Verkehrssicherungspflichtverletzung des Antragsgegners zu versagen.

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Arbeitsunfall als Voraussetzung der §§ 104 ff. SGB VII: Kaffeeholen im Betrieb

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 7.2.2023, Az.: L 3 U 202/21

 

Leitsätze

1. Das Zurücklegen des Weges zum Holen eines Kaffees im Betriebsgebäude des Arbeitgebers steht im inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit.

2. Ein grundsätzlich versicherter Weg in der Sphäre des Arbeitgebers wird nicht durch die Tür des Raumes begrenzt, in dem der Getränkeautomat steht.

 

Sachverhalt

Die Klägerin ist als Verwaltungsangestellte beschäftigt und im Finanzamt D. tätig. Auf dem Weg zum Kaffeeholen im Sozialraum des Finanzamtes während ihrer Arbeit rutschte sie wegen nasser Bodenoberfläche aus und zog sich unter anderem einen Bruch des dritten Lendenwirbelkörpers zu. Sie klagt auf Anerkennung des Unfalls als Arbeitsunfalls, was ihr Arbeitgeber ihr verweigert hat.

 

Entscheidung

Das LSG führt aus: Zu unterscheiden ist zwischen Unfällen auf dem Wege zur Nahrungseinnahme und Unfällen, die sich bei der Nahrungsaufnahme selbst ereignen. Die Nahrungsaufnahme selbst ist grundsätzlich nicht in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert (stRsp, vgl. BSG, Urteil vom 31. März 2022 – B 2 U 5/20 R). Die Nahrungsaufnahme ist vielmehr dem privaten, unversicherten Lebensbereich zuzurechnen. Anders verhält es sich mit dem Weg, der im Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme bzw. mit dem Besorgen der Nahrung zurückgelegt werden muss. Das Zurücklegen eines Weges durch einen Beschäftigten mit der Handlungstendenz, sich an einem vom Ort der Tätigkeit verschiedenen Ort Nahrungsmittel zu besorgen oder einzunehmen, ist grundsätzlich versichert (vgl. BSG, Urteil vom 5. Juli 2016 – B 2 U 5/15 R) und zwar unabhängig davon, ob der Weg auf dem Betriebsgelände zurückgelegt wird oder den Versicherten von diesem herunter durch den öffentlichen Verkehrsraum (etwa zu einer Gaststätte, der eigenen Wohnung oder zu einem Kiosk/Lebensmittelgeschäft) führt. Zum einen dient die beabsichtigte Nahrungsaufnahme während der Arbeitszeit im Gegensatz zur bloßen Vorbereitungshandlung vor der Arbeit der Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit und damit der Fortsetzung der betrieblichen Tätigkeit. Zum anderen handelt es sich um einen Weg, der in seinem Ausgangs- und Zielpunkt durch die Notwendigkeit geprägt ist, persönlich im Beschäftigungsbetrieb anwesend zu sein und dort betriebliche Tätigkeiten zu verrichten.

Insbesondere die Rechtsprechung des BSG zur Außentür eines Gebäudes als Grenze des Versicherungsschutzes für versicherte Wege könne in Fallkonstellationen, in denen ein Versicherter innerhalb des Betriebsgebäudes einen Weg zu einem Lebensmittel- / Getränke- oder Kaffeemünzautomaten bzw. zu einem vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Wasserspender zurücklegt nicht übertragen werden. Zwar endet der Versicherungsschutz auf dem Hinweg und auf dem Rückweg jeweils an der Außentür des Gebäudes der Kantine bzw. der Gaststätte oder des Lebensmittelgeschäfts oder des Einkaufszentrums endet bzw. wiederbeginnt er dort. Der Versicherungsschutz erstreckt sich somit nicht auf Unfälle auf Wegen in dem Gebäude, in dem zum Beispiel die Wohnung, die Gaststätte, das Einzelhandelsgeschäft oder das Einkaufszentrum liegt (vgl etwa BSG, Urteil vom 24. Juni 2003 – B 2 U 24/02 R). Hier hatte die Geschädigte das Gebäude des Arbeitgebers jedoch nicht verlassen. Das BSG hat ausdrücklich entschieden, dass die für Betriebswege aufgezeigte Grenzziehung durch die Außentür des Wohngebäudes nicht greift, wenn sich etwa sowohl die Wohnung des Versicherten als auch seine Arbeitsstätte im selben Haus befinden und wenn der Betriebsweg in Ausführung der versicherten Tätigkeit zurückgelegt wird (BSG, 31.8.2017, Az.: B 2 U 9/16 R). Außerdem hat das BSG zahlreiche Ausnahmen vom obigen Grundsatz erwogen, erwogen etwa im Fall eines sogenannten „Frühstücksholers“, der im Auftrag des Unternehmers das Frühstück einkauft und sich aufgrund dieses Auftrags auf einem Betriebsweg befindet). Ebenso, wenn die Nahrungsaufnahme selbst ausnahmsweise versichert ist, wenn besondere (betriebliche) Umstände den Versicherten veranlassen, dort seine Mahlzeit einzunehmen (BSG, Urteil vom 24. Juni 2003 – B 2 U 24/02 R).

Gleichsam wie in diesen Fällen war im vorliegenden Fall die entscheidende objektive Handlungstendenz zum Holen eines Kaffees durch die Notwendigkeit geprägt, persönlich im Beschäftigungsbetrieb anwesend zu sein und dort betriebliche Tätigkeiten zu verrichten.

 

Anmerkung: Liegt ein Arbeitsunfall demnach vor, kann sich der Arbeitgeber bzw. dessen Haftpflichtversicherer bei einem Regress des SVT auf die Haftungsprivilegien der §§ 104 ff. SGB VII berufen. Somit sind die im Urteil übersichtlich zusammengefassten Grundsätze zur Annahme eines Arbeitsunfalles auch für Haftungsfälle allgemein relevant.

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Verkehrssicherungspflicht II: Gullydeckel sind grds. keine Gefahrenquelle

Michael PeusMichael Peus

OLG Hamm, Beschl. v. 08.04.2022 – 11 U 147/21

 

Leitsatz (amtlich)

Ein Straßenablaufdeckel am Fahrbahnrand in der Nähe eines Fußgängerüberwegs, dessen Schlitzbreite den gültigen DIN entspricht, stellt keine abhilfebedürftige Gefahrenstelle dar, wenn er für Fußgänger durch einen beiläufigen Blick unschwer erkennbar ist, so dass er vorsichtig betreten oder ihm ausgewichen werden kann.

 

Sachverhalt

Die Klägerin verfolgt Schadensersatzansprüche wegen der Verletzung bei einem Sturz auf einer Gemeindestraße. Sie trägt vor, beim Überqueren der Straße über eine Kanalabdeckung gefallen zu sein. Die Kanalabdeckung befindet sich im Bereich eines hohen Bordsteins und besteht aus mehreren, breiten Metallstreben, die etwa 3-4cm Abstand zueinander haben und senkrecht zur Fahrtrichtung verlaufen.

Nach DIN EN 124, DIN 1229 und DIN 19583 dürfen Gullydeckel im Straßenbereich mit vorwiegender Beanspruchung durch Straßenfahrzeuge eine Schlitzbreite von 16-42mm (bei Schlitzen, die quer zur Fahrtrichtung verlaufen) haben.

Die Klägerin vertritt die Ansicht, die Kanalabdeckung verstoße gegen die GUV-I 588 Richtlinie der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung.

Das Landgericht wies die Klage ab. Die Beklagte treffe schon keine Verkehrssicherungspflichtverletzung.

 

Entscheidung

Die Klägerin hat keine Schmerzensgeld- oder Schadensersatzansprüche gem. § 839 Abs. 1 S. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG, §§ 9, 9a, 47 Abs. 1 StrWG NRW gegen die beklagte Stadt.

  1. Die beklagte Stadt ist als Straßenbaulastträgerin passivlegitimiert.
  2. Auch wenn die Klägerin zunächst behauptete, die Abstände zwischen den Gittern entsprächen nicht den DIN-Normen, ist das falsch. Die Gitterabstände sind DIN-konform.
  3. Die Richtlinie der Deutschen gesetzlichen Unfallversicherung GUV-I 588 ist nicht anwendbar. Diese enthält Empfehlungen für die Gestaltung hochgelegter gewerblicher und industrieller Arbeitsplätze und Verkehrswege mit Metallgittern- und Blechrostprofilen. Diese Anforderungen sind jedoch nicht auf Kanaldeckel im öffentlichen Straßenverkehr übertragbar.
  4. Eine haftungsbegründende Amtspflichtverletzung der Beklagten lässt sich auch nicht aufgrund der allgemeinen Grundsätze der Verkehrssicherung Hiernach haben sie für die Sicherheit für die in ihren Verantwortungsbereich fallenden Gebietskörperschaften zu sorgen. Es muss darauf hingewirkt werden, dass die Verkehrsteilnehmer möglichst nicht zu Schaden kommen. Diese Pflicht geht jedoch nicht so weit, dass der Verkehrssicherungspflichtige für alle Möglichkeiten Vorsorge zu treffen hat, denn dies ist schlicht unmöglich. Der Umfang der Verkehrssicherungspflicht beurteilt sich nach der Art des Verkehrs einer Verkehrsfläche nach ihrem Befund unter Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse, der die allgemeine Verkehrsfläche gewidmet ist und danach, was ein vernünftiger Verkehrsteilnehmer an Sicherheit erwarten kann. Grds. haben die Verkehrsteilnehmer die Verhältnisse, die sie vorfinden hinzunehmen, sich anzupassen und mit typischen Gefahrenquellen, z.B. Unebenheiten zu rechnen. Der Verkehrssicherungspflichtige muss erst handeln, wenn nach sachkundigem Urteil die Möglichkeit einer Rechtsgutverletzung naheliegt.

Eine solche Handlungspflicht besteht, wenn auch ein sorgfältiger Verkehrsteilnehmer unter Beachtung der zu erwartenden Eigensorgfalt die Gefahr nicht oder nicht rechtzeitig erkennen kann und sich hierauf nicht rechtzeitig einrichten kann. Bei der Beurteilung kommt es dabei auch auf das äußere Erscheinungsbild der Verkehrsfläche und ihre Bedeutung für den Verkehr an.

Daher ist der Beklagten keine Verkehrssicherungspflichtverletzung vorzuwerfen. Die Kanalabdeckung ist bei zu erwartender Sorgfalt der Verkehrsteilnehmer keine unvorhersehbare und unbeherrschbare Gefahrenquelle. Dass seitlich an der Straße Kanalabdeckungen verbaut sind, kann als allgemein bekannt vorausgesetzt werden. Die Klägerin hätte daher mit diesem zumindest – wie vorliegend – im Bereich der hohen Bordsteine des Fußgängerüberwegs, rechnen müssen. Die Fußgänger müssen sich immer wieder kurz, aber regelmäßig auf den Weg vor ihnen blicken, um die Beschaffenheit und mögliche Hindernisse und Gefahrenquellen frühzeitig zu sehen. Der Gullydeckel war auch trotz des hohen Bordsteins auch aus der Ferne nahezu vollständig erkennbar. Im Bereich eines erhöhten Bordsteins muss zudem mit erhöhter Vorsicht gegangen werden. Der Klägerin war es ohne weiteres möglich, bei gebotener Sorgfalt die Kanalabdeckung so zu betreten, dass sie nicht umknickt oder die Straße an einer anderen Stelle des Fußgängerüberwegs zu überqueren.

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Verkehrssicherungspflicht I: Anforderungen an einen Feld- und Waldweg

Michael PeusMichael Peus

OLG Hamm, Beschl. v. 31.08.2022 – 11 U 9/22

 

Leitsatz (amtlich)

Zu den Anforderungen der Verkehrssicherungspflicht für eine Gemeindestraße, deren Verkehrsbedeutung auf einen den Fußgänger- und Radverkehr zulassenden örtlichen Feld- und Waldweg beschränkt wurde.

 

Sachverhalt

Die Klägerin verlangt infolge eines Fahrradunfalls von der Beklagten (Trägerin der Straßenbaulast für die Gemeindestraßen) Schmerzensgeld und Schadensersatz. Sie fuhr mit dem Fahrrad hinter ihrem Ehemann her, über einen Wald- und Feldweg der Beklagten, der für den Fußgänger- und Radverkehr bestimmt war. In dem mit losem Geröll bedeckte und mit Gras bewachsene Weg hatte sich im Laufe der Zeit eine Spurrille gebildet. Am oberen Abschnitt des Weges befand sich ein zur verkehrsrechtlicher Beschränkung aufgeschütteter Erdhügel. Die Klägerin gelangte in die Spurrille, blieb mit ihrer Pedale an dem Erdhügel hängen und stürzte.

 

Entscheidung

Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes und Schadensersatz gem. § 839 Abs. 1 S. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG, § 9, 9a, 47 StrWG NRW. Die Beklagte hat keine Verkehrssicherungspflicht verletzt.

  1. Maßstab sind die allgemeinen Grundsätze der Verkehrssicherungspflichten. Nach den allgemeinen Grundsätzen ist die Beklagte gem. §§ 9, 9a, 47 StrWG NRW grds. verpflichtet, Gefahrenquellen auf den Verkehrsflächen, die von ihr unterhalten werden, zu beseitigen und im Rahmen des Zumutbaren darauf hinzuwirken, dass kein Verkehrsteilnehmer zu Schaden kommt. Jedoch muss nicht für jede denkbare Möglichkeit eines Schadenseintritts Vorsorge getroffen werden. Der Umfang der Verkehrssicherungspflicht richtet sich danach, für welche Art des Verkehrs die Verkehrsfläche nach ihrem Befund unter Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse und der allgemeinen Verkehrsauffassung gewidmet ist und danach, was ein vernünftiger Verkehrsteilnehmer an Sicherheit erwarten darf. Die Verkehrsteilnehmer müssen die Verhältnisse grds. hinnehmen und haben sich auf diese und die typischen Gefahren einzustellen. Eine Verkehrssicherungspflicht besteht erst dann, wenn nach sachkundigem Urteil die Möglichkeit einer Rechtsgutverletzung naheliegt, d.h., wenn ein sorgfältiger Verkehrsteilnehmer unter Beachtung der zu erwartenden Sorgfalt die Gefahrenquelle nicht (rechtzeitig) erkennen kann und sich nicht (rechtzeitig) auf diese einstellen kann. Bei dieser Beurteilung, kommt es auch auf das äußere Erscheinungsbild der Fläche und ihrer Bedeutung für den Verkehr an.

 

  1. Der Weg ist erkennbar von untergeordneter Bedeutung. Der in Rede stehende Wald- und Feldweg ist seit den 90er-Jahren nur noch für den Fußgänger- und Fahrradverkehr bestimmt und wird eher selten von diesen genutzt. Daher kommt dem Weg nur noch eine untergeordnete Verkehrsbedeutung als Abkürzungsstrecke zu. Der Untergrund besteht nur noch aus Gras und losem Geröll.

 

  1. Das führt zu eingeschränkten Sicherheitserwartungen: Verkehrsteilnehmer, die diesen Weg benutzen, können daher nur eingeschränkte Sicherheitserwartungen haben. Auf solchen unbefestigten Wegen muss mit Unebenheiten und Hindernissen, wie hier den Spurrillen gerechnet werden. Insb. darf nicht davon ausgegangen werden, diesen ohne Absteigen befahren zu können.

 

  1. Wegen der Reduktion der Sicherheitserwartungen sind auch an die Verkehrssicherungspflichten nur geringe Anforderungen zu stellen, die vorliegend erfüllt sind. Auch aufgrund des aufgeschütteten Erdhügels trifft die Beklagte keine erhöhte Verkehrssicherungspflicht. Die Aufschüttung des Erdhügels ist keine unzulässige Verkehrsanordnung und stellt auch keine Schaffung einer Gefahrenquelle dar. Diese ergab sich erst in Kombination mit der Spurrille. Ebenso war die Beklagte nicht zur Beseitigung der Spurrille verpflichtet, denn diese war bei gebotener Eigensorgfalt rechtzeitig zu erkennen und zu bewältigen. Daran ändert es auch nichts, dass der Ehemann der Klägerin vorausgefahren ist und sie deshalb die Spurrille möglicherweise nicht mehr rechtzeitig erkennen konnte. Die Klägerin ist gem. §§ 3, 4 StVO zur Einhaltung eines Abstandes zu dem vorausfahrenden Ehemann verpflichtet. Dieser Abstand muss so groß sein, dass jederzeit innerhalb der überschaubaren Strecke problemlos angehalten werden kann. Hätte die Klägerin diesen Abstand eingehalten, hätte sie die Gefahrenstelle problemlos meistern können.

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Hinterbliebenengeld & Schockschaden: Rechtsprechungsänderung, Bemessung, Parallelität

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

BGH, Urteile vom 6.12.2022, Az.: VI ZR 23/71 & VI ZR 168/21 (i.V.m. Urteil vom 8.2.2022 Az.: VI ZR 3/21)

 

Leitsätze

1. Bei sogenannten „Schockschäden‟ stellt – wie im Falle einer unmittelbaren Beeinträchtigung – eine psychische Störung von Krankheitswert eine Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB dar, auch wenn sie beim Geschädigten mittelbar durch die Verletzung eines Rechtsgutes bei einem Dritten verursacht wurde. Ist die psychische Beeinträchtigung pathologisch fassbar, hat sie also Krankheitswert, ist für die Bejahung einer Gesundheitsverletzung nicht erforderlich, dass die Störung über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgeht, denen Betroffene bei der Verletzung eines Rechtsgutes eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt sind (BGH, 6.12.2022, Az.: VI ZR 168/21).

2. Der in dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD genannte Betrag in Höhe von 10.000 € (BT-Drucks. 18/11397, S. 11) bietet eine Orientierungshilfe für die Bemessung der Hinterbliebenenentschädigung, von der im Einzelfall sowohl nach unten als auch nach oben abgewichen werden kann. Er stellt keine Obergrenze dar. Die Einführung eines Anspruchs auf Hinterbliebenengeld diente dem Zweck, den Hinterbliebenen für immaterielle Beeinträchtigungen unterhalb der Schwelle einer Gesundheitsverletzung einen Anspruch auf angemessene Entschädigung in Geld einzuräumen. Der dem Hinterbliebenen im Einzelfall zuerkannte Betrag muss deshalb im Regelfall hinter demjenigen zurückbleiben, der ihm zustände, wenn das von ihm erlittene seelische Leid die Qualität einer Gesundheitsverletzung hätte (BGH, 6.12.2022, Az.: VI ZR 73/21).

 

Entscheidung

Mit seinen Urteilen vom 6.12.2022 mit Az.: VI ZR 23/71 & VI ZR 168/21 nimmt der BGH relevante Klarstellungen zur Bemessung und Unterscheidung zwischen Schockschadenschmerzensgeld und Hinterbliebenengeld vor. Er ändert seine bisherige Rechtsprechung zu den Anforderungen an einen Schockschaden:

Mit Urteil vom 8.2.2022 (Az.: VI ZR 3/21) hatte der BGH bereits verdeutlicht, dass Ersatzansprüche wegen eines Schockschadens und ein Anspruch auf Hinterbliebenengeld nebeneinander bestehen können. Wenn sowohl die Voraussetzungen auf Ersatz eines Schockschadens als auch die Voraussetzungen nach § 844 Abs. 3 BGB vorliegen, geht der Anspruch auf Ersatz des Schockschadens dem Anspruch auf Hinterbliebenengeld allerdings vor bzw. letztgenannter in erstgenanntem auf (vgl. auch BT-Drs. 18/11397, S. 12). Beiden Instituten kann somit eine eigenständige Bedeutung zukommen, soweit die Voraussetzungen nur einer der beiden Anspruchsgrundlagen erfüllt sind. Die Möglichkeit divergierender Ergebnisse wird grundsätzlich akzeptiert, dürfte sich jedoch in Ansehung der im folgenden dargestellten Rechtsprechungsänderung praktisch kaum noch denken lassen:Eine psychische Beeinträchtigung konnte bisher nur dann als Schockschaden und somit als eine erforderliche und im Gegensatz dazu bei § 844 Abs. 3 BGB nicht notwendige Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB angesehen werden, wenn sie pathologisch fassbar war und über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausging, denen Betroffene beim Tod oder einer schweren Verletzung eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt werden. Übliche seelische Erschütterungen wie Trauer oder seelischer Schmerz, denen Betroffene beim Tod oder einer schweren Verletzung eines Angehörigen erfahrungsgemäß ausgesetzt sind, stellten daher selbst dann nicht ohne weiteres eine Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB dar, wenn sie von Störungen der physiologischen Abläufe begleitet wurden und für die körperliche Befindlichkeit medizinisch relevant waren (BGH, 21.5.2019 Az.: ZR 299/17). In diesen Fällen war nur der Weg zum Hinterbliebenengeldanspruch möglich.

Mit Urteil vom 6.12.2022 unter dem Az.: VI ZR 168/21 gibt der BGH diese Rechtsprechung bzw. Unterscheidung auf: Nunmehr ist eine psychische Störung schon dann eine Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB und damit Schockschaden, wenn sie bloß pathologisch fassbar ist und Krankheitswert hat. Nicht mehr erforderlich ist, dass die Störung zudem über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgehen muss, denen Betroffene bei der Verletzung eines Rechtsgutes eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt sind. Somit kann nun auch die übliche Trauerreaktion schmerzensgeldbegründend sein, wenn sie quasi eine Krankschreibung rechtfertigt. Ein nach diesen Prämissen bejahter Schockschaden umfasst dann in der Regel – bei persönlichem Näheverhältnis – immer auch einen Anspruch auf Hinterbliebenengeld. Eine vom BGH erkannten Ausuferung der Haftung, welche durch die ursprüngliche Unterscheidung vermieden werden sollte, könne stattdessen über die Merkmale der Kausalität und insbesondere des Zurechnungszusammenhanges begegnet werden.

Anmerkung: Ob dies tatsächlich zu der vom BGH postulierten dogmatischen Klarheit und Vermeidung von Wertungswidersprüchen führt, darf bezweifelt werden. Die Rechtsprechungsänderung ist doch wohl eher geschädigten- als praxis- und regulierungsfreundlich. Denn nun wird man regelmäßig etwa die Diskussion führen müssen, ob unter dem Gesichtspunkt des Zurechnungszusammenhanges eine diesen ausschließende Überreaktion oder ein krasses Missverhältnis gegeben ist. Hinterbliebenengeld und Schockschaden werden praktisch gleichgeschaltet, auch wenn der BGH in allen Urteilen herausstellt, dass es grundsätzlich verschiedene Rechtsinstitute seien.

Unter dem Az.: VI ZR 73/21 macht der BGH parallel Ausführung zur Höhe des Hinterbliebenengeldes. Zwar seien beide Ansprüche weiterhin zu unterscheiden, jedoch akzeptiert er die im Gesetzentwurf zum Schockschaden genannte Betrag in Höhe von 10.000 € (BT-Drucks. 18/11397, S. 11) auch als Orientierungshilfe für die Bemessung der Hinterbliebenenentschädigung, von der im Einzelfall sowohl nach unten als auch nach oben abgewichen werden könne. 10.000 € sind somit zukünftig der höchstrichterlich anerkannte Richtwert, der weder Unter- noch Obergrenze sein muss – je nach den Umständen des Einzelfalles. Ist nur ein Anspruch auf Hinterbliebenengeld, jedoch nicht gleichzeitig wegen eines Schockschadens gegeben, etwa dann, wenn nicht mehr als eine übliche Trauerreaktion vorliegt, die noch keinen eigenständigen Krankheitswert hat, müsse der dem Hinterbliebenen im Einzelfall zuerkannte Betrag im Regelfall hinter demjenigen zurückbleiben, der ihm zustände, wenn das von ihm erlittene seelische Leid die Qualität einer Gesundheitsverletzung hätte. Die Einführung eines Anspruchs auf Hinterbliebenengeld diene schließlich dem Zweck, den Hinterbliebenen für immaterielle Beeinträchtigungen unterhalb der Schwelle einer Gesundheitsverletzung einen Anspruch auf angemessene Entschädigung in Geld einzuräumen.

Anmerkung: Da nunmehr jedoch die übliche Trauer für einen Schockschaden genügt, sofern ihr Krankheitswert zugesprochen wird, was von Seiten der Ärzte regelmäßig der fall sein dürfte, wird das vom BGH anerkannte „Weniger“ an Entschädigung beim Hinterbliebenengeld praktisch kaum eine Rolle spielen – in der Regel dürfte bereits ein Schockschaden vorliegen, nach dessen Höhe sich der (Gesamt-)Anspruch richtet – s. oben.

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Nachweis grob fahrlässiger Unkenntnis beim SVT

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

BGH, Urteil vom 18. Oktober 2022, Az.: ZR 1177/20

 

Leitsätze

1. Hinsichtlich des Zeitpunkts des Anspruchsübergangs nach § 116 SGB X ist zu differenzieren. (Rn.15) Maßgeblich für die Differenzierung ist der Grund der Leistungserbringung und nicht der Träger der Leistung. Bei Sozialleistungen, die aufgrund eines Sozialversicherungsverhältnisses zu erbringen sind, findet der in § 116 Abs. 1 SGB X normierte Anspruchsübergang in aller Regel bereits im Zeitpunkt des schadenstiftenden Ereignisses statt, sofern das Versicherungsverhältnis schon zu diesem Zeitpunkt besteht. Bei Sozialleistungen, deren Gewährung nicht an das Bestehen eines Sozialversicherungsverhältnisses, sondern an andere Voraussetzungen gebunden ist, ist für den Rechtsübergang erforderlich, dass nach den konkreten Umständen des jeweiligen Einzelfalls eine Leistungspflicht ernsthaft in Betracht zu ziehen ist

2. Zur grob fahrlässigen Unkenntnis von Bediensteten der Regressabteilung (§ 199 Abs. 1 Nr. 2 Fall 1 BGB).

 

Entscheidung

Mit der Revision wird das Urteil des OLG Karlsruhe vom 24. Juli 2020 – 1 U 186/18 – aufgehoben, mit dem eine Anspruchsverjährung beim SVT bzw. der BfA wegen grob fahrlässiger Unkenntnis angenommen wurde. Das OLG hatte insbesondere ausgeführt, dass die behördeninternen Handlungs- und Regressanweisungen nicht hinreichend klar und ausreichend gewesen seien. Dem widerspricht nun der BGH:

Zunächst wiederholt der BGH seine mit Urteil vom 17. April 2012 – VI ZR 108/11 – aufgestellten Grundsätze: Der Regressabteilung ist die Durchsetzung der nach den §§ 116, 119 SGB X übergegangenen Schadensersatzansprüche übertragen. Sie hat diese Ansprüche im Anschluss an die Leistungen, die der Träger der Sozialversicherung dem geschädigten Versicherten gewährt hat, zügig zu verfolgen. Behördenintern hat sie in geeigneter Weise sicherzustellen, dass sie frühzeitig von Schadensfällen Kenntnis erlangt, die einen Regress begründen können. Die Verletzung dieser Obliegenheiten kann als grob fahrlässig zu bewerten sein, wenn ein Mitarbeiter der Regressabteilung aus ihm zugeleiteten Unterlagen in einer anderen Angelegenheit ohne weiteres hätte erkennen können, dass die Möglichkeit eines Regresses in einem weiteren Schadensfall in Betracht kommt, und er die Frage des Rückgriffes auf sich beruhen lässt, ohne die gebotene Klärung der für den Rückgriff erforderlichen Umstände zu veranlassen. Gleiches gilt, wenn die Mitarbeiter der Regressabteilung erkennen mussten, dass Organisationsanweisungen notwendig sind oder vorhandene Organisationsanweisungen von den Mitarbeitern der Leistungsabteilung nicht beachtet wurden und es deswegen zu verzögerten Zuleitungen von Vorgängen kam (Fortführung BGH, Urteil vom 17. April 2012 – VI ZR 108/11).

Dann schränkt er jedoch ein: Auch in diesen Fallgestaltungen sei jedoch zu berücksichtigen, dass die (bloße) nachlässige Handhabung der vorbeschriebenen Obliegenheiten zur Begründung grober Fahrlässigkeit nicht genügten. Die Annahme grober Fahrlässigkeit erfordere die Feststellung eines schweren Obliegenheitsverstoßes; der Gläubiger müsse die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich grobem Maße verletzt haben. Nicht zu beanstanden sei zwar, dass das Berufungsgericht den SVT hinsichtlich der Erfüllung der vorbeschriebenen Obliegenheiten als sekundär darlegungsbelastet angesehen habe. Allerdings dürften die Anforderungen an die Substantiierung des Vortrags eines SVT zu den internen Abläufen in Zusammenhang mit der Durchsetzung von Regressansprüchen, insbesondere zu der Frage, welche Maßnahmen die Regressabteilung ergriffen hat, um sicherzustellen, dass sie frühzeitig von regressbegründenden Schadensfällen Kenntnis erlangt, nicht überspannt werden.

Im vorliegenden Fall genügte es dem BGH, dass der SVT die im Zuständigkeitsbereich der Bundesagentur für Arbeit ergriffenen Maßnahmen zur Organisation der Durchsetzung von Regressansprüchen dargelegt und die diesbezüglichen Dienstanweisungen, insbesondere den für den maßgeblichen Zeitraum relevanten „RD-Rundbrief“ vorgelegt hatte. Dort seien auf sechs Seiten konkrete Bestimmungen zum Erkennen von Regressfällen und zur Durchführung des Regressverfahrens enthalten. Unter der Überschrift „Allgemeines‟ werde die Bestimmung in § 116 SGB X erläutert und darauf hingewiesen, dass Schadensereignisse, die eine Haftung auslösen, bspw. Verkehrsunfälle sein könnten. Deshalb seien alle Fälle vorzulegen, in denen der Verdacht von Schadensersatzansprüchen der Bundesagentur für Arbeit bestehe. Unter der Überschrift „Erkennen von Regressfällen‟ werde erläutert, dass sich Hinweise auf mögliche Schadensersatzansprüche aus den Antragsunterlagen ergäben. Der Antrag auf Leistungen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben enthalte die konkrete Frage nach einem Unfallereignis. In der Folge würden das Regressverfahren bei der Gewährung von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe einerseits und die Einleitung des Regressverfahrens bei Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben (Reha-Regressverfahren) dargestellt. In beiden Fällen werde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der „Regressstelle bei der RD‟ bzw. dem „Fachgebiet Regress bei der RD‟ die regressrelevanten Unterlagen vorzulegen seien. Diese würden dann im Einzelnen bezeichnet. Während beim Regressverfahren in Bezug auf Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe bereits die erstmalige Anspruchsanmeldung durch das „Fachgebiet Regress‟ erfolgen solle, soll beim Regress aufgrund von Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben die erstmalige „Geltendmachung‟ noch durch die Agentur für Arbeit erfolgen. Hiermit sei ersichtlich die drei Zeilen weiter unten genannte Anzeige des Forderungsübergangs gegenüber dem Schädiger gemeint, die im Anschluss mit den anderen regressrelevanten Unterlagen dem „Fachgebiet Regress bei der RD‟ vorzulegen seien. Auf den Seiten 4 bis 6 befänden sich weitere sämtliche Regressverfahren betreffende Anweisungen. Es werde mehrfach darauf hingewiesen, dass die örtlich zuständigen Arbeitsagenturen zu prüfen hätten, ob ein Regressfall vorliegen könnte, und die erhobenen Unterlagen an die Regionaldirektion weiterzuleiten haben.

Soweit das OLG Karlsruhe gemeint habe, den Anweisungen zur Durchführung des Regresses fehle jedenfalls die notwendige Klarheit, habe es übersehen, dass die bloße nachlässige Handhabung von Obliegenheiten zur Begründung grober Fahrlässigkeit nicht genüge. Aufgrund der Ausgestaltung der Handlungsanweisungen etc. mussten die Mitarbeiter der Regressabteilung nicht mit Missverständnissen seitens der für Leistungsbewilligung zuständigen Mitarbeiter rechnen. Es sei jedenfalls weder festgestellt noch sonst ersichtlich, warum sich den Mitarbeitern der Regressabteilung ein entsprechendes Fehlverständnis seitens der Leistungsabteilung in grobe Fahrlässigkeit begründender Weise hätte aufdrängen müssen.

 

Anmerkung:

Der BGH „kassiert“ somit die durchaus beachtliche Entscheidung des OLG Karlsruhe, mit welcher zu Lasten der SVT argumentiert werden konnte, die verwendeten Organisation- und Handlungsanweisungen seien unzureichend. Zwar stellt der BGH an die Anforderung der Organisation- und Handlungsanweisungen keine strengen Anforderungen. Er bestätigt aber und trotz der für den SVT (die BfA) günstigen Entscheidung, dass bei der Bewertung grob fahrlässiger Unkenntnis die Qualität der Organisation- und Handlungsanweisungen zu bewerten sei. Sofern die Organisations- und Handlungsanweisungen unterhalb des im Urteil dargestellten Standards liegen, ist somit durchaus an grob fahrlässige Unkenntnis zu denken. Auch eine nachlässige Handhabung im Einzelfall ausreichender Organisation- und Handlungsanweisungen wird vom BGH wohl als Anknüpfung für grob fahrlässige Unkenntnis akzeptiert. Allerdings muss dann sowohl die Handhabe grob nachlässig gewesen und nachgewiesen sein (1), als auch hätte sie den Mitarbeitern der Regressabteilung genauso wie etwa ein eklatantes Fehlverständnis der Organisation- und Handlungsanweisungen in der Leistungsabteilung in grobe Fahrlässiger Weise auffallen müssen (2).

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Recht im Winter III – Aufsichtspflichten beim Rodeln und Skifahren

Michael PeusMichael Peus

AG Bonn, Urteil vom 09.02.2006 – 15 C 465/05

und

LG Augsburg, Endurteil vom 28.08.2017 – 34 O 8/17 (externer Link)

Sachverhalt („Rodeln‟, AG Bonn):

Ein 6-(knapp-7-)-jähriges Kind fährt alleine Schlitten. Die Aufsichtspflichtigen befanden sich ohne Zugriffsmöglichkeit auf das Kind in einiger Entfernung. Besondere Gefahrenmomente waren nicht erkennbar.  So ließen Winkel und Länge des „Rodelhangs‟ das Erreichen hoher Geschwindigkeit nicht zu.

Wegen des Umfallens eines Vorausfahrenden fuhr das Kind in diesen hinein und verletzte ihn im Gesicht. Dieser verlangte nun Schadensersatz und Schmerzensgeld.

Entscheidungsgründe:

Die Klage wurde abgewiesen, weil dem Geschädigten kein Anspruch zustünde. Die Aufsichtspflicht sei nicht verletzt worden:

  1. Nach Ansicht des Gerichtes können Eltern nicht ganz sieben Jahre alte Kinder auch ohne Aufsicht schlittenfahren lassen, wenn keine besonderen Gefahrenmomente erkennbar sind.
  2. Besondere Gefahrenmomente hätten nicht vorgelegen. Der Winkel und die Länge der Schrägfläche lassen keine besonderen Geschwindigkeiten mit den Schlitten zu. Es ist auch nicht unbedingt zu erwarten und damit nicht unbedingt damit zu rechnen, dass auf dieser Fläche ein Kind mit dem Schlitten im Alter von fast sieben Jahren umkippt und damit dann ein plötzliches Hindernis für ein zu beaufsichtigendes Kind bildet.
  3. Bei Schlitten handelt es sich im übrigen um ganz normale Kinderspielzeuge.
  4. Von daher sieht das Gericht keine Aufsichtspflichtverletzung, wenn an einer derartigen Stelle Kinder spielen, die immerhin schon im schulpflichtigem Alter sind. Das hieße nämlich, das Kinder in diesem Alter ohne Aufsicht überhaupt nicht mehr spielen dürfen.

Anmerkung:

Das Gericht führt hierzu in dem kurzen Urteil nicht weiter aus. Wir gehen davon aus, dass das Kind nicht zum ersten Mal den Schlitten nutzte, sondern schon darin geübt war. Hätte es sich „um die erste Schlittenfahrt im Leben des Kindes‟ gehandelt, könnte man den Sachverhalt in rechtlicher Hinsicht abweichend bewerten.

 

Sachverhalt („Skifahren‟, LG Augsburg):

Im Rahmen einer mehrtägigen (schulischen) Skifreizeit ließen Schullehrer den geschädigten dreizehnjährigen klagenden Schüler alleine einen Hang hinunterfahren, ohne auf diesen aufzupassen; sie befanden sich in größerer Entfernung. In den Vortagen wurde dieser Hügel bereits von den Teilnehmern der Skifreizeit erübt, befahren und auch vom Kläger ohne erkennbare Probleme bewältigt. Als der Kläger den Hang befuhr, verunfallte er, als sich die Bindung öffnete und er stürzte.

Entscheidungsgründe:

Zunächst war wegen der Schulbezogenheit (schulische Skifreizeit) einerseits die Angelegenheit unter den Grundsätzen der Amtshaftung zu bewerten. Ferner waren die Privilegien nach §§ 104 ff. SGB VII im Auge zu behalten.

Das Landgericht sah zwar eine Aufsichtspflichtverletzung als gegeben an:

Jedoch sind – wie ausgeführt – im Rahmen des Umfangs der Aufsichtspflicht neben den charakterlichen Eignungen der zu Beaufsichtigenden auch die örtlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen. Insoweit steht eine gänzliche, ca. 30-minütige -ca. 80m entfernte – Ortsabwesenheit des Zeugen G. vom Kinderskiland der ordnungsgemäß ausgeführten Aufsichtspflicht entgegen.

Es fehlte aber bereits an der Kausalität dieser Aufsichtspflichtverletzung. Denn auch wenn die Lehrer dort gewesen wären, hätten sie weder das Schließen der Bindung des Klägers kontrollieren müssen noch hätten sie ihm das Befahren des Hanges und der kleinen – bereits erübten Schanze – untersagen müssen.

Im Übrigen bestand keine Haftung, weil auch nicht der nach SGB VII erforderliche doppelte Vorsatz vorgelegen hätte.

Damit konnte der Kläger keinen Anspruch auf Schmerzensgeld verfolgen. Klarstellend: Selbstverständlich war der Kläger gesetzlich unfallversichert und hatte daher keine Kosten der Behandlung etc. selbst zu tragen.

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