Nachweis grob fahrlässiger Unkenntnis beim SVT

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

BGH, Urteil vom 18. Oktober 2022, Az.: ZR 1177/20

 

Leitsätze

1. Hinsichtlich des Zeitpunkts des Anspruchsübergangs nach § 116 SGB X ist zu differenzieren. (Rn.15) Maßgeblich für die Differenzierung ist der Grund der Leistungserbringung und nicht der Träger der Leistung. Bei Sozialleistungen, die aufgrund eines Sozialversicherungsverhältnisses zu erbringen sind, findet der in § 116 Abs. 1 SGB X normierte Anspruchsübergang in aller Regel bereits im Zeitpunkt des schadenstiftenden Ereignisses statt, sofern das Versicherungsverhältnis schon zu diesem Zeitpunkt besteht. Bei Sozialleistungen, deren Gewährung nicht an das Bestehen eines Sozialversicherungsverhältnisses, sondern an andere Voraussetzungen gebunden ist, ist für den Rechtsübergang erforderlich, dass nach den konkreten Umständen des jeweiligen Einzelfalls eine Leistungspflicht ernsthaft in Betracht zu ziehen ist

2. Zur grob fahrlässigen Unkenntnis von Bediensteten der Regressabteilung (§ 199 Abs. 1 Nr. 2 Fall 1 BGB).

 

Entscheidung

Mit der Revision wird das Urteil des OLG Karlsruhe vom 24. Juli 2020 – 1 U 186/18 – aufgehoben, mit dem eine Anspruchsverjährung beim SVT bzw. der BfA wegen grob fahrlässiger Unkenntnis angenommen wurde. Das OLG hatte insbesondere ausgeführt, dass die behördeninternen Handlungs- und Regressanweisungen nicht hinreichend klar und ausreichend gewesen seien. Dem widerspricht nun der BGH:

Zunächst wiederholt der BGH seine mit Urteil vom 17. April 2012 – VI ZR 108/11 – aufgestellten Grundsätze: Der Regressabteilung ist die Durchsetzung der nach den §§ 116, 119 SGB X übergegangenen Schadensersatzansprüche übertragen. Sie hat diese Ansprüche im Anschluss an die Leistungen, die der Träger der Sozialversicherung dem geschädigten Versicherten gewährt hat, zügig zu verfolgen. Behördenintern hat sie in geeigneter Weise sicherzustellen, dass sie frühzeitig von Schadensfällen Kenntnis erlangt, die einen Regress begründen können. Die Verletzung dieser Obliegenheiten kann als grob fahrlässig zu bewerten sein, wenn ein Mitarbeiter der Regressabteilung aus ihm zugeleiteten Unterlagen in einer anderen Angelegenheit ohne weiteres hätte erkennen können, dass die Möglichkeit eines Regresses in einem weiteren Schadensfall in Betracht kommt, und er die Frage des Rückgriffes auf sich beruhen lässt, ohne die gebotene Klärung der für den Rückgriff erforderlichen Umstände zu veranlassen. Gleiches gilt, wenn die Mitarbeiter der Regressabteilung erkennen mussten, dass Organisationsanweisungen notwendig sind oder vorhandene Organisationsanweisungen von den Mitarbeitern der Leistungsabteilung nicht beachtet wurden und es deswegen zu verzögerten Zuleitungen von Vorgängen kam (Fortführung BGH, Urteil vom 17. April 2012 – VI ZR 108/11).

Dann schränkt er jedoch ein: Auch in diesen Fallgestaltungen sei jedoch zu berücksichtigen, dass die (bloße) nachlässige Handhabung der vorbeschriebenen Obliegenheiten zur Begründung grober Fahrlässigkeit nicht genügten. Die Annahme grober Fahrlässigkeit erfordere die Feststellung eines schweren Obliegenheitsverstoßes; der Gläubiger müsse die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich grobem Maße verletzt haben. Nicht zu beanstanden sei zwar, dass das Berufungsgericht den SVT hinsichtlich der Erfüllung der vorbeschriebenen Obliegenheiten als sekundär darlegungsbelastet angesehen habe. Allerdings dürften die Anforderungen an die Substantiierung des Vortrags eines SVT zu den internen Abläufen in Zusammenhang mit der Durchsetzung von Regressansprüchen, insbesondere zu der Frage, welche Maßnahmen die Regressabteilung ergriffen hat, um sicherzustellen, dass sie frühzeitig von regressbegründenden Schadensfällen Kenntnis erlangt, nicht überspannt werden.

Im vorliegenden Fall genügte es dem BGH, dass der SVT die im Zuständigkeitsbereich der Bundesagentur für Arbeit ergriffenen Maßnahmen zur Organisation der Durchsetzung von Regressansprüchen dargelegt und die diesbezüglichen Dienstanweisungen, insbesondere den für den maßgeblichen Zeitraum relevanten „RD-Rundbrief“ vorgelegt hatte. Dort seien auf sechs Seiten konkrete Bestimmungen zum Erkennen von Regressfällen und zur Durchführung des Regressverfahrens enthalten. Unter der Überschrift „Allgemeines‟ werde die Bestimmung in § 116 SGB X erläutert und darauf hingewiesen, dass Schadensereignisse, die eine Haftung auslösen, bspw. Verkehrsunfälle sein könnten. Deshalb seien alle Fälle vorzulegen, in denen der Verdacht von Schadensersatzansprüchen der Bundesagentur für Arbeit bestehe. Unter der Überschrift „Erkennen von Regressfällen‟ werde erläutert, dass sich Hinweise auf mögliche Schadensersatzansprüche aus den Antragsunterlagen ergäben. Der Antrag auf Leistungen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben enthalte die konkrete Frage nach einem Unfallereignis. In der Folge würden das Regressverfahren bei der Gewährung von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe einerseits und die Einleitung des Regressverfahrens bei Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben (Reha-Regressverfahren) dargestellt. In beiden Fällen werde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der „Regressstelle bei der RD‟ bzw. dem „Fachgebiet Regress bei der RD‟ die regressrelevanten Unterlagen vorzulegen seien. Diese würden dann im Einzelnen bezeichnet. Während beim Regressverfahren in Bezug auf Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe bereits die erstmalige Anspruchsanmeldung durch das „Fachgebiet Regress‟ erfolgen solle, soll beim Regress aufgrund von Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben die erstmalige „Geltendmachung‟ noch durch die Agentur für Arbeit erfolgen. Hiermit sei ersichtlich die drei Zeilen weiter unten genannte Anzeige des Forderungsübergangs gegenüber dem Schädiger gemeint, die im Anschluss mit den anderen regressrelevanten Unterlagen dem „Fachgebiet Regress bei der RD‟ vorzulegen seien. Auf den Seiten 4 bis 6 befänden sich weitere sämtliche Regressverfahren betreffende Anweisungen. Es werde mehrfach darauf hingewiesen, dass die örtlich zuständigen Arbeitsagenturen zu prüfen hätten, ob ein Regressfall vorliegen könnte, und die erhobenen Unterlagen an die Regionaldirektion weiterzuleiten haben.

Soweit das OLG Karlsruhe gemeint habe, den Anweisungen zur Durchführung des Regresses fehle jedenfalls die notwendige Klarheit, habe es übersehen, dass die bloße nachlässige Handhabung von Obliegenheiten zur Begründung grober Fahrlässigkeit nicht genüge. Aufgrund der Ausgestaltung der Handlungsanweisungen etc. mussten die Mitarbeiter der Regressabteilung nicht mit Missverständnissen seitens der für Leistungsbewilligung zuständigen Mitarbeiter rechnen. Es sei jedenfalls weder festgestellt noch sonst ersichtlich, warum sich den Mitarbeitern der Regressabteilung ein entsprechendes Fehlverständnis seitens der Leistungsabteilung in grobe Fahrlässigkeit begründender Weise hätte aufdrängen müssen.

 

Anmerkung:

Der BGH „kassiert“ somit die durchaus beachtliche Entscheidung des OLG Karlsruhe, mit welcher zu Lasten der SVT argumentiert werden konnte, die verwendeten Organisation- und Handlungsanweisungen seien unzureichend. Zwar stellt der BGH an die Anforderung der Organisation- und Handlungsanweisungen keine strengen Anforderungen. Er bestätigt aber und trotz der für den SVT (die BfA) günstigen Entscheidung, dass bei der Bewertung grob fahrlässiger Unkenntnis die Qualität der Organisation- und Handlungsanweisungen zu bewerten sei. Sofern die Organisations- und Handlungsanweisungen unterhalb des im Urteil dargestellten Standards liegen, ist somit durchaus an grob fahrlässige Unkenntnis zu denken. Auch eine nachlässige Handhabung im Einzelfall ausreichender Organisation- und Handlungsanweisungen wird vom BGH wohl als Anknüpfung für grob fahrlässige Unkenntnis akzeptiert. Allerdings muss dann sowohl die Handhabe grob nachlässig gewesen und nachgewiesen sein (1), als auch hätte sie den Mitarbeitern der Regressabteilung genauso wie etwa ein eklatantes Fehlverständnis der Organisation- und Handlungsanweisungen in der Leistungsabteilung in grobe Fahrlässiger Weise auffallen müssen (2).

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Recht im Winter III – Aufsichtspflichten beim Rodeln und Skifahren

Michael PeusMichael Peus

AG Bonn, Urteil vom 09.02.2006 – 15 C 465/05

und

LG Augsburg, Endurteil vom 28.08.2017 – 34 O 8/17 (externer Link)

Sachverhalt („Rodeln‟, AG Bonn):

Ein 6-(knapp-7-)-jähriges Kind fährt alleine Schlitten. Die Aufsichtspflichtigen befanden sich ohne Zugriffsmöglichkeit auf das Kind in einiger Entfernung. Besondere Gefahrenmomente waren nicht erkennbar.  So ließen Winkel und Länge des „Rodelhangs‟ das Erreichen hoher Geschwindigkeit nicht zu.

Wegen des Umfallens eines Vorausfahrenden fuhr das Kind in diesen hinein und verletzte ihn im Gesicht. Dieser verlangte nun Schadensersatz und Schmerzensgeld.

Entscheidungsgründe:

Die Klage wurde abgewiesen, weil dem Geschädigten kein Anspruch zustünde. Die Aufsichtspflicht sei nicht verletzt worden:

  1. Nach Ansicht des Gerichtes können Eltern nicht ganz sieben Jahre alte Kinder auch ohne Aufsicht schlittenfahren lassen, wenn keine besonderen Gefahrenmomente erkennbar sind.
  2. Besondere Gefahrenmomente hätten nicht vorgelegen. Der Winkel und die Länge der Schrägfläche lassen keine besonderen Geschwindigkeiten mit den Schlitten zu. Es ist auch nicht unbedingt zu erwarten und damit nicht unbedingt damit zu rechnen, dass auf dieser Fläche ein Kind mit dem Schlitten im Alter von fast sieben Jahren umkippt und damit dann ein plötzliches Hindernis für ein zu beaufsichtigendes Kind bildet.
  3. Bei Schlitten handelt es sich im übrigen um ganz normale Kinderspielzeuge.
  4. Von daher sieht das Gericht keine Aufsichtspflichtverletzung, wenn an einer derartigen Stelle Kinder spielen, die immerhin schon im schulpflichtigem Alter sind. Das hieße nämlich, das Kinder in diesem Alter ohne Aufsicht überhaupt nicht mehr spielen dürfen.

Anmerkung:

Das Gericht führt hierzu in dem kurzen Urteil nicht weiter aus. Wir gehen davon aus, dass das Kind nicht zum ersten Mal den Schlitten nutzte, sondern schon darin geübt war. Hätte es sich „um die erste Schlittenfahrt im Leben des Kindes‟ gehandelt, könnte man den Sachverhalt in rechtlicher Hinsicht abweichend bewerten.

 

Sachverhalt („Skifahren‟, LG Augsburg):

Im Rahmen einer mehrtägigen (schulischen) Skifreizeit ließen Schullehrer den geschädigten dreizehnjährigen klagenden Schüler alleine einen Hang hinunterfahren, ohne auf diesen aufzupassen; sie befanden sich in größerer Entfernung. In den Vortagen wurde dieser Hügel bereits von den Teilnehmern der Skifreizeit erübt, befahren und auch vom Kläger ohne erkennbare Probleme bewältigt. Als der Kläger den Hang befuhr, verunfallte er, als sich die Bindung öffnete und er stürzte.

Entscheidungsgründe:

Zunächst war wegen der Schulbezogenheit (schulische Skifreizeit) einerseits die Angelegenheit unter den Grundsätzen der Amtshaftung zu bewerten. Ferner waren die Privilegien nach §§ 104 ff. SGB VII im Auge zu behalten.

Das Landgericht sah zwar eine Aufsichtspflichtverletzung als gegeben an:

Jedoch sind – wie ausgeführt – im Rahmen des Umfangs der Aufsichtspflicht neben den charakterlichen Eignungen der zu Beaufsichtigenden auch die örtlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen. Insoweit steht eine gänzliche, ca. 30-minütige -ca. 80m entfernte – Ortsabwesenheit des Zeugen G. vom Kinderskiland der ordnungsgemäß ausgeführten Aufsichtspflicht entgegen.

Es fehlte aber bereits an der Kausalität dieser Aufsichtspflichtverletzung. Denn auch wenn die Lehrer dort gewesen wären, hätten sie weder das Schließen der Bindung des Klägers kontrollieren müssen noch hätten sie ihm das Befahren des Hanges und der kleinen – bereits erübten Schanze – untersagen müssen.

Im Übrigen bestand keine Haftung, weil auch nicht der nach SGB VII erforderliche doppelte Vorsatz vorgelegen hätte.

Damit konnte der Kläger keinen Anspruch auf Schmerzensgeld verfolgen. Klarstellend: Selbstverständlich war der Kläger gesetzlich unfallversichert und hatte daher keine Kosten der Behandlung etc. selbst zu tragen.

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Recht im Winter II – der gelieferte Weihnachtsbaum

Michael PeusMichael Peus

OLG Düsseldorf, Urteil vom 18.11.2022 – 22 U 137/21

Leitsatz

Wird ein Vertrag über die Lieferung und Aufstellung eines Weihnachtsbaumes geschlossen, so trifft beide Vertragsparteien die Verkehrssicherungspflicht. Sie haften im Schadensfall im Außenverhältnis als Gesamtschuldner, § 421 BGB. Im Innenverhältnis kann indes auch nur der Lieferant haften.

Sachverhalt

Die Beklagte bot Eigentümern und Betreibern eines Einkaufszentrums an, einen Weihnachtsbaum auf ihrem Grundstück gegen eine „Spende“ von 1.500 – 2.100€ aufzustellen. Dies wurde umgesetzt. Der 6m hohe Baum wurde mit Ständer angeliefert und im Eingangsbereich draußen aufgestellt. Der Baum war in einem ca. 1 Tonne schweren Betonständer mit Holzstücken verkeilt.

Der Baum kippte infolge starken Windes (Beaufort 6) um. Noch vor Beginn der Geschäftszeiten am nächsten Tag (8 Uhr) war der Baum wieder aufgerichtet. Von wem der Baum wieder aufgerichtet wurde, ist streitig.

Am Morgen des 24.12. kippte der Baum infolge eines Sturmes (Beaufort 8) erneut um, und traf eine Kundin, die sich eine Fraktur am Knöchel zuzog.

Entscheidung

Der Centerbetreiber hat Ansprüche gegen die Beklagte aus Vertrag gem. §§ 437 Nr. 3, 280, 281, 249 BGB. auch wenn im Außenverhältnis beide verkehrssicherungspflichtig sind, haftet im Innenverhältnis der Lieferant alleine.

  1. Bei dem Vertrag selbst handelte es sich um einen typengemischten (vorwiegend kaufvertraglichen) Vertrag über die Lieferung und Montage eines Weihnachtsbaumes mit späterem Abtransport und Entsorgung. Die Aufforderung zur „Spende“ stellt hierbei nur eine unerhebliche „Falschbezeichnung“ dar. (Anmerkung: falsa demonstratio non nocet)
  2. Die Verkehrssicherungspflicht des Centerbetreibers bestand darin, dass das Publikum das Gelände des Einkaufszentrums sowie dessen Außenbereich gefahrlos betreten könnten. Den Ersatz für den durch diese Pflichtverletzung entstandenen Schaden kann sie von der Beklagten gem. § 426 Abs. 1, 2 BGB ersetzt verlangen.
  3. Die Beklagte war als Lieferantin, die auch den Ständer zu stellen und die Aufstellung zu besorgen hatte, verpflichtet, den Baum sicher aufzustellen. Diese Pflicht verletzte sie vorwerfbar. Denn eine bewegliche Einrichtung muss so aufgestellt werden, dass sie den Windlasten standhält, die üblicherweise im Stadtgebiet erwartet werden können. Der Baum war nicht standsicher aufgestellt, denn er fiel aufgrund des starken Windes am 24.12. und nicht ausschließbar auch am 05.12. des Jahres. Dafür, dass der Baum infolge von Vandalismus oder durch Manipulation Dritter umgekippt ist, gibt es keine Anhaltspunkte. Wodurch der Baum letztlich umgekippt ist, braucht nicht festgestellt werden. Ein Gebäude oder Werk muss den Witterungseinflüssen standhalten, sodass die Ablösung von Teilen hiervon durch die Witterung die fehlerhafte Errichtung bzw. mangelhafte Unterhaltung beweist. Dies gilt entsprechend für einen Weihnachtsbaum. Die mangelnde Standsicherheit wurde von den Mitarbeitern der Beklagten verschuldet, was der Beklagten gem. §§ 280, 281, 278 BGB zugerechnet werden kann.
  4. Wegen der Zahlung des Centerbetreibers (Anm.: hier hat dessen Versicherer geleistet und regressiert, vgl. § 86 VVG). Befriedigt einer der Gesamtschuldner den Gläubiger und kann er von den übrigen Gesamtschuldnern Ausgleich verlangen, geht die Forderung des Gläubigers auf ihn über. Die Höhe dieser Forderung richtet sich grds. nach dem zwischen den Gesamtschuldnern bestehenden zu tragenden Anteil im Innenverhältnis, § 426 Abs. 1 S. 1 BGB. Im Rahmen von Schadensersatzansprüchen richtet sich dies nach dem Maß der Verursachung und hilfsweise dem Verschulden, § 254 BGB.
  5. Vorliegend wurde das Umstürzen des Baumes durch die Beklagte verursacht und das Aufstellen durch die Beklagte initiiert. Es war die Aufgabe der Beklagten, für eine sichere Aufstellung des Baumes zu sorgen. Hierfür verfügte sie auch über geschultes Personal. Der Centerbetreiber verfügte hingegen über kein geschultes Personal, was die Beklagte auch wusste. Dies begründet im Innenverhältnis eine alleinige Haftung der Beklagten.

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Recht im Winter I – die Dachlawine

Michael PeusMichael Peus

LG Detmold, Urteil vom 15.12.2010 – 10 S 121/10
und
OLG Hamm, Beschluss vom 07.02.2012 – I-7 U 87/11

Sachverhalte:
Sowohl das Landgericht Detmold als auch das OLG Hamm hatten – jeweils als Berufungsgericht – Sachverhalte zu entscheiden, in denen eine Dachlawine von einem Haus abgingen, wobei Geschädigter jeweils ein Mieter des Gebäudeeigentümers war. Der Unterschied lag darin, dass im Fall des LG Detmold das Fahrzeug auf einem mit-vermieteten Parkplatz stand, während das OLG Hamm einen Sachverhalt zu entscheiden hatte, bei dem der Mieter auf öffentlicher Fläche vor dem Gebäude parkte.

Entscheidungsinhalte:

Das LG Detmold hat den Vermieter zu hälftigem Schadensersatz verurteilt. Denn wegen des Mietverhältnisses über den Parkplatz habe der Eigentümer besondere Pflichten gegenüber dem Mieter:

„Den Beklagten als Gebäudeeigentümer oblag eine Verkehrssicherungspflicht aus § 823 Abs. 1 BGB. Dabei handelte es sich um eine besondere Verkehrssicherungspflicht, weil die Beklagten den Stellplatz an den Kläger vermietet hatten. Dadurch hat die Beklagte durch den speziell für den Mieter einer Wohnung ihres Hauses eingerichteten und unterhaltenen Parkplatz einen besonderen Verkehr eröffnet und damit auch eine besondere Verkehrssicherungspflicht übernommen (vgl. OLG Frankfurt, Urteil vom 27.04.2000, 22 U 90/98 mit weiteren Nachweisen). Die Beklagte hätte sich angesichts der M3 des vermieteten Stellplatzes zur Traufrichtung des Daches ihres Gebäudes und der Dachneigung bei den bestehenden Witterungsverhältnissen über die Wetterentwicklung auf dem Laufenden halten und Maßnahmen zur Sicherung der auf dem vermieteten Parkplätzen abgestellten oder abzustellenden Fahrzeuge ergreifen müssen. So hätte sie die Parkplätze sperren müssen oder zumindest Warnhinweise aufstellen müssen.‟

Das Landgericht Detmold verlangt ein Sperren des Parkplatzes oder ein Hinweisschild. Diese Rechtsansicht überzeugt nicht. Auch im Vertragsverhältnis darf grundsätzlich jeder darauf vertrauen, dass der Vertragspartner offensichtliche Umstände wahrnimmt und sich entsprechend verhält. Dann sind Hinweisschilder auch nicht erforderlich. Das ist in anderen Fallgestaltungen absolut herrschende Rechtsprechung und zwar auch im Rahmen von Verträgen:

„Der Senat hat noch erwogen, ob die Bekl. nicht jedenfalls durch eine entsprechende Beschilderung auf die vorhandene erhöhte Rutschgefahr hätte hinweisen müssen. Er hat auch das im Ergebnis verneint, weil nicht angenommen werden kann, daß von ihnen eine wesentliche Wirkung ausgeht. Denn daß in einem Hallenbad Rutschgefahren bestehen, ist dem Hallenbenutzer auch so bekannt. Im konkreten Fall hätte eine derartige Beschilderung sicher nichts bewirkt.‟

vgl. OLG Hamm, Urteil vom 23.02.1989, Az. 6 U 2/88 = NJW-RR 1989, 736

„Eines gesonderten Warnhinweises darauf, dass im Poolbereich mit Nässe zu rechnen sei, bedarf es nicht, da dies jedem einleuchten muss. Hinzu kommt, dass schon allein aufgrund der Größe der Wasserpfütze, in der die Klägerin ausrutschte, diese auch deutlich wahrnehmbar war.‟

vgl. Urteil des AG Rostock vom 24.08.2011, Az. 47 C 29/11

„Eine Hinweispflicht bestand nicht. Eine Solche ist nur dann anzunehmen, wenn eine Gefahrenquelle geschaffen oder aufrechterhalten wird und derjenige, der in den Einzugsbereich der Gefahrenquelle kommt, die Gefahrenquelle nicht erkennen kann. Den Betreiber einer öffentlich zugänglichen Sauna trifft eine Hinweispflicht auf die Gefahr von Verbrennungen nicht. Die Gefahr von Verbrennungen ist für jeden Benutzer der Sauna erkennbar.‟

LG Arnsberg, Urteil vom 14.06.2012 – 2 O 410/11

„2. Eine Pflichtverletzung des Verkehrssicherungspflichtigen und damit seine Schadensersatzverpflichtung scheidet dann aus, wenn eine Gefahrenquelle mit einer „Selbstwarnung‟ versehen ist, der Verletzte also die Verwirklichung der Gefahr durchaus vorauszusehen und zu vermeiden vermocht hätte.‟
vgl. LG Coburg im Urteil vom 22.07.2014, Az. 22 O 107/14

Das OLG Hamm (Beschluss vom 07.02.2012 – I-7 U 87/11) hat Ansprüche des Mieters vollständig verneint. Das OLG hat zwar auch klargestellt, dass gerade mietrechtliche Erwägungen nicht anzustellen seien und der Gebäudeeigentümer nur nach allgemeinen Grundsätzen hafte; es wurde aber nicht klargestellt, welche Folge es denn hätte, mietrechtliche Erwägungen anzustellen. Und so wies das OLG Hamm die Berufung zurück, weil erstens schon keine Pflicht verletzt worden sie und andererseits ein haftungsvernichtendes Eigenverschulden des Geschädigten vorläge; immerhin habe er die Witterung und den Zustand des Daches vor dem Abgang der Dachlawine gesehen.

In der Abwägung erscheint das Urteil des LG Detmold, welches immerhin Ansprüche von 50% zuerkannte, fehlerhaft. Auch hier wäre die Klage abzuweisen gewesen. Denn Verkehrssicherungspflichten zu Vertragspartnern gehen nicht weiter als Verkehrssicherungspflichten gegenüber Dritten. Insoweit ist die körperliche Unversehrtheit eines Dritten als absolutes Recht ebenso weitgehend von der Rechtsordnung geschützt, wie die Gesundheit eines Vertragspartners (vgl. Grüneberg, BGB-Kommentar, § 280 Rn. 28; § 823 Rn. 49; BGH, Urteil vom 09.09.2008, Az. VI ZR 279/06; OLG Hamm im Urteil vom 15.03.2013, Az. 9 U 187/12); das muss auch für Sachen (Kfz) gelten. Es ist kein Grund ersichtlich, im Mietrecht von den Grundverständnissen abzuweichen, dass
– Sachverhalte nicht vor sich selbst warnen und Hinweisschilder erforderlich wären und
– das Mitverschulden des Geschädigten eine Haftung vernichten kann, wenn der Geschädigte das Ereignis jedenfalls bewusst in Kauf nimmt.

 

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Recht im Winter – Übersicht

Michael PeusMichael Peus

Übersicht zu Artikeln „Winter & Recht‟:

– Vorstellung und Kommentierung  zur ergangenen Rechtsprechung nach Themen der Urteile –

 

Dachlawinen:

Dachlawine beschädigt Kfz, OLG Hamm, RA Krappel

Dachlawinen und Kfz, LG Detmold u. OLG Hamm, RA Peus

 

Fußgängerstürze wegen Glätte:

Sturz auf Bahnhofsgelände, BGH, RA Dr. Schmidt

Sturz auf dem Bahnhofsgelände, OLG Hamm, RA Möhlenkamp

Sturz auf dem Weg zum Kfz, OLG München, RA Dr. Schmidt

Sturz wegen Glätte nach streupflichtiger Zeit, LG Braunschweig, RA Möhlenkamp

Sturz wegen ungeeigneten Streumittels, OLG Hamm, RA Möhlenkamp

 

Weihnachtsbräuche:

Sturz über Schlauch auf Weihnachtsmarkt, OLG Sachsen-Anhalt, RA Dr. Schmidt

Verkehrssicherungspflicht für Weihnachtsbaum, OLG Düsseldorf, RA Peus

 

Wintersport:

Rodeln und Skifreizeit, AG Bonn und LG Augsburg, RA Peus

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Hinterbliebenengeld XX: Kein Hinterbliebenengeld bei selbstverschuldetem Verkehrsunfall

Michael PeusMichael Peus

zur tabellarischen Übersicht Stand 08/2022zur textlichen Darstellung, Stand 08/2022

LG Münster, Urt. v. 27.09.2021 – 11 O 304/20

 

Leitsätze (redaktionell)

  1. Es besteht kein Anspruch auf Hinterbliebenengeld, wenn der Geschädigte alleine für den Unfall haftet.
  2. Ausnahmsweise kann die einfache Betriebsgefahr eines Kfz im Rahmen der Abwägung der Verursachungsbeiträge hinter der groben Verkehrswidrigkeit des Geschädigten zurücktreten.

 

Sachverhalt

Die Klägerinnen (Tochter und Ehefrau des später Verstorbenen) verlangen von den Beklagten (Fahrer des Kfz und dessen Haftpflichtversicherung) u.a. Hinterbliebenengeld infolge eines Verkehrsunfalls im März 2019. Der Verstorbene fuhr mit seinem Pedelec auf einem Fahrrad-/Fußgängerweg, der von Fahrradfahrern in Richtung gegen den Uhrzeigersinn zu befahren ist. Neben diesem Radweg befindet sich ein Kreisverkehr. Der Radweg führt über die in den Kreisverkehr mündenden Straßen, wobei der Kraftfahrzeugverkehr Vorfahrt hat. Der Verstorbene fuhr entgegen der Fahrtrichtung auf dem Fahrradweg und begann die in den Kreisverkehr mündende P-Straße überqueren, ohne auf den Verkehr auf der P-Straße zu achten. Dabei wurde er von dem Auto des Beklagten zu 1) erfasst. Dieser fuhr mit einer Geschwindigkeit von 10-15km/h.

Die Klägerinnen meinen, der Aufenthalt im Seniorenheim und der spätere Tod seien auf die Unfallfolgen zurückzuführen. Dem Beklagten zu 1) habe die erhöhte Sorgfaltspflicht oblegen, auf querende Radfahrer zu achten. Zumindest haften die Beklagten aufgrund der einfachen Betriebsgefahr zu 25%.

 

Entscheidung

Den Klägerinnen steht kein Anspruch gem. § 7 Abs. 1, 11 StVG, 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 S. 4 VVG, § 823 Abs. 1, 253 Abs. 2, 1922 BGB zu. Denn die Beklagten haften nach Abwägung der  Verursachungsbeiträge nicht. Die Betriebsgefahr nach § 9 StVG i.V.m. § 254 BGB tritt hinter dem erheblichen Eigenverschulden des Verstorbenen zurück.

 

  1. Trifft den Geschädigten – wie hier – ein Mitverschulden, erfolgt die Abwägung gem. § 9 StVG nach § 254 BGB. Dabei werden die zu § 17 Abs. 1 StVG entwickelten Rechtsgrundsätze herangezogen. Zu berücksichtigen sind die zugestandenen oder gem. § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalles, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben. Zu berücksichtigen sind dabei insb. das Maß der Verursachung und die Summe der Gefahren, die in der konkreten Unfallsituation von den Beteiligten ausgegangen sind und sich auf den späteren Schaden ausgewirkt haben (z.B. Beschaffenheit der Fahrzeuge, gefahrene Geschwindigkeit, Fahrmanöver, konkretes Fahrverhalten insb. Fahrfehler und Verkehrsverstöße).
  2. Vorliegend verstieß der Geschädigte gegen § 8 Abs. 2 StVO, wonach der, der die Vorfahrt zu beachten hat, rechtzeitig durch sein Fahrverhalten erkennen lassen muss, dass gewartet wird. Weiterhin hat der Geschädigte gegen § 2 Abs. 4 S. 2 StVO verstoßen, da er ohne eine Freigabe entgegen der Fahrtrichtung fuhr.

Dem Beklagten zu 1) ist hingegen kein Verkehrsverstoß vorzuwerfen. Insb. Verstöße gegen §§ 1 Abs. 2, 11 Abs. 3 StVO und § 3 Abs. 2a StVO scheiden mangels Anhaltspunkten aus.

  1. Ein vollständiger Haftungsausschluss kommt im Rahmen der nach den konkreten Umständen im Einzelfall vorzunehmenden Abwägung nur in Betracht, wenn der Geschädigte sich grob verkehrswidrig verhalten hat. Grob verkehrswidrig handelt, wer objektiv schwer und subjektiv nicht entschuldbar gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verstößt und erheblich das Maß des § 276 Abs. 2 BGB überschreitet.

Vorliegend hat der Geschädigte die im Straßenverkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich hohem Maße verletzt und das unbeachtet gelassen, was jedem verständigen Verkehrsteilnehmer hätte einleuchten müssen. Er ist ohne zu gucken, ohne auf den Straßenverkehr zu achten und ohne Kenntlichmachung der Absicht, die Straße zu queren auf die P-Straße gefahren. Diese Sorgfaltspflichtverletzung ist auch subjektiv nicht entschuldbar, sie musste sich dem Geschädigten nahezu aufdrängen. Dieser Verkehrsverstoß wiegt auch besonders schwer, da der Geschädigte entgegen der vorgeschriebenen Fahrtrichtung fuhr und sich dazu nicht verkehrsgerecht verhielt. Für ihn war erkennbar, dass sich die Wege mit dem Kfz des Beklagten zu 1) kreuzen würden, denn es gab nur einen Weg, den der Beklagte zu 1) hätte nutzen können.

Der Beklagte zu 1) hingegen konnte nicht erkennen, dass der Geschädigte ihm die Vorfahrt nehmen und nicht mehr rechtzeitig anhalten konnte, bis dieser bereits die Gabelung erreichte. Er durfte – auch wenn er den Geschädigten noch rechtzeitig hätte sehen können – auf sein Vorfahrtsrecht vertrauen und brauchte nicht mit Radfahrern aus der falschen Fahrtrichtung zu rechnen. Auch wenn der Beklagte zu 1) noch rechtzeitig hätte bremsen können – was vorliegend nicht ausgeschlossen werden konnte – ändert sich nichts an dem Abwägungsergebnis. Ob ein Unfall noch abzuwenden gewesen wäre, ist ein erheblicher Abwägungsfaktor, dadurch muss aber nicht zwingend die Betriebsgefahr vollständig hinter dem Verschulden des Geschädigten zurücktreten. Ebenso fuhr der Beklagte deutlich unter der zulässigen Höchstgeschwindigkeit.

Der Antrag auf Hinterbliebenengeld ist daher mangels Haftung des Schädigers unbegründet.

 

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Hinterbliebenengeld (XIX): Kein über das Hinterbliebenengeld hinausgehendes Schmerzensgeld bei „normalpsychologischer Trauer“

Michael PeusMichael Peus

zur tabellarischen Übersicht Stand 08/2022zur textlichen Darstellung, Stand 08/2022

OLG Celle, Urt. v. 24.08.2022 – 14 U 22/22

 

Leitsätze (amtlich)

  1. Ohne eine pathologisch fassbare Auswirkung sind auch Depressionen, Schlafstörungen, Alpträume, Seelenschmerzen, Weinkrämpfe, Gefühle des „Aus-der-Bahn-geworfen-seins“ und vorübergehende Kreislaufstörungen bis hin zu Kollaps-Belastungen, in denen sich nach der Wertung des Gesetzes lediglich das „normale“ Lebensrisiko der Teilnahme an den Ereignissen der Umwelt verwirklicht, nicht ausreichend für die Annahme eines sogenannten „Schockschadens“.
    Alleine die von ärztlicher Seite für notwendig erachtete Behandlung, weil der Tod des Sohnes nicht verarbeitet werden kann, belegt noch keine nach der allgemeinen Verkehrsauffassung bestehende Gesundheitsverletzung.
  2. Von wesentlicher Bedeutung bei der Bemessung des Hinterbliebenengeldes sind dabei die gesundheitlichen und seelischen Beeinträchtigungen des Klägers. Zu berücksichtigen sind auch die familiären Belastungen, insbesondere im Verhältnis zu seiner Ehefrau sowie die grobe Fahrlässigkeit des Unfallverursachers.
    Es erscheint dabei angemessen, auch das Hinterbliebenengeld im Bereich des Durchschnitts von 10.000,00€ anzusetzen und diesen Durchschnittsbetrag wegen des besonders schmerzlichen Verlustes eines minderjährigen Kindes mit messbaren Krankheitsfolgen (Anpassungsstörung und leichte Depression) auf 15.000,00€ zu erhöhen.

 

Sachverhalt

Der Kläger macht gegenüber der Beklagten u.a. Schmerzens- und Hinterbliebenengeldansprüche infolge eines Verkehrsunfalls geltend.

Der 12-jährige Sohn des Klägers verunglückte 2018 tödlich, als ihn eine bei der Beklagten versicherte Sattelzugmaschine erfasste. Die Ehefrau des Beklagten erlebte den Unfall mit, während der Kläger kurze Zeit später an der Unfallstelle eintraf und dort den Körper seines verstorbenen Sohnes sah. Der Kläger begab sich daraufhin gemeinsam mit seiner Frau in psychologische Behandlung. Die Beklagte zahlte bereits Vorschüsse i.H.v. 15.000€.

Das Landgericht wies die Klage mit der Begründung ab, der Kläger habe keinen Anspruch aufgrund eines Schockschadens. Bei dem Kläger sei eine leichte depressive Episode sowie ein normalpsychologischer Trauerzustand festgestellt worden. Dies sei für ein weiteres Schmerzensgeld nicht ausreichend, da diese Leiden nicht über das Leiden anderer Betroffener hinausgehe. Der Kläger habe einen Anspruch auf Hinterbliebenengeld in Höhe der bereits von der Beklagten gezahlten 15.000€.

Hiergegen wendet sich der Kläger mit der Berufung und verfolgt u.a. sein Zahlungsbegehren i.H.v. min. 5000€ weiter.

 

Entscheidung

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Schmerzensgeld gem. §§ 7, 11 StVG, §§ 823 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB, § 6 AuslPflVG, § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG, da keine eigene Körper- oder Gesundheitsverletzung in Form eines „Schock- oder Fernwirkungsschadens“ festgestellt werden konnte.

Nach der Rechtsprechung des BGH können auf einem Unfall beruhende traumatische psychische Störungen mit Krankheitswert als Gesundheitsverletzung i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB zu werten sein, sofern eine hinreichende Gewissheit besteht, dass diese psychische Gesundheitsschädigung ohne die Verletzungshandlung nicht eingetreten wäre.

Dieser Grundsatz wird jedoch bei sog. Schockschäden beschränkt. Seelische Leiden wie Trauer und seelischer Schmerz, den Angehörige beim Tod oder der schweren Verletzung eines nahestehenden Menschen verspüren, stellen auch keine Gesundheitsverletzung dar, wenn sie mit physiologischen, für die körperliche Befindlichkeit medizinisch relevanten Symptomen einhergehen. Psychische Leiden stellen nur eine Gesundheitsverletzung i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB dar, wenn sie pathologisch fassbar sind und erheblich über das hinausgehen, was andere Betroffene in derselben Situation verspüren. Diese psychopathologischen Ausfälle müssen gewichtig und von einiger Dauer sein und nach der allgemeinen Verkehrsauffassung als Verletzung des Körpers oder der Gesundheit betrachtet werden (z.B. mittelschweres depressives Syndrom, behandlungsbedürftige Angstzustände, akute Belastungsreaktion mit schwerwiegenden Folgen z.B. Aufgabe der Wohnung und des Berufes sowie des Autofahrens, Schweißausbrüche und Zittern im Straßenverkehr). Daher können auch medizinisch erfassbare psychische Leiden für sich genommen keinen Schmerzensgeldanspruch begründen.

Diese psychischen Folgen (leichte depressive Episode, normalpsychologische Trauer und seelische Folgeerscheinungen) reichen jedoch nicht für den erforderlichen Schockschaden aus, da sie nicht über das hinausgehen, was Eltern bei dem Tod ihres minderjährigen Kindes erleiden müssen. Die Symptome des Klägers (depressiv, unkonzentriert, unruhig, massive Schlafstörungen, Weinkrämpfe) sind nicht von einiger Dauer und einigem Gewicht. Für die Annahme eines Schockschadens müssen konkrete Krankheitssymptome festzustellen sein, die den Rückschluss auf pathologisch fassbare Auswirkungen ermöglichen. Auch Depressionen, Schlafstörungen, Alpträume, Seelenschmerzen, Weinkrämpfe, Gefühle des „Aus-der-Bahn-geworden-seins“, vorrübergehende Kreislaufstörungen bis Kollaps-Belastungen, in denen sich nach der Gesetzeswertung das „normale“ Lebensrisiko verwirklicht, sind ohne pathologisch fassbare Auswirkung nicht ausreichend. Das seelische Leid ist durch das Hinterbliebenengeld zu entschädigen und kann nicht mit einer eigenen Gesundheitsverletzung gleichgesetzt werden.

 

Dem Kläger stand ein Anspruch auf Hinterbliebenengeld gem. § 844 Abs. 3 BGB zu, der die gezahlten 15.000€ jedoch nicht übersteigt, und durch die vorgerichtliche Zahlung daher gemäß § 362 BGB durch Erfüllung erloschen ist. Selbst wenn ein Schockschaden vorliegen würde, ergebe sich hieraus kein höheres Schmerzensgeld.

Das Hinterbliebenengeld kann und soll nach dem gesetzgeberischen Willen keinen Ausgleich für den Verlust des Lebens bieten. Die Entschädigung soll den Hinterbliebenen in die Lage versetzen, die durch den Verlust eines besonders nahestehenden Menschen verursachte Trauer und sein seelisches Leid zu mindern und für das seelische Leid der Hinterbliebenen geleistet werden. Die Bemessung obliegt gem. § 287 ZPO den Gerichten. Bei der Bemessung besonders zu berücksichtigen sind die gesundheitlichen und seelischen Leiden. Vorliegend sind auch die familiäre Situation und die grobe Fahrlässigkeit des Schädigers miteinzubeziehen.

Der Kläger konnte weiterhin seiner Arbeit nachgehen, seiner Frau zur Seite stehen und Organisationsaufgaben wahrnehmen. Er klagte über Schlafprobleme, jedoch sind die Alltagsbeeinträchtigungen gering, denn er habe sich nach seinem Renteneintritt eine geringfügige Beschäftigung gesucht und Besorgungen gemacht, kümmere sich um das Abendessen und Bürotätigkeiten, treffe sich mit seiner Frau und gehe mit ihr spazieren und manchmal bekämen sie Besuch. Der Rehabilitationsbericht weist lediglich „Konzentrationsschwächen beim Lernen“ aus. Es erfolgte kein sozialer Rückzug und der Kläger befand sich auch vor dem Unfall bereits in psychologischer Behandlung. Zurzeit befindet sich der Kläger in einer langwierigen Besserungsphase, sollte jedoch weiterhin behandelt werden.

Dem Kläger fehlt jedoch eine vom Leid ablenkende Bezugsperson und er hat mit dem Verlust des Sohnes die Stütze und die Erfüllung des Familienlebens verloren. Zu seinem Sohn hatte er eine besondere Beziehung, er war auch ein Freund und wurde wie ein Einzelkind aufgezogen. Aufgrund des fortgeschrittenen Alters können er und seine Frau zudem keine weiteren Kinder bekommen.

Wesentlich für die Bemessung ist das unfallbedingt schwierige Verhältnis des Klägers zu seiner Frau. Diese ist infolge des Unfalls schwer psychisch erkrankt und weise dem Kläger die Schuld für den Unfall zu. Ebenfalls zu berücksichtigen ist die erhebliche Schuld des Unfallverursachers.

Der Kläger selbsttraf zwar unmittelbar nach dem Unfall an der Unfallstelle ein , jedoch sind hierauf keine schwerwiegenden Folgen zurückzuführen. Ebenso ist das Regulierungsverhalten der Beklagten nicht erhöhend zu berücksichtigen, denn die Beklagte zeigte sich kooperativ und leistete Vorschüsse in rechtlich vertretbarer Höhe.

 

Weiteres:

Zur Unterscheidung des Schockschadens vom Hinterbliebenengeld ist sich folgendes zu verdeutlichen:

Das Hinterbliebenengeld knüpft haftungsbegründend an die Verletzung des Lebens eines anderen an und entschädigt auf der Ebene der haftungsausfüllenden Kausalität die seelischen Leiden der Hinterbliebenen. Dies kann auch eine normalpsychologische Trauer sein. Für einen Anspruch aufgrund eines Schockschadens muss eine eigene Rechtsgutverletzung vorliegen.

Diese Dogmatik kann dafür sprechen, neben einer Körper- und Gesundheitsschädigung auch den „Gefühlsschaden“ zu entschädigen, der im Rahmen des Schockschaden nicht zu entschädigen ist. Vorliegend liegt kein Schaden vor, der bei einem (hier aber nicht vorliegenden) Schockschaden auszugleichen wäre und ein höheres Hinterbliebenengeld rechtfertigen würde. Das seelische Leid, das in der Anpassungsstörung und der leichten Depression zum Ausdruck kommt, beruht gerade auf dem Unfall, sodass es Überschneidungen und fließende Übergänge zum rein seelischen Leid gibt.

Der Verlust eines minderjährigen Kindes ist zunächst im oberen Bereich der Hinterbliebenengelder anzusiedeln.

Vorliegend gehen die Leiden jedoch nicht über das hinaus, was Eltern bei dem Verlust eines Kindes regelmäßig erleiden. Deshalb kann der Durchschnittsbetrag i.H.v. 10.000€ angesetzt werden und aufgrund dessen, dass es sich um den Verlust eines noch minderjährigen Kindes handelt und der Kläger durch den Verlust messbare Krankheitsfolgen erlitten hat, erhöht werden auf 15.000€. Diese Erhöhung ist wegen der Nähe zum Durchschnittsfall aber ausreichend. Eine Erhöhung auf 20.000€ wäre nicht mehr angemessen. Ein Hinterbliebenengeld i.H.v. 20.000€ wird regelmäßig nur bei vorsätzlichen Tötungen zugesprochen, denn in diesen Fällen ist die Genugtuungsfunktion des Hinterbliebenengeldes stärker erhöhend zu werten als bei grober Fahrlässigkeit.

 

 

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Behauptete Schmerzen und Übelkeit als zum Schadensersatz berechtigende Körperverletzung?

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

BGH, Urteil vom 26.07.2022, Az.: VI ZR 58/21

Leitsätze

1. Der Begriff der Primärverletzung bezeichnet die für die Erfüllung der Haftungstatbestände des § 823 Abs. 1 BGB und des § 7 Abs. 1 StVG erforderliche Rechtsgutsverletzung. Er enthält kein kausalitätsbezogenes Element.

2. Von den Primärverletzungen sind Sekundärverletzungen abzugrenzen. Bei ihnen handelt es sich um die auf eine haftungsbegründende Rechtsgutsverletzung zurückzuführenden haftungsausfüllenden Folgeschäden. Sie setzen schon begrifflich voraus, dass der Haftungsgrund feststeht.

3. Vom Geschädigten können daher Beeinträchtigungen seiner körperlichen Befindlichkeit nur dann als Sekundärverletzungen qualifiziert werden, wenn eine durch das Handeln des Schädigers verursachte Primärverletzung unstreitig oder festgestellt und nach medizinischen Erkenntnissen grundsätzlich geeignet ist, die weitere behauptete Beeinträchtigung der körperlichen Befindlichkeit herbeizuführen. Fehlt es an einer haftungsbegründenden Primärverletzung oder steht diese in keinem erkennbaren medizinischen Zusammenhang zu der weiteren gesundheitlichen Beeinträchtigung, ist letztere (also die behauptet Sekundärverletzung) als – ggf. zweite bzw. weitere – Primärverletzung anzusehen.

Sachverhalt

Die Klägerin nimmt den Beklagten auf Zahlung von Schmerzensgeld aufgrund eines Verkehrsunfalls in Anspruch. Der Beklagte sei ihr von hinten auf das wegen eines Rückstaus an einer Kreuzung stehende Fahrzeug, in dem diese als Fahrerin saß, aufgefahren. Durch den Anstoß wurden unter anderem der Stoßfänger am PKW der Klägerin hinten durchstoßen und die Schalldämpferanlage aus der Halterung gerissen. Die Airbags im Fahrzeug der Klägerin öffneten sich nicht. Bis zu diesem Tag war die Klägerin noch nicht bei einem Unfall verletzt worden. Eine Freundin von ihr war indes bei einem Verkehrsunfall verstorben. Darüber hinaus war die Klägerin Ersthelferin bei einem Verkehrsunfall gewesen, bei dem zwei Menschen verstorben. Die Klägerin behauptet, sie sei bei dem Unfall körperlich verletzt worden. Unmittelbar nach dem Unfall habe sie unter Kopfschmerzen gelitten. Später am Abend sei ihr übel geworden und sie habe sich übergeben. Sie habe sich daraufhin in das Evangelische Krankenhaus B. begeben, wo sie geröntgt worden sei. Im Anschluss sei eine HWS-Distorsion 2. Grades diagnostiziert worden.

Entscheidung

Nach Auffassung des Berufungsgerichts stand der Klägerin ein Schadensersatzanspruch gegen den Beklagten nicht zu. Zwar stand zur Überzeugung der Kammer fest, dass bei der Klägerin nach dem Unfall Beschwerden und sichtbare Befunde vorgelegen hätten, die die Diagnose einer HWS-Distorsion 2. Grades rechtfertigten, und die Klägerin unter Kopf- und Nackenschmerzen gelitten habe. Die Kammer hatte aber Zweifel daran, dass die die Diagnose einer HWS-Distorsion rechtfertigenden sichtbaren Befunde bei der Klägerin eine Primärverletzung, verursacht durch einen Verkehrsunfall mit einer allein bewiesenen kollisionsbedingten Geschwindigkeitsveränderung von 4 km/h und einer kollisionsbedingten mittleren Beschleunigung von etwa 11 m/s² darstellten. Auch eine andere unfallbedingte Primärverletzung der Klägerin konnte die Kammer nicht feststellen. Die Auffassung des Bundesgerichtshofs im Urteil vom 23. Juni 2020 (VI ZR 435/19), wonach auch starke Kopf- und Nackenschmerzen als unfallbedingte Körperverletzungen zu bewerten seien, halte die Kammer nicht für überzeugend. Abgesehen davon seien die Kopf- und Nackenschmerzen der Klägerin zwar im Sinne einer conditio-sine-qua-non nachvollziehbar auf den Unfall zurückzuführen, könnten jedoch wertungsmäßig nicht mehr dem Unfall, sondern nur dem allgemeinen Lebensrisiko zugerechnet werden. Wichtig ist zu, dass die somit grds. vom OLG bejahte adäquate Kausalität des Unfalls für die behaupteten Schmerzen etc. von der Revision nicht angegriffen wurde.

Dem widerspricht nun der BGH: Zum einen habe das Berufungsgericht den Bedeutungsgehalt des Begriffs der Primärverletzung verkannt. Der Begriff der Primärverletzung – der Rechtsgutsverletzung – beinhalte zunächst kein kausalitätsbezogenes Element – er nehme insbesondere nicht die weitere Anspruchsvoraussetzung der haftungsbegründenden Kausalität in sich auf. Ob das Handeln des Schädigers die festgestellte Rechtsgutsverletzung verursacht habe, sei erst in einem weiteren Schritt – ebenfalls nach dem strengen Beweismaß des § 286 ZPO – zu prüfen. Somit können auch Nacken- und Kopfschmerzen eine Körperverletzung im Sinne dieser Bestimmungen und damit eine Primärverletzung begründen (unabhängig von der Kausalitätsfrage). Da eine Schadensersatzpflicht nur besteht, wenn die geltend gemachte Rechtsgutsverletzung nach Art und Entstehungsweise unter den Schutzzweck der verletzten Norm fällt, muss die Rechtsgutsverletzung in einem inneren Zusammenhang mit der durch den Schädiger geschaffenen Gefahrenlage stehen; ein rein äußerlicher, gewissermaßen zufälliger Zusammenhang genügt nicht. An dem erforderlichen Schutzzweckzusammenhang fehlt es in der Regel, wenn sich eine Gefahr realisiert hat, die dem allgemeinen Lebensrisiko und damit dem Risikobereich des Geschädigten zuzurechnen ist. Der Schädiger kann nicht für solche Verletzungen oder Schäden haftbar gemacht werden, die der Betroffene in seinem Leben auch sonst üblicherweise zu gewärtigen hat. Insoweit ist eine wertende Betrachtung geboten. Das Berufungsgericht habe aber übersehen, dass der Schädiger grundsätzlich auch für psychische Auswirkungen einer Verletzungshandlung haftungsrechtlich einzustehen habe, was anschließend vom BGH im Fall der Klägerin bejaht wird.

Anmerkung.

Die Problematik der Entscheidung liegt darin, dass der Eindruck entstehen könnte, behauptete (subjektive) Schmerzen und Übelkeit genügen für einen Schmerzensgeldanspruch nach einem (Verkehrs-)Unfall. Hiervon sind insbesondere HWS-Prozesse betroffen, in denen regelmäßig nur derart unspezifischen Beeinträchtigungen behauptet werden. Tatsächlich sagt der BGH aber nur, was auch nichts Neues ist, dass Schmerzen und Übelkeit grds. eine schadensersatzrelevante Körperverletzung sein können und zwar selbst dann, wenn sie nur psychisch/mittelbar durch ein Unfallereignis vermittelt worden sind. Bei der Frage, ob überhaupt einer Körperverletzung vorliegt, spiele die Frage nach der Kausalität (zunächst noch) keine Rolle. Er sagt aber auch, dass im einem zweiten Schritt anschließend zu prüfen ist, ob die Schmerzen etc. nun kausal-adäquat durch den behaupteten Unfall (ggfls. auch psychisch vermittelt) verursacht wurden. Im konkreten Fall war dies nicht mehr streitig bzw. vom BGH in der Revision zu beachten, weil die Revision versäumt hatte, die vom OLG bejahte adäquate Kausalität des Unfalles anzugreifen. Dies war daher unstreitig und es bedurfte durch den BGH nur eine Bewertung, ob die Schmerzen hier auch wertungsmäßig noch dem Unfall oder nur dem allgemeinen Lebensrisiko zuzurechnen waren.

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Schadensersatz für Fahrradfahrer bei Kollision mit Autotür

Michael PeusMichael Peus

LG Köln, Urteil vom 03.08.2022 – 5 O 372/20

 

Sachverhalt

Ein Fahrradfahrer war mit seinem Rennrad unterwegs, als er an einem geparkten Auto vorbeifahren wollte. Der Fahrer des Wagens öffnete dabei so plötzlich die Tür, dass der Fahrradfahrer nicht mehr ausweichen konnte und mit der Tür kollidierte. Dabei verletzte er sich.

Der Versicherer des Kfz berief sich auf ein Mitverschulden von 25 %, da der Radfahrer beim Vorbeifahren zu wenig Abstand zu dem PKW gehalten hätte. Der Fahrradfahrer hätte einschätzen können, dass aus einem geparkten Auto, ein Fahrer aussteigen würde.

 

Entscheidung

Das Landgericht Köln verurteilt den beklagten Autofahrer und dessen Versicherung als Gesamtschuldner dazu, dem geschädigten Radfahrer – über die von ihnen anerkannte Haftungsquote von 75 % hinaus – alle materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen.

Laut dem Landgericht treffe einen Radfahrer bei sogenannten „Dooring-Unfällen“ kein Mitverschulden, wenn zuvor ein ausreichender Sicherheitsabstand von etwa 35 bis 50 cm eingehalten wurde. Dieser war hier vom Rennradfahrer eingehalten worden. Er müsse nicht einen Abstand von der Länge einer geöffneten Tür zum Fahrzeug halten, um eine mögliche Kollision zu vermeiden. Daher könne dem Rennradfahrer in diesem Fall kein Vorwurf gemacht werden, dass er deutlich schneller gefahren war, als ein durchschnittlicher Fahrradfahrer.

Der Autofahrer habe seine Sorgfaltspflicht beim Aussteigen verletzt und somit eine grobe Unachtsamkeit zu verschulden, mit der der Rennradfahrer nicht hätte rechnen müssen.

 

Tipp: Mit dem „Holland-Griff“ bzw. „Radfahrergriff“ beim Aussteigen wäre der Unfall möglicherweise vermieden worden. Dabei macht man die Tür mit der anderen Hand auf als üblich – der Fahrer dementsprechend mit der rechten Hand und der Beifahrer mit der linken. Dabei dreht sich der Oberkörper automatisch nach hinten, sodass ein Schulterblick nicht versäumt wird.

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Haushaltsführungsschaden: Gesetzliche Unterhaltspflicht?

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

Thüringer Oberlandesgericht, Urteil vom 9. Februar 2022, Az.: 2 U 504/20

Leitsätze

Auf eine faktisch oder sittlich begründete Unterhaltsverpflichtung ist im Rahmen der Bemessung des Haushaltsführungsschadens nicht abzustellen. Entscheidend ist eine bestehende Unterhaltspflicht, deren Nichterfüllung zur Folge hätte, dass der Verletzte an sich gehalten wäre, auf andere Weise seinen Beitrag zum Familienunterhalt zu leisten. Dies ist bei einer faktisch oder sittlich begründeten Unterhaltsverpflichtung nicht der Fall; die weitere Erbringung der Leistungen kann nicht eingefordert werden.

Sachverhalt

Der unfallgeschädigte Kläger lebte am Unfalltag mit seiner (nichtehelichen) Lebensgefährten und seinen Eltern zusammen. Er bewohnte eine Etage seines Hauses zusammen mit seiner Lebensgefährtin und seinem Kind, die andere Etage bewohnten seine Eltern. Dies ist auch nach dem Unfall noch so.

Entscheidung

Der Kläger habe zwar einen Anspruch auf Schadensersatz, soweit die beeinträchtigte Fähigkeit zur Führung des Haushaltes der Deckung seiner eigenen Bedürfnisse diente. Er habe jedoch keinen Anspruch auf Schadensersatz, soweit seine Mitarbeit im Haushalt der Deckung des Bedarfes seiner Lebensgefährtin oder seiner Eltern diente. Aus dem Vortrag des Klägers ergebe sich nichts dafür, dass er gesetzlich verpflichtet war, durch Leistungen im Haushalt und am Haus zum Unterhalt seiner Eltern beizutragen, §§ 1601, 1602 Abs. 1, 1612 BGB. Der Kläger war auch seiner Lebensgefährtin gegenüber nicht gesetzlich zum Unterhalt durch Führung des Haushalts verpflichtet.

Auf eine faktisch oder sittlich begründete Unterhaltsverpflichtung ist im Rahmen der Bemessung des Haushaltsführungsschadens nicht abzustellen. Diese Einschränkung ist erforderlich, weil es um den Ersatz von Vermögensschäden geht. Das Ver-mögen kann aber nur dann betroffen sein, wenn durch das Unterbleiben der Hausarbeit für dritte Personen eine bestehende Unterhaltspflicht mit der Folge unerfüllt bliebe, dass der Verletzte an sich gehalten wäre, auf andere Weise seinen Beitrag zum Familienunterhalt zu leisten. Dies ist bei einer faktisch oder sittlich begründeten Unterhaltsverpflichtung nicht der Fall; die weitere Erbringung der Leistungen kann nicht eingefordert werden. Ein Anspruch könne hingegen bestehen, wenn die Leistungen zur Haushaltsführung aufgrund einer vertraglichen Regelung erfolgen, insbesondere soweit sie sich als Gegenleistung zur Unterhalts- oder Versorgungsleistung des anderen Partners verstehen. Möglicherweise kommt auch die Qualifizierung als ersatzfähiger Erwerbsschaden unter dem Gesichtspunkt in Betracht, dass die Haushaltsführung eine sinnvolle Verwertung der Arbeitskraft des davon betroffenen Partners darstellt. Eine Verpflichtung zur Erbringung des Betreuungsunterhaltes bestand aber gegenüber seinem – minderjährigen – Kind, §§ 1601, 1602 Abs. 1, 1606 Abs. 3 Satz 2 BGB. Die Verpflichtung zur Leistung des Betreuungsunterhaltes bestand daher seitdem bis zum Ende des streitgegenständlichen Zeitraumes. Die Mitarbeit des Klägers hat daher insoweit auszuscheiden, als sie der Deckung des Bedarfes seiner Lebensgefährtin oder seiner Eltern diente. Für den Zeitraum bis zur Geburt seiner Tochter sei daher auf einen „fiktiven“ Ein-Personen-Haushalt abzustellen. Für die Zeit danach auf einen „fiktiven“ Zwei-Personen-Haushalt mit dem Kläger und seinem Kind.

Anmerkung

Anders etwa das OLG München, nach dem für die konkrete Bestimmung des Schadensersatzes wegen Beeinträchtigung in der Führung des Haushalts ohne Belang sei, zu welchem Ausmaß von Haushaltstätigkeit der Geschädigte familienrechtlich verpflichtet gewesen wäre. Entscheidend sei allein, welche Tätigkeit er ohne den Unfall auch künftig geleistet haben würde. Eine Mitarbeitspflicht von Familienangehörigen sei zudem nur dann zu berücksichtigen, wenn diese Hilfe tatsächlich erbracht wurde (OLG München, 16.2.2022, Az.: 10 U 6245/20.

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