Recht im Winter – Übersicht 2024

Michael PeusMichael Peus

Übersicht zu Artikeln „Winter & Recht‟:

– Vorstellung und Kommentierung  zur ergangenen Rechtsprechung nach Themen der Urteile –

 

Dachlawinen:

Dachlawine beschädigt Kfz, OLG Hamm, RA Krappel

Dachlawinen und Kfz, LG Detmold u. OLG Hamm, RA Peus

 

Fußgängerstürze wegen Glätte:

Sturz auf Bahnhofsgelände, BGH, RA Dr. Schmidt

Sturz auf dem Bahnhofsgelände, OLG Hamm, RA Möhlenkamp

Sturz auf dem Weg zum Kfz, OLG München, RA Dr. Schmidt

Sturz wegen Glätte nach streupflichtiger Zeit, LG Braunschweig, RA Möhlenkamp

Sturz wegen ungeeigneten Streumittels, OLG Hamm, RA Möhlenkamp

 

Mieter

Lichterkette am Balkon der Mietwohnung, RA Peus

 

Sommerreifen

Unfall mit Sommerreifen bei Schnee, RA Peus

 

Weihnachtsbräuche:

Lichterkette am Balkon der Mietwohnung, RA Peus

Sturz über Schlauch auf Weihnachtsmarkt, OLG Sachsen-Anhalt, RA Dr. Schmidt

Verkehrssicherungspflicht für Weihnachtsbaum, OLG Düsseldorf, RA Peus

Weihnachtsbaum in Gefängniszelle: nicht gestattet, RA Peus

 

Winterreifen

Winterreifen am Mietwagen von Schadensersatzanspruch umfasst, RA Peus

Winterreifen am Radarmesswagen, RA Peus

 

Wintersport:

Rodeln und Skifreizeit, AG Bonn und LG Augsburg, RA Peus

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Hinterbliebenengeld XXVII: Zur Bemessung

Michael PeusMichael Peus

BGH, Urt. v. 23.05.2023 – VI ZR 161/22

 

zur tabellarischen Übersicht Stand 07/23zur textlichen Darstellung Stand 07/23

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Bemessung der Höhe der Hinterbliebenenentschädigung (Anschluss an Senatsurteil vom 6. Dezember 2022, VI ZR 73/21, VersR 2023, 256).

 

Sachverhalt

Die Klägerin verlangt aufgrund des Verkehrsunfalltodes ihres Vaters von den Beklagten Hinterbliebenengeld. Ihr Vater fuhr am 03.09.2020 mit dem Motorrad durch eine Kurve, als die Beklagte zu 1 mit ihrem bei der Beklagten zu 2 versicherten Pkw auf die Gegenfahrbahn geriet und mit dem Vater der Klägerin frontal zusammenstieß. Der Vater der Klägerin verstarb noch am Unfallort. Außer Streit steht die volle Haftung der Beklagten.

Die Beklagte zu 2 zahlte vorgerichtlich ein Hinterbliebenengeld i.H.v. 7.500€.

Die Klägerin wurde am 05.06.2001 geboren und lebte zum Unfallzeitpunkt noch bei ihren Eltern und war von ihrem Vater finanziell abhängig.

Sie begehrte klageweise die Zahlung weiterer 22.500€ Hinterbliebenengeld. Sie trug u.a. vor, dass sie sich nach dem Tod ihres Vaters gemeinsam mit ihrer Mutter vermehrt um ihren autistischen Bruder kümmern müsse. Dies stelle sich jedoch schwierig dar, da der Vater seine Respekts- und Bezugsperson gewesen sei und sein Tod bei ihm Verhaltensauffälligkeiten hervorgerufen habe. Er sei ihnen gegenüber gewaltsam und aufbrausend, wodurch sie täglich mit dem Tod ihres Vaters konfrontiert würden.

Das Landgericht wies die Klage teilweise ab und verurteilte die Beklagte zu Zahlung weiterer 4.500€. Die Berufung der Klägerin blieb ohne Erfolg. Das Berufungsgericht sprach der Klägerin – wie auch schon das Landgericht – gem. § 10 Abs. 3 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG ein Hinterbliebenengeld i.H.v. insgesamt 12.000€ zu.

Nach der Ansicht des Berufungsgerichts seien bei der Bemessung des Hinterbliebenengeldes Erwägungen der Angemessenheit zugrunde zu legen und § 287 ZPO anzuwenden. Der in der Gesetzesbegründung genannte Betrag von 10.000€ stelle einen Ausgangspunkt der von den Gerichten vorzunehmenden Einzelfallprüfung dar. Daher könne das Hinterbliebenengeld unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls flexibel nach unten oder oben angepasst werden. Ein über 12.000€ hinausgehendes Hinterbliebenengeld stehe der Klägerin jedoch nicht zu. Es bestehe aufgrund der häuslichen Gemeinschaft eine tatsächlich gelebte enge soziale Beziehung der Klägerin zu ihrem Vater, die eine moderate Erhöhung des Hinterbliebenengeldes rechtfertige. Zudem sei es vom Landgericht richtig gewesen, die wirtschaftliche Abhängigkeit der Klägerin von ihrem Vater unberücksichtigt zu lassen. Dies sei für die Bemessung irrelevant, da das Hinterbliebenengeld auf einen eigenen Gefühlsschaden gerichtet sei. Ebenso seien die Auswirkungen des Todes des Vaters auf den autistischen Bruder der Klägerin und die Beeinträchtigungen sowie, dass die Beklagte zu 1 ihre strafrechtliche Verantwortung bestritten habe, nicht zu berücksichtigen.

Mit der Revision verfolgt sie nun ihr Begehren weiter.

 

Entscheidung

Der BGH hebt die Entscheidung auf und verweist sie zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurück.

Die Klägerin hat – wie auch vom erstinstanzlichen Gericht und Berufungsgericht angenommen – einen Anspruch auf Hinterbliebenengeld gem. § 18 Abs. 1 S. 1, § 10 Abs. 3 StVG, § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG.

Da die Bemessung des Hinterbliebenengeldes durch den nach § 287 ZPO besonders freigestellten Tatrichter zu erfolgen hat, kann sie im Rahmen der Revision nur auf Rechtsfehler bei der Festsetzung (insb. ob sich das Gericht mit allen für die Bemessung maßgeblichen Umständen ausreichend auseinandergesetzt hat, angemessene Beziehung der Entschädigung zu der Art und dem Ausmaß des zugefügten seelischen Leids) überprüft werden. Die Bemessung kann jedoch nicht beanstandet werden, wenn sie zu dürftig oder zu reichlich erscheint.

Die Erwägungen des Berufungsgerichts zu den Bemessungsgrundlagen sind teilweise rechtsfehlerhaft.

Bei der Bemessung des Hinterbliebenengeldes ist die konkrete seelische Beeinträchtigung des Hinterbliebenen nach den besonderen Umständen des Einzelfalles zu bewerten. Der im Gesetzesentwurf genannte Betrag i.H.v. 10.000€ stellt hierbei eine Orientierungshilfe dar, von dem unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nach oben oder nach unten abgewichen werden kann.

Dass das Berufungsgericht die finanzielle Abhängigkeit der Klägerin von ihrem Vater für die Bemessung als nicht relevant angesehen hat, ist auch nicht rechtsfehlerhaft. Es ist zwar umstritten, ob die wirtschaftlichen Verhältnisse des Hinterbliebenen zu berücksichtigen sind, der Senat entscheidet jedoch, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse nur dann zu berücksichtigen sind, wenn sie sich auf die seelische Verfassung prägend ausgewirkt haben. Dies ergibt sich aus dem Zweck des Hinterbliebenengeldes, einen Ausgleich für seelische (immaterielle) Nachteile zu bieten, die durch den Tod des Nahestehenden eintreten und der Genugtuungsfunktion: Der Schädiger schuldet dem Hinterbliebenen für die Herbeiführung des Todes des Nahestehenden Genugtuung.

Daher sind die Intensität und Dauer des erlittenen seelischen Leids und der Grad des Verschuldens des Schädigers maßgebliche Kriterien für die Bemessung. Rückschlüsse auf die Intensität des seelischen Leids lassen sich aus der Art des Näheverhältnisses, der Bedeutung des Verstorbenen für den Anspruchsteller und der Qualität der tatsächlich gelebten Beziehung ziehen.

Daher musste das Berufungsgericht die finanzielle Abhängigkeit der Klägerin von ihrem Vater bei der Bemessung nicht berücksichtigen. Dass sich dies auf die seelische Verfassung prägend ausgewirkt hat, ist nicht vorgetragen worden. Die entgangenen Unterhaltsansprüche stellen einen materiellen Schaden dar, der nach § 844 Abs. 2 BGB auszugleichen ist.

Auch nicht zu berücksichtigen war, dass die Beklagte zu 1 ihre strafrechtliche Verantwortung für den Tod des Vaters der Klägerin bestritt. Hieraus lässt sich schon kein Rückschluss auf die Intensität des seelischen Leids ziehen. Davon abgesehen muss sich der Beschuldigte nicht strafrechtlich selbst belasten.

 

Rechtsfehlerhaft ist es allerdings, dass das Berufungsgericht angenommen hat, die Auswirkungen des Todes ihres Vaters auf den autistischen Bruder der Klägerin und die damit einhergehenden Beeinträchtigungen seien ebenfalls nicht relevant. Die Klägerin hat vorgetragen, ihr Vater sei der Mittelpunkt der Familie und die maßgebliche Respekts- und Bezugsperson für ihren Bruder gewesen. Sie habe nach dem Tod ihres Vaters neben dem Studium in erheblichen Umfang ihren Bruder mit betreuen müssen, der aufgrund des Todes des Vaters massive Verhaltensauffälligkeiten zeige und sich gegenüber der Klägerin und ihrer Mutter aufbrausend und gewaltsam verhalte. Daher sei sie täglich mit dem Tod ihres Vaters und der veränderten Lebenssituation konfrontiert. Der andauernde seelische Schmerz sei nahezu unerträglich. Hiervon ist mangels abweichender Feststellungen im Revisionsverfahren auszugehen.

Die Klägerin legte die Umstände, die bei der Bemessung des Hinterbliebenengeldes zu berücksichtigen sind schlüssig dar: Durch den Tod ihres Vaters ist die Klägerin in besonderer Art und Weise belastet, was die Intensität und Dauer ihres seelischen Leids mitprägt.

Dass das Berufungsgericht bei dieser Berücksichtigung ein höheres Hinterbliebenengeld zugesprochen hätte, ist nicht ausgeschlossen. 

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Hinterbliebenengeld XXVI: Nebeneinander von Schmerzens- und Hinterbliebenengeld

Michael PeusMichael Peus

LG Osnabrück, Urt. v. 05.05.2023 – 1 O 1857/21

 

zur tabellarischen Übersicht Stand 07/23zur textlichen Darstellung Stand 07/23

 

Leitsatz (redaktionell)

Schmerzensgeld- und Hinterbliebenengeldansprüche sind grds. eigenständige Rechtsinstitute und bestehen nebeneinander. Aufgrund der gleichen Zielrichtung der Ansprüche ist eine Addition des Hinterbliebenengeldes mit dem Schmerzensgeld aufgrund eines Schockschadens jedoch nicht möglich.

 

Sachverhalt

Die Klägerin verlangt infolge einer Körperverletzung mit Todesfolge Schmerzensgeld aus eigenem und vererbtem Recht ihres Sohnes sowie Hinterbliebenengeld. Der Beklagte, ihr damaliger Lebenspartner passte in der Nacht vom 08.08.2017 auf den 09.08.2017 auf ihre zwei Kinder auf. Als das jüngere Kind in der Nacht aufwachte und der Beklagte hierdurch wach wurde, nahm er das Kind und schüttelte es mehrfach. Im Krankenhaus wurde später ein Schütteltrauma mit erheblichen Gehirnverletzungen festgestellt, woran das Kind etwa vier Tage später verstarb.

Der Beklagte wurde rechtskräftig wegen Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt.

Bei der Klägerin wurde im Dezember 2017 und Januar 2018 eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert.

 

Entscheidung

Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes i.H.v. 25.000€ gem. §§ 823 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB. Der Anspruch auf Hinterbliebenengeld gem. § 844 Abs. 3 BGB geht in dem Schmerzensgeldanspruch auf.

Nach § 844 Abs. 3 BGB steht Hinterbliebenen, die in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis zu dem Verstorbenen standen, für das zugefügte seelische Leid eine angemessene Entschädigung in Geld zu. Das Hinterbliebenengeld bezweckt, immaterielle Beeinträchtigungen des Hinterbliebenen zu entschädigen, die jedoch noch keine eigene Gesundheitsverletzung darstellen. Dem Hinterbliebenengeld kommt daher eine Auffangwirkung zu. Schmerzensgeld und Hinterbliebenengeld sind zwar eigene Rechtsinstitute, können aber nebeneinander bestehen.

Um Wertungswidersprüche zu vermeiden und die zusätzlichen Voraussetzungen des Schmerzensgeldes nicht zu umgehen, muss das Hinterbliebenengeld jedoch grds. hinter dem Betrag zurückbleiben, der zustände, wenn das seelische Leid die Qualität einer Gesundheitsverletzung hätte. Für eine Gesundheitsverletzung ist daher nicht mehr erforderlich, dass die pathologisch fassbare Beeinträchtigung über das „normale Maß“ eines Betroffenen bei der Verletzung eines Rechtsguts eines nahen Angehörigen hinausgeht.

Eine Addition von Hinterbliebenengeld und Schmerzensgeld aufgrund eines Schockschadens ist aber nicht möglich, da die Ansprüche dieselbe Zielrichtung (die Entschädigung in Geld für eine immaterielle Beeinträchtigung) haben.

Vorliegend geht das Hinterbliebenengeld daher in dem Schmerzensgeldanspruch auf.

Zudem hat die Klägerin einen geerbten Schmerzensgeldanspruch aus dem Recht ihres Sohnes gem. §§ 1922, 823 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB i.H.v. 10.000€.

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Hinterbliebenengeld XXV: Seelisches Leid für Bemessung grds. unerheblich

Michael PeusMichael Peus

LG Heidelberg, Urt. v. 19.01.2023 – 5 O 93/21

 

zur tabellarischen Übersicht Stand 07/23zur textlichen Darstellung Stand 07/23

 

 

Leitsätze (amtlich)

  1. Soweit zur Eingrenzung der Schockschadensansprüche gefordert wird, die eigenen Gesundheitsbeeinträchtigungen des Anspruchstellers müssten mit Blick auf den Anlass „verständlich“ erscheinen, handelt es sich letztlich um eine Begrenzung unter dem Gesichtspunkt des hinreichenden Zurechnungszusammenhangs.
  2. Zur Bemessung des Hinterbliebenengelds.
  3. In welchem konkreten Umfang das vom Gesetzgeber vorausgesetzte seelische Leid vom jeweiligen Hinterbliebenen empfunden wird, soll für die Bemessung des Hinterbliebenengelds grundsätzlich unerheblich sein.

 

Sachverhalt

Die Klägerin (Tochter der 89-jährigen Verstorbenen) verlangt von der Beklagten (Haftpflichtversicherung) Schmerzens- und Hinterbliebenengeld infolge eines Autounfalls.

Die Verstorbene und ihre Bekannte fuhren am 08.12.2019 mit dem Pkw der Bekannten, der bei der Beklagten haftpflichtversichert ist, zu einem Restaurant. Die Verstorbene, die auf dem Parkplatz bereits ausgestiegen war, geriet aufgrund eines Fahrfehlers ihrer Bekannten zwischen das Auto und einen Zaun und zog sich infolgedessen Beinbrüche zu. Sie wurde daher in der Uniklinik behandelt und verstarb dort am 23.12.2019.

Die Klägerin ist der Auffassung, dass der Tod ihrer Mutter durch den Unfall verursacht wurde.

Sie habe nach dem Tod ihrer Mutter eine tiefe Trauer verspürt und es habe ein sehr inniges Verhältnis bestanden, u.a. habe sie den Haushalt ihrer Mutter nahezu vollständig besorgt. Die Trauer habe sich sodann zu einer rezidivierenden depressiven Störung entwickelt. Sie sei daher vom 22.05.-13.11.2020 arbeitsunfähig sowie in psychiatrischer Behandlung gewesen. Eine medikamentöse Therapie habe sie jedoch abgelehnt.

Die Klägerin beantragt u.a. die Beklagte zur Zahlung eines angemessenen Hinterbliebenengeldes zu verurteilen.

 

Entscheidung

Der Klägerin steht ein Anspruch auf Hinterbliebenengeld gem. §§ 10 Abs. 3, 115 VVG i.H.v. 5.000€ zu.

 

Im Einzelnen:

 

  1. Das Hinterbliebenengeld besteht grds. selbstständig und unabhängig neben einem eventuellen eigenen Schmerzensgeldanspruch. Das Hinterbliebenengeld wurde eingeführt, um gerade die Fälle zu erfassen, in denen kein eigener Schmerzensgeldanspruch besteht. Der Anspruch auf Hinterbliebenengeld kann daher jedoch nicht kumulativ zu einem eigenen Schmerzensgeldanspruch gefordert werden.Die Voraussetzungen für den Anspruch auf Hinterbliebenengeld sind vorliegend erfüllt, insb. ist der Tod der Mutter ist zurechenbar auf den Unfall zurückzuführen.

 

  1. Als Richtwert geht der Gesetzgeber von einem durchschnittlichen Hinterbliebenengeld i.H.v. 10.000€ aus. Die Bemessung erfolgt insb. nach dem Näheverhältnis des Anspruchstellers zum Verstorbenen und dem Grad des Verschuldens des Schädigers.Vorliegend ergibt sich das Näheverhältnis aus dem gelebten Mutter-Tochter-Verhältnis. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass dem erwachsenen Kind in dem Todesfall eines Elternteils im fortgeschrittenen Alter nur ein ermäßigter Betrag zustehen soll, da sich der natürliche Verlust schon abgezeichnet hat und das Kind meist aus dem Elternhaus ausgezogen ist und selbst eine Familie gegründet hat.

    Hier ist die 89-jährige Verstorbene ist bereits erheblich vorerkrankt und ihre Tochter lebt in einem eigenen Hausstand. Dass die Klägerin ihre Mutter versorgt, ändert an dieser Beurteilung nichts, denn dies rechtfertigt keine Gleichstellung mit dem Verlust eines minderjährigen Kindes oder eines Ehegatten.

 

  1. Die Genugtuungsfunktion entfällt vollständig, da der Unfall weder vorsätzlich noch leichtfertig verursacht wurde. Zudem lag die Todesursache bereits in dem angeschlagenen Gesundheitszustand vor und wurde durch den Unfall lediglich weiter angestoßen. Bei der Bemessung ist daher ebenfalls die Schadensanfälligkeit der Verstorbenen zu berücksichtigen.

 

  1. Unklar ist jedoch, inwieweit das erlittene Leid als Bemessungskriterium heranzuziehen ist. Nach der Gesetzesbegründung kann das Hinterbliebenengeld unabhängig von einem Nachweis einer medizinisch fassbaren Gesundheitsbeeinträchtigung gefordert werden. Das Hinterbliebenengeld kann und soll keinen Ausgleich für den Verlust eines nahestehenden Menschen bieten. Durch die Entschädigung soll der Hinterbliebene in die Lage versetzt werden, die durch den Verlust eines besonders nahestehenden Menschen verursachte Trauer und sein seelisches Leid zu lindern. Dabei ist der konkrete Umfang des Leids grds. unerheblich, denn sonst bestände für Kleinkinder, Demenzkranke oder Hinterbliebene, die – vielleicht sogar aufgrund desselben Unfalls – keine kognitive oder emotionale Fähigkeit haben, kein Anspruch auf Hinterbliebenengeld.

 

Hier kann dies jedoch dahinstehen. Würde man die Depression zugunsten der Klägerin berücksichtigen, müsste man ebenfalls berücksichtigen, dass sie eine medikamentöse Therapie ablehnte, sodass sich ohnehin keine wesentliche Erhöhung des Hinterbliebenengeldes ergäbe.

Daher ist ein Hinterbliebenengeld i.H.v. 5.000€ angemessen.

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Hinterbliebenengeld XXIV: Zur Bemessung in Familienkonstallationen

Michael PeusMichael Peus

LG Rottweil, Urt. v. 26.06.2018 – 1 Ks 10 Js 10802/17

 

zur tabellarischen Übersicht Stand 07/23zur textlichen Darstellung Stand 07/23

 

 

Leitsatz (redaktionell)

Maßgeblich für die Bemessung des Hinterbliebenengeldes ist die Intensität der Beeinträchtigung, die durch den Verlust eines nahen Angehörigen entstanden ist. Eine eigene Gesundheitsverletzung in Form eines Schockschaden ist nicht erforderlich.

 

Sachverhalt

Der Angeklagte ermordete seinen 6-jährigen Sohn, den Lebensgefährten seiner geschiedenen Frau sowie die zufällig anwesende Cousine des Lebensgefährten.

Seine Ex-Frau, die minderjährigen Kinder ihres Lebensgefährten sowie dessen Mutter und seine Geschwister, der Ehemann der Cousine sowie dessen minderjährigen Kinder, ihre Eltern und ihre Schwester verlangen jeweils i.R.v. Adhäsionsanträgen Hinterbliebenengeld gem. § 844 Abs. 3 S. 1 BGB.

 

Entscheidung

Die Adhäsionsanträge sind begründet. Zwischen allen Adhäsionsklägern und den Getöteten bestanden besondere persönliche Näheverhältnisse.

 

Ein Einzelnen:

  1. Ex-Frau des Angeklagten (Mutter des getöteten Sohnes und Lebensgefährtin des Getöteten): Das besondere persönliche Näheverhältnis zu ihrem Sohn wird gem. § 844 Abs. 3 S. 2 BGB vermutet. Hinsichtlich ihres getöteten Lebenspartners ergibt sich dieses daraus, dass eine soziale Beziehung bestand, die in den in § 844 Abs. 3 S. 2 BGB genannten Fällen typischerweise besteht. Es bestand ein gemeinsamer Haushalt, sie konnten sich zwar noch nicht verloben, da der Getötete noch verheiratet war, versprachen sich jedoch nach der Scheidung zu heiraten. Die Adhäsionsklägerin war zudem von dem Getöteten schwanger.
  2. Minderjährige Kinder, Mutter des Getöteten (Lebensgefährte): Das besondere persönliche Näheverhältnis wird auch hier gem. § 844 Abs. 3 S. 2 BGB vermutet.
  3. Geschwister des Getöteten (Lebensgefährte): Verhältnis entspricht dem zur Mutter. Die persönlichen Beziehungen waren in der gesamten Familie trotz erheblicher räumlicher Trennung eng. Die Beziehungen sind so eng, dass die Familie die Ex-Frau des Angeklagten nach der Tat bei sich aufnahmen und unterstützt diese bis heute.
  4. Ehemann, minderjährige Kinder, Eltern der Getöteten (Cousine): Auch hier wird das besondere Näheverhältnis gem. § 844 Abs. 3 S. 2 BGB vermutet.
  5. Schwester der Getöteten (Cousine): Verhältnis zwischen ihr und der Getöteten entspricht der Intensität nach dem Verhältnis zwischen der Getöteten und ihren Eltern. Trotz erheblicher räumlicher Trennung waren die persönlichen Beziehungen in der gesamten Familie eng. Es bestand ständiger Kontakt und man besuchte sich regelmäßig. Die gesamte Familie ist durch die Todesfälle erschüttert und es wird sich gegenseitig unterstützt, um das Geschehen zu verarbeiten.

Die Bemessung des Hinterbliebenengeldes steht im Ermessen des Gerichts. Sie soll dem Hinterbliebenen einen Ausgleich für das ihm zugefügte seelische Leid bieten. Eine eigene Gesundheitsbeeinträchtigung ist hierfür jedoch nicht erforderlich. Maßgeblich bemisst sich die Höhe durch die Intensität der Beeinträchtigung, die durch den Verlust entstanden ist. Der Durchschnittsbetrag pro Geschädigtem beträgt nach der Gesetzesbegründung 10.000€. Zudem kann sich an der Schockschadensrechtsprechung orientiert werden, bei der Schmerzensgelder i.H.v. 20.000€ oder darüber zugesprochen wurden.

Da das persönliche Leid, das noch keine eigene Gesundheitsbeeinträchtigung in Form eines Schockschadens darstellt, nur schwer festzustellen ist, hat die Bemessung neben den objektiven Bemessungskriterien auch nach Typisierungen zu erfolgen. Weiterhin ist die Schwere des Verschuldens des Schädigers sowie ein eventuelles Mitverschulden des Getöteten zu berücksichtigen, § 253 Abs. 2 BGB entsprechend, §§ 846, 254 BGB.

 

Zur Bemessung:

  1. Ex-Frau des Angeklagten (Mutter des getöteten Sohnes und Lebensgefährtin des Getöteten): Es besteht sowohl hinsichtlich des Sohnes als auch hinsichtlich des Lebensgefährten ein Anspruch auf Hinterbliebenengeld. Der Verlust des eigenen Kindes ist für ein Elternteil der potentiell schlimmste Verlust. Erschwerend wirkt es zudem, dass die Adhäsionsklägerin die Tat weitestgehend selbst mitansehen musste und sich diese schlimmen Bilder tief in ihr Gedächtnis gebrannt haben. Bis heute leidet sie unter dem Verlust insb. ihres Sohnes und hat bisher noch keine Therapie angefangen, da sie meint, dass sie für ihr ungeborenes Kind „stark“ sein müsse und versucht die Tat zu verdrängen. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass das Verschulden des Angeklagten äußerst schwer wiegt und kein Mitverschulden der Getöteten vorlag. Daher ist für den Verlust des Sohnes ein Hinterbliebenengeld i.H.v. 20.000€ und für den Lebensgefährten i.H.v. 10.000€ angemessen.
  2. Minderjährige Kinder des Getöteten (Lebensgefährte): Die Kinder lebten nach der Trennung ihrer Eltern zwar bei ihrer Mutter, besuchten den Vater zuletzt jedoch regelmäßig an den Wochenenden und teilweise auch unter der Woche. Sie arrangierten sich mit der Trennung weitestgehend und waren gerne bei ihrem Vater. Auch mit der neuen Lebensgefährtin ihres Vaters (Ex-Frau des Angeklagten) sowie ihrem Sohn verstanden sie sich gut. M. war noch zu jung um zu verstehen, dass sein Vater nicht mehr kommt, V. weinte lange viel und konnte nicht mehr so gute Leistungen in der Schule erbringen und muss evtl. eine Klasse wiederholen. D. stritt sich kurz vor dem Tod seines Vaters mit ihm und hatte keine Möglichkeit mehr, sich mit ihm wieder zu vertragen. Daher ist jeweils ein Betrag i.H.v. 20.000€ angemessen.
  3. Ehemann, minderjährige Kinder, Eltern der Getöteten (Cousine): Der Ehemann und die Kinder der Getöteten verloren ihre Familienstruktur. Ehemann V. ist bisher für die Familie arbeiten gegangen und die Getötete hatte sich um die Kinder gekümmert. Es war bereits konkret geplant, dass sich V. mit einem eigenen Friseursalon selbstständig macht. Nun muss sich V um die Kinder kümmern und musste hierfür seinen Job aufgeben, sodass die Familie auf staatliche Unterstützung angewiesen ist. Er kommt mit der neuen Situation nicht zurecht. Kind S. verlor seine Mutter in sehr frühem Alter, in dem noch eine besondere Abhängigkeit zwischen ihm und der Mutter besteht. Er konnte die Tat nicht verstehen und fragt heute noch nach seiner Mutter. Zudem war er bei der Tat in der Wohnung und hat die Tat teilweise mitansehen müssen. Deshalb ist ein Hinterbliebenengeld i.H.v. 20.000€ angemessen.
  4. Übrige Adhäsionskläger: Mutter und Geschwister des Getöteten (Lebensgefährte) und Schwester und Eltern der Getöteten (Cousine): Auch sie leiden erheblich unter dem Verlust ihrer Nahestehenden und können sich die Tat nicht erklären, da der Angeklagte die V. P. (Cousine) tötete, obwohl er sie nicht kannte. Hier ist jeweils der Durchschnittsbetrag i.H.v. 10.000€ angemessen.

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Hinterbliebenengeld XXIII: Besonderes persönliches Näheverhältnis auch bei Liebesbeziehungen

Michael PeusMichael Peus

OLG Celle, Beschl. v. 21.09.2022 – 5 U 97/22

 

zur tabellarischen Übersicht Stand 07/23zur textlichen Darstellung Stand 07/23

 

Leitsatz (redaktionell)

Für den Grund des Anspruchs kommt es nicht darauf an, wie lange die Liebesbeziehung bestanden hat, wenn es sich um ein persönliches, besonderes Näheverhältnis handelt. Dieses setzt den Nachweis einer tatsächlich gelebten sozialen Beziehung voraus, deren Intensität derjenigen entspricht, die in den in § 844 Abs. 3 S. 2 BGB aufgeführten Fällen typischerweise besteht; dies kann etwa bei Partnern einer ehe- oder lebenspartnerschaftsähnlichen Gemeinschaft, Verlobten, Stief- und Pflegekindern sowie Geschwistern der Fall sein.

 

Sachverhalt

Der Kläger verlangt u.a. Hinterbliebenengeld i.H.v. min. 6.000€ wegen eines Verkehrsunfalls am 07.01.2022, bei dem seine Partnerin ums Leben kam. Die Partnerin des Klägers verstarb noch an der Unfallstelle.

Der Kläger macht geltend, dass er mit der Verstorbenen eine dreimonatige Liebesbeziehung gehabt habe. Sie seien „schwer verliebt“ gewesen und sie habe ihren Lebensmittelpunkt in seine Wohnung verlagert. Aus seiner Sicht sei ein Hinterbliebenengeld i.H.v. 10.000€ angemessen. Die genaue Höhe werde in das Ermessen des Gerichts gestellt, jedoch verlange er mindestens 6.000€.

Die Beklagte meint, es läge kein besonderes persönliches Näheverhältnis zwischen der Verstorbenen und dem Kläger vor.

Entscheidung

Das OLG folgt dem erstinstanzlichen Urteil, wonach der Kläger einen Anspruch auf  Hinterbliebenengeld i.H.v. 5.000 € habe. Zwischen dem Kläger und der Verstorbenen habe ein besonderes persönliches Näheverhältnis i.S.d. § 10 Abs. 3 S. 1 StVG bestanden.

  1. Eine Liebesbeziehung zwischen dem Kläger und der Verstorbenen genüge für einen Anspruch auf Hinterbliebenengeld. Darauf, wie lange die Beziehung gedauert habe, kommt es nicht an, solange ein besonderes, persönliches Näheverhältnis besteht. Für ein solches Näheverhältnis muss eine tatsächlich gelebte, soziale Beziehung nachgewiesen werden, wie sie in den in § 844 Abs. 3 S. 2 BGB genannten Fällen normalerweise besteht. So eine Beziehung könne daher z.B. auch bei Partnern in einer ehe- oder lebenspartnerschaftsähnlichen Gemeinschaft, Verlobten, Stief- und Pflegekindern sowie Geschwistern bestehen. Die Dauer dieser besonderen persönlichen Nähebeziehung kann ggf. bei der Bemessung der „angemessenen Entschädigung“ eine Rolle spielen. Das Landgericht hat eine solche Beziehung zwischen dem Kläger und der Verstorbenen nach Beweisaufnahme fehlerfrei angenommen. Der Kläger und die Verstorbene trafen sich bereits häufiger, bevor sie ihrem Verständnis nach „zusammen waren“ und lernten sich bereits 3-4 Jahre vor der Beziehung kennen. Daher ist es nachvollziehbar, dass der Vater schon eher eine Beziehung zwischen dem Kläger und der Verstorbenen annahm.
  2. Die kurze Dauer der Beziehung steht dem ebenfalls nicht entgegen. Das Paar kannte sich zudem bereits längere Zeit.
  3. Vertretbar habe das Landgericht einen Richtwert i.H.v. 10.000€ angesetzt und die kurze Dauer der Beziehung durch einen Abschlag i.H.v. 50% berücksichtigt. Dass das Landgericht Tübingen einem Bruder ein Hinterbliebenengeld i.H.v. 5.000€ zusprach, führt nicht dazu, dass der dem Kläger zugesprochene Betrag unangemessen ist. Es erschließt sich nicht, warum eine Liebesbeziehung „weniger wert“ sein sollte als ein Verhältnis unter Geschwistern.
  4. Eine „Binnengerechtigkeit“ zwischen den einzelnen Hinterbliebenenfällen ist schlicht nicht möglich, zudem hängt die Bemessung von vielen Faktoren ab (z.B. verwandtschaftliche Beziehung, Dauer des Kontakts, Gefühl der Verbundenheit, Zahl der Treffen), wodurch keine genaue Bemessung stattfinden kann.

 

Anmerkung:

Der BGH hatte im Urteil vom 28.10.2021, 4 StR 300/21, eine anbändelnde Partnerschaft nicht als ausreichendes Näheverhältnis angesehen. Das Ergebnis des OLG Celle widerspricht dem aber nicht. Denn der BGH hatte einen Fall zu bewerten, in dem sich die Partner erst zwei Monate vor dem Todesfall angenähert hatten, die „Beziehung“ wohl erst 1 Woche vor dem Todestag stabilisiert war und ohnehin noch geheimgehalten wurde. Vorliegend kannten sich die Beteiligten bereits 3-4 Jahre und es machte nach außen offensichtlich den Eindruck, als wären die Beteiligten schon länger in einer Beziehung. Wenn diese dann „erst“ 2-3 Monate tatsächlich als „formal zusammengekommen“ subjektiv gewertet wurde, ist das mit dem Fall des BGH nicht vergleichbar.

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Hinterbliebenengeld (XXII): Bemessung: Verlust des Kindes infolge eines Gewaltdelikts

Michael PeusMichael Peus

LG Dessau-Roßlau, Urt. v. 22.10.2021 – 4 O 220/20

 

zur tabellarischen Übersicht Stand 07/23zur textlichen Darstellung Stand 07/23

 

Leitsätze (amtlich)

  1. Ein besonderes persönliches Näheverhältnis wird vermutet, wenn der Hinterbliebene der leibliche Vater des Getöteten war.
  2. Bei Verlust eines Kindes infolge eines Gewaltdelikts kann die Leistung eines Hinterbliebenengeldes in Höhe von 20.000€ angemessen sein, wobei der in der Gesetzesbegründung zu § 844 Abs. 3 BGB genannte Betrag von 10.000€ keine Obergrenze, sondern lediglich eine Orientierungshilfe für die Bemessung darstellt.

 

Sachverhalt

Der Kläger verlangt von dem Beklagten u.a. Hinterbliebenengeld, welches aus seiner Sicht 20.000€ betragen müsse. Sein 30-jähriger Sohn starb infolge einer Körperverletzung durch den Beklagten. Der Getötete war am Tattag nachmittags mit einer Bekannten auf dem Weg zu einem Einkaufzentrum. Vor dem Eingang traf er den Beklagten, mit dem er eine verbale Auseinandersetzung hatte. Als ihn der Beklagte mit der Faust ins Gesicht schlug, stürzte er mit dem Hinterkopf auf den Betonboden und erlitt dadurch ein schweres Schädel-Hirn-Trauma mit massiven Hirnblutungen und eine Schädelbasisfraktur. Er verstarb nach einer erfolglosen Notoperation noch am Abend.

 

Entscheidung

Die Klage ist nach Ansicht des Landgerichts teilweise begründet. Als Hinterbliebenengeld urteilte das Landgericht 20.000 € aus. Es begründete dies wie folgt:

  1. Nach § 844 Abs. 3 BGB hat „der Ersatzpflichtige dem Hinterbliebenen, der zur Zeit der Verletzung zu dem Getöteten in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis stand, für das dem Hinterbliebenen zugefügte seelische Leid eine angemessene Entschädigung in Geld zu leisten. Ein besonderes persönliches Näheverhältnis wird vermutet, wenn der Hinterbliebene der Ehegatte, der Lebenspartner, ein Elternteil oder ein Kind des Getöteten war“. Vorliegend ist der Kläger der Vater des Getöteten. Ein besonderes persönliches Näheverhältnis wird damit vermutet, § 844 Abs. 3 S. 2 BGB.
  2. Diese Vermutung konnte auch nicht widerlegt werden. Sofern der Beklagte behauptet, der Kläger sei schon seit über 10 Jahren aus der Wohnung des Klägers ausgezogen und es bestand aufgrund einer Drogenabhängigkeit und Straffälligkeit keine enge Beziehung mehr zu seinem Vater, konnte dies nicht festgestellt werden. Im Rahmen der Beweisaufnahme bekundeten die glaubhaften Zeugen, dass der Kläger ein enges Verhältnis zu seinem Sohn hatte: Der Verstorbene habe bis zu seinem Auszug bei seinem Vater gewohnt, und sie hätten ein sehr enges Vater-Sohn-Verhältnis gehabt und in ihrer Freizeit gemeinsam etwas unternommen (z.B. Angeln, Fußballspielen). Der Verstorbene habe außerdem seinen Vater bei dem Umbau seines Hauses geholfen, der sich über ein Jahr erstreckte. Eine Drogenabhängigkeit und ein antisoziales Verhalten aufgrund der Straffälligkeit habe es nicht gegeben. Der Verstorbene habe mit seiner Freundin ihre gemeinsame Wohnung umgebaut und geplant, eine Familie zu gründen. Der Kläger schilderte ebenfalls, er habe ein inniges Verhältnis zu seinem Sohn gehabt. Bis er 25 war, habe er bei ihm gewohnt und sie hätten gemeinsame Freizeitaktivitäten unternommen und persönliche Gespräche geführt, die ihre Beziehung noch verstärkt hätten. Daher liegt ein besonderes persönliches Näheverhältnis zwischen dem Kläger und seinem Sohn vor. Durch den Tod seines Sohnes erlitt der Kläger auch „seelisches Leid“.
  3. Zwischenergebnis: Dem Kläger steht damit ein Anspruch auf ein angemessenes Hinterbliebenengeld gem. § 844 Abs. 3 BGB zu.
  4. Die Bemessung des Hinterbliebenengeldes liegt im Ermessen des Gerichts, das unter Billigkeitsgesichtspunkten auszuüben ist. Hierbei dürfte jedoch das seelische Leid als konkrete Beeinträchtigung maßgeblich sein. Für die Bemessung allgemeine Kriterien zu finden, gestaltet sich jedoch schwierig, da seelische Beeinträchtigungen besonders komplex sind und ihre Dauer nicht prognostizierbar ist. Daher kann keine schematische Bemessung, z.B. nach der Art des Verwandtschaftsverhältnisses erfolgen. Bei der Bemessung ist jedoch § 287 ZPO anwendbar und im Einzelfall sind z.B. das Alter des Verstorbenen, der Verwandtschaftsgrad, die individuelle Qualität der Beziehung, individuelle Umstände des Sterbens mit Auswirkung auf die Trauerbewältigung, subjektive Umstände der Bewältigung der Trauer, Intensität des Näheverhältnisses, wirtschaftliche Folgelasten, das Verhalten des Schädigers, soweit es leidenserhöhend wirkt und das Mitverschulden des Verstorbenen zu berücksichtigen.
  5. In seiner Gesetzesbegründung ging der Gesetzgeber von einem Durchschnittsbetrag i.H.v. 10.000€ aus, der eine „Orientierungshilfe“ für die Bemessung darstellt. Weiterhin müsse sich die Bemessung des Hinterbliebenengeldes in das stimmige Gesamtgefüge der deutschen und europäischen Rechtsprechung zum Schmerzens- und Hinterbliebenengeld einfügen [Anmerkung: das ist entsprechend BGH, Urt. v. 06.12.2022 – VI ZR 73/21, falsch!]. In vergleichbaren Fällen würden in Europa deutlich höhere Beträge zugesprochen. So wurden in Österreich Beträge i.H.v. 10.000 – 25.000€ gezahlt, in der Schweiz 20.000 – 40.000 sFr und in England beträgt der gesetzlich festgeschriebene Betrag 12.980 Pfund.
  6. Das Landgericht befand ein Hinterbliebenengeld i.H.v. 20.000€ als angemessen. Anspruchserhöhend ist zu berücksichtigen, dass der Vater zum allerengsten Familienkreis des Verstorbenen gehörte und es für Eltern nichts Schlimmeres gilt, als ihr Kind zu verlieren. Daher ist diese Konstellation nach der Rechtsprechung an der Obergrenze des Hinterbliebenengeldes Der Kläger hatte nur ein Kind, das mit seinen 30 Jahren noch das Leben vor sich hatte. Er baute mit seiner Freundin die gemeinsame Wohnung um und wollte ein Familienleben gründen. Trotz dessen, dass der Sohn bereits ausgezogen und erwachsen war, bestand ein sehr enges und inniges Vater-Sohn-Verhältnis mit regelmäßigem persönlichen Kontakt. Der Kläger verlor seinen Sohn durch eine vorsätzliche Straftat. Dem persönlichen Eindruck in der mündlichen Verhandlung nach, leidet er sehr unter dem Tod seines Sohnes insb. dadurch, dass er durch eine vorsätzliche Straftat gestorben ist und für ihn strafrechtliche Verurteilung des Beklagten (Freiheitsstrafe, ausgesetzt zur Bewährung) nicht angemessen ist. Ein Mitverschulden des Verstorbenen ist hingegen nicht zu berücksichtigen. Es konnte nicht bewiesen werden, dass sich der Verstorbene aufgrund der eingenommenen Amphetamine, Metamphetaminen und der Antidepressiva sich infolge des Schlages durch den Beklagten nicht abfangen konnte und deshalb ungebremst mit dem Kopf auf den Boden aufschlug.
  7. Nicht anspruchserhöhend war es zu werten, dass der Beklagte nach der Tat den Tatort verließ. Für den Beklagten war die schwere Kopfverletzung nicht zu erkennen. Der Verstorbene habe geatmet und seine Begleitung war bei ihm. Diese ging selbst nicht von einer schweren Kopfverletzung aus.

Hinsichtlich der Feststellung ist der Antrag abzuweisen. Der Verlust eines Angehörigen ist ein einmaliger Vorgang. Der Anspruch auf Hinterbliebenengeld wird mit einer Einmalzahlung vollständig abgegolten. Ein weiterer Anspruch kann sich hieraus nicht ergeben.

Anmerkung

Die Entscheidung des Landgerichts ist mit Rechtsfehlern behaftet: Das LG bemisst das Hinterbliebenengeld der Höhe nach maßgeblich nach den in den europäischen Nachbarländern zugesprochenen Beträgen, damit sich der Betrag in die europäische Rechtsprechung einfügt. Die Bemessung des Hinterbliebenengeldes erfolgt jedoch nach der Rechtsprechung des BGH nur nach den deutschen Lebensverhältnissen und der deutschen Rechtsordnung und muss sich gerade nicht in die europäische Rechtsprechung einzufügen (vgl. BGH, Urt. v. 06.12.2022 – VI ZR 73/21). Ob eine Berufung oder ggfls. Revision eingelegt wurde, ist unbekannt.

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Hinterbliebenengeld (XXI): Bemessung des Hinterbliebenengeldes im Mordfall

Michael PeusMichael Peus

LG Nürnberg-Fürth, Urt. v. 09.12.2021 – 5 Ks 103 Js 2698/20

 

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Leitsatz (redaktionell)

Bei vorsätzlichen Tötungen ist es angemessen, über die Höhe der bei fahrlässigen Tötungen zugesprochenen Hinterbliebenengeldbeträge hinauszugehen.

 

Sachverhalt

Infolge des vorsätzlichen Mordes an einem 63-Jährigen beantragen die Ehefrau und der erwachsene Sohn Hinterbliebenengeld.

 

Entscheidung

Der Ehefrau des Getöteten steht ein Hinterbliebenengeld gem. § 844 Abs. 1, 3 BGB i.H.v. 20.000€ und dem Sohn i.H.v. 15.000€ zu.

Die Bemessung des Hinterbliebenengeldes erfolgt nach dem Normzweck des historischen Gesetzgebers: Die in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis zum Getöteten stehenden Personen sollen durch das Hinterbliebenengeld in die Lage versetzt werden, ihre durch den Verlust dieser besonders nahestehenden Menschen verursachte Trauer sowie ihr seelisches Leid zu lindern. Die Beurteilung der genauen Höhe steht im Ermessen des Gerichts erfolgt im Einzelfall, § 287 ZPO. 2017 nahm der Gesetzgeber im Rahmen eines Gesetzesentwurfes zur Schockschadenrechtsprechung des BGHs einen durchschnittlichen Festsetzungsbetrag i.H.v. 10.000€ an.

Im vorliegenden Fall hat das Landgericht bei der Bemessung des Hinterbliebenengeldes berücksichtigt, dass der Getötete für seine Ehefrau der zentrale Lebensmittelpunkt war. Der Sohn des Getöteten pflegte eine enge Beziehung zu seinem Vater, die sich mit der Geburt seiner Kinder und der Rolle Ermordeten als Großvater noch weiter intensivierte. Zudem tötete der Angeklagte absichtlich, ihn trifft daher im Vergleich zu fahrlässigen Tötungen z.B. bei Verkehrsunfällen, ein höherer Verschuldensgrad. In diesen Fällen lagen die den Angehörigen zugesprochenen Beträge bisher zwischen 3.000€ und 15.000€. Aufgrund des gesteigerten seelischen Leids und der gesteigerten Trauer über den Verlust bei nahestehenden Personen, die aufgrund einer vorsätzlichen Straftat einen Angehörigen verlieren, hält es das Landgericht jedoch im vorliegenden Fall für angemessen, über diese Beträge hinauszugehen.

 

Anmerkung:

Dem Urteil des LG Nürnberg steht der Unterzeichner kritisch gegenüber. Das Landgericht hat recht oberflächlich Stellung genommen und entgegen der ihm zukommenden Aufgabe nach § 287 ZPO nicht berücksichtigt, dass sich grundsätzlich Entscheidungen auch in den Rahmen anderer Entscheidungen einfügen müssen. Bei einem anderen vorsätzlichen Tötungsdelikt hat das Landgericht München II im Urteil vom 18. Dezember 2020, Az. 1 Ks 31 Js 47130/18, 7.500 € für Kinder eines Verstorbenen ausgeurteilt, die noch im Alter von 14 bis 19 waren. Das Gericht hat bei dem 34-jährigen Sohn, der inzwischen seine eigene Familie aufgebaut hatte, auch nicht berücksichtigt, dass eine solche natürliche Lösung von den Eltern stets senkend berücksichtigt wird (LG Münster Urteil vom 16.07.2020 – 2 Ks-30 Js 206/19-23/19; LG München II, Endurteil vom 17.05.2019 – 12 O 4540/18; OLG Koblenz, Beschluss vom 31.08.2020 – 12 U 870/20). Es hätte daher nahegelegen, dem Sohn ebenfalls maximal 10 TEUR zuzusprechen und der Witwe in Anlehnung an Landgericht Tübingen, Urteil vom 17. Mai 2019, Az. 3 O 108/18, 12.000 €.

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Kein Unterlassungsanspruch bei Veröffentlichung von Tagebuchzitaten

BGH, Urt. v. 16.05.2023 – VI ZR 116/22

 

Leitsätze (redaktionell)

  1. 353d Nr. 3 StGB ist kein Schutzgesetz i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB. Da § 353d Nr. 3 StGB bloß eine abstrakte Gefährdung und damit keine Beeinträchtigung des Schutzguts und keine einzelfallbezogene Abwägung der widerstreitenden Interessen voraussetzt, würde die deliktische Einstandspflicht unzulässig vorverlagert.
  2. Private Dokumente, die amtlich verwahrt werden (z.B. aufgrund einer Beschlagnahme) sind keine amtlichen Dokumente i.S.d. § 353d Nr. 3 StGB.

 

Sachverhalt

Gegen den Kläger wird aufgrund des Verdachtes der Steuerhinterziehung mittels Cum-Ex-Geschäften ermittelt. Im Zuge der Ermittlungen beschlagnahmte die Staatsanwaltschaft seine Tagebücher. Der Beklagten wurde der Inhalt dieser Tagebücher bekannt und sie veröffentlichte auf ihrer Internetseite www.sueddeutsche.de einen Artikel, in dem sie über eine mögliche Einflussnahme der Hamburger Politik auf die Entscheidungen der Finanzbehörden im Zusammenhang mit Steuerrückforderungen nach Cum-Ex-Geschäften berichtet und darin auch einige wörtliche Zitate aus den Tagebüchern des Klägers verwendet. Ebenso beschäftigt sich ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss in Hamburg mit diesem Thema. Der Kläger verlangt Unterlassung.

Erstinstanzlich hat das Landgericht die Veröffentlichung von 16 Textpassagen verboten. Das OLG hat die Berufung des Beklagten größtenteils zurückgewiesen aber das Verbot der Veröffentlichung zweier Textpassagen, die inzwischen im parlamentarischen Untersuchungsausschuss verlesen worden waren, aufgehoben.

Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihr Begehren, die Klage abzuweisen, weiter.

 

Entscheidung

Mit Erfolg! Der Kläger hat keinen Anspruch auf Unterlassung der Veröffentlichung der Zitate aus seinen Tagebüchern.

Für einen Anspruch aus § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog, § 823 Abs. 2 BGB, § 353d Nr. 3 StGB fehlt es schon an der Verletzung eines Schutzgesetzes. § 353d Nr. 3 StGB stellt kein Schutzgesetz i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB dar. Die Norm schützt zwar den von einem Strafverfahren Betroffenen vor einer vorzeitigen Bloßstellung, lässt aber bereits eine abstrakte Gefährdung des geschützten Rechtsguts ausreichen. Es kommt nicht darauf an, ob die Schutzgüter tatsächlich beeinträchtigt oder verletzt sind und es wird keine Abwägung der widerstreitenden Interessen im Einzelfall vorausgesetzt. Es ist daher nicht vertretbar wohlmöglich ohne die Beeinträchtigung eines Schutzgutes und ohne einzelfallbezogene Abwägung mit den Rechten Dritter (hier: Art. 5 Abs. 1 GG, Art. 10 EMRK) aufgrund der abstrakten Gefahr der vorzeitigen Bloßstellung des Betroffenen die deliktische Einstandspflicht derart vorzuverlagern.

Die Betroffenen sind durch die Schadensersatz- und Unterlassungsansprüche aus § 823 Abs. 1, 1004 Abs. 1 S. 1 BGB analog, Art. 1, Art. 2 Abs. 1 GG ausreichend geschützt.

Zudem handelt es sich bei den Tagebüchern nicht um „amtliche Dokumente“ eines Strafverfahrens i.S.d. § 353d Nr. 3 StGB. Aufzeichnungen privater Urheber sind nicht von § 353d Nr. 3 StGB umfasst und werden durch die Beschlagnahmung o.ä. nicht zu amtlichen Dokumenten. Eine weite Auslegung des Begriffs verbietet sich aufgrund von Art. 5 GG, Art. 10 EMRK und Art. 103 Abs. 2 GG. Hätte der Gesetzgeber gewollt, dass auch private Dokumente dem § 353d Nr. 3 StGB unterfallen, hätte er dies z.B. durch die Formulierung „amtlich verwahrte Dokumente“ aufgrund des Art. 103 Abs. 2 GG klarstellen müssen.

Dem Kläger steht auch kein Anspruch auf Unterlassung gem. § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog, § 823 Abs. 1 BGB zu. Die Veröffentlichung der Zitate aus seinen Tagebüchern berührt zwar sein allgemeines Persönlichkeitsrecht in Form der Vertraulichkeitssphäre und seines sozialen Geltungsanspruchs, jedoch überwiegt das Informationsinteresse der Öffentlichkeit und das Recht der Beklagten auf Meinungs- und Medienfreiheit. Dabei kommt der Meinungs- und Medienfreiheit ein besonders hoher Stellenwert zu. Durch ihren Artikel leistete die Beklagte einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung, die ein Thema betrifft, dass zu dieser Zeit auch Thema im parlamentarischen Untersuchungsausschuss ist. Das überragende Informationsinteresse der Öffentlichkeit erstreckt sich ebenso auf die streitgegenständlichen Textstellen aus dem Tagebuch des Klägers. Im Beitrag der Beklagten haben diese einen besonderen Dokumentationswert, denn sie belegen und bestärken die Ansicht der Beklagten, es bestehe der Verdacht, dass hochrangige Politiker Hamburgs Einfluss auf die Entscheidungen der Finanzbehörden im Rahmen von Steuerrückzahlungen nach Cum-Ex-Geschäften genommen haben. Die Beeinträchtigung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts hat der Kläger daher hinzunehmen.

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Verkehrssicherungspflicht V: Erkennbare Sonnenschirmständer sind keine Gefahrenquelle

Michael PeusMichael Peus

OLG Hamm, Beschl. v. 22.12.2021 – 11 U 169/21

 

Leitsatz (amtlich)

In der Fußgängerzone aufgrund ihrer Größe und farblichen Absetzung zum Pflaster deutlich zu erkennende Sonnenschirmständer stellen keine abhilfebedürftige Gefahrenstelle dar, wenn sie von vorbeigehenden Fußgängern durch einen beiläufigen Blick erkannt und problemlos umgangen werden können.

 

Sachverhalt

Der Kläger verlangt infolge eines Sturzes von der Beklagten u.a. Schmerzensgeld i.H.v. 5.000€. Die Beklagte betreibt ein Café in der Fußgängerzone in der Stadt C. Die Gehwegflächen durfte die Beklagte aufgrund einer Sondergenehmigung der Stadt C. als Außengastronomie nutzen. Dort stellte die Beklagte Sonnenschirme, Tische und Stühle auf. Infolge einer Unwetterwarnung des Deutschen Wetterdienstes baute die Beklagte die Schirme, Tische und Stühle vorrübergehend ab. Die Sonnenschirmständer, die mit jeweils vier Gehwegplatten beschwert waren, ließ sie stehen. Die Ständer sind 86x86cm groß und haben einen Ständerrand von 6cm Höhe und einen mittigen Ständerholm mit 42cm Höhe.

Der Kläger behauptet infolge dessen, dass sie einem Kinderwagen habe ausweichen wollen, über einen der Schirmständer gestolpert, anschließend gefallen sei und sich dabei eine nicht-dislozierte Radiusfraktur mit Einstrahlung in den radiokarpalen Gelenkspalt zugezogen zu haben. Die Beklagte habe durch die Schirmständer eine nicht erkennbare Stolperfalle geschaffen und dadurch, dass sie diese nicht beseitigt habe, gegen ihre Verkehrssicherungspflicht verstoßen.

Das Landgericht wies die Klage ab. Sein Begehren verfolgt der Kläger mit der Berufung weiter.

 

Entscheidung

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Schmerzensgeld gem. §§ 823 Abs. 1, 31, 831 BGB. Die Schirmständer stellen keine abhilfebedürftige Gefahrenstelle dar. Jeder Verkehrssicherungspflichtige, der eine Gefahrenlage schafft, hat grds. alle ihm notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um möglichst eine Schädigung anderer zu verhindern. Jedoch muss nicht für alle denkbaren, auch entfernt liegenden Möglichkeiten eines Schadenseintritts vorgesorgt werden. Geschützt werden muss der Dritte nur, wenn er sich in der konkreten Situation mit der von ihm zu erwartenden Sorgfalt erfahrungsgemäß nicht vor der Gefahr schützen kann, weil diese nicht oder nicht rechtzeitig erkannt werden und sich deshalb nicht darauf eingerichtet werden kann.

Wenn der Verkehrssicherungspflichtige die Gefahrenquelle selbst schafft, ist ein besonders strenger Maßstab anzulegen. Gerade in Fußgängerzonen, die von vielen Leuten benutzt werden und in denen die Schaufenster der Geschäfte die Aufmerksamkeit der Leute erregen, sind bei der Vermeidung von Stolperfallen erhöhte Anforderungen zu stellen.

Vorliegend stellen die Schirmständer jedoch keine abhilfebedürftige Gefahrenquelle dar. Die Sonnenschirmständer waren für Fußgänger ohne weiteres erkennbar. Die hellen Gehwegplatten, die zur Beschwerung der Ständer dienen, bilden einen deutlichen Kontrast zum dunklen Pflastersteinboden und eine größere Fläche und sind dadurch gut zu erkennen. Der dunkle Ständerholm war aufgrund der hellen Platten ebenfalls gut erkennbar. Hierfür spricht auch der Vergleich mit dem sich am Rand befindlichen Pflanzbeet. Dieses Pflanzbeet ist mit Steinen eingefasst, die ungefähr gleich hoch wie die Gehwegplatten sind. Die Platten sind allerdings nochmal viel heller als die Steine des Beetes. Daher stellen die Schirmständer keine Stolperfalle dar. Der Schirmständer warnte vielmehr „vor sich selbst“.

Trotz des strengeren Maßstabs, der hier anzulegen ist, ist der Fußgänger jedoch nicht von seiner Pflicht befreit, durch regelmäßige beiläufige Blicke auf den Untergrund, deren Beschaffenheit, entgegenkommende Fußgänger und mögliche Hindernisse zu achten. Unter Beachtung dieser Sorgfalt, hätte der Kläger den Schirmständer genauso früh wie den Kinderwegen erkennen und sich hierauf einrichten können. Zumindest kurz vor dem Ausweichen hätte sich der Kläger durch einen kurzen Blick vergewissern müssen, dass der Weg frei ist. In diesem Falle hätte der Kläger den Schirmständer auch erkannt und sich hierauf einrichten können.

Dies bestätigte der Kläger letztlich auch selbst, indem er in seiner persönlichen Anhörung angab, dass der Schirmständer nicht von Gegenständen oder Personen verdeckt und er auch nicht abgelenkt gewesen sei. Er habe nur nicht darauf geachtet.

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