Alleinverantwortlichkeit des PKW-Fahrers bei Unfall in Baustellenbereich

Michael PeusMichael Peus

OLG Hamm, Beschluss vom 23.06.2023 – 11 U 37/22

Sachverhalt

Der Kläger befuhr mit seinem PKW eine Autobahn und wollte diese an einer Abfahrt verlassen. In dem Abfahrtsbereich gab es eine größere Baustelle. Diese war mit gelben Leitlinien, Absperrbaken und auch Schildern. versehen. Dass diese ausreichend gewesen seien wurde von dem Kläger ebenso angegriffen wie der Umstand, dass sie irrtumserregend gewesen seien und bestimmte Abstände nicht eingehalten gewesen wären. Jedenfalls bog der Kläger – behauptet auch wegen Nebels – zu früh ab und setzte mit dem Karosserieboden auf dem Asphalt auf, weil die rechten Räder des Fahrzeuges in dem Baugraben rechts der Fahrbahn keinen Untergrund vorfanden. Die öffentliche Hand wurde im Rahmen des § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG in Anspruch genommen. Das Landgericht wies die Klage ab, da keine Pflichtverletzung vorgelegen habe.

Der Kläger stellte die Entscheidung zur Überprüfung.

Entscheidung

Die Berufung hatte keinen Erfolg. Zuvor hat das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 23.06.2023 auf folgende Umstände hingewiesen:

  1. Trotz Einschaltung eines Bauunternehmers bleibe eine öffentlich-rechtliche Verkehrssicherungspflicht bei der öffentlichen Hand.
  2. Ob es einen Beschilderungsplan durch dir öffentliche Hand gegeben hat, ist jedenfalls dann unerheblich, wenn die konkreten Maßnahmen genügten. Entscheidend ist die tatsächliche Absicherung:

    Der vom Kläger geltend gemachte Schadensersatzanspruch im Zusammenhang mit einer vermeintlich unzureichenden Absicherung einer Baustelle ist danach zu beurteilen, wie die Unfallstelle tatsächlich abgesichert war. Maßgeblich waren die konkreten Verhältnisse vor Ort und nicht etwaige abstrakte Planungsvorstellungen des beklagten Landes, das sich nicht darauf beruft, dass die angeordneten Absicherungen nicht oder nicht richtig vor Ort umgesetzt wurden (vgl. dazu auch: OLG München, Urteil vom 16.02.2012 – 1 U 3409/11 – BeckRS 2012, 4400).

  3. Wenn eine durchgezogene Linie grundsätzlich erkennbar ist, bleibt sie wirksam, auch wenn sie an einigen Stellen verschmutzt und ggfls. etwas beschädigt ist:

    Die Feststellung des Landgerichts, wonach die durchgezogene Linie in dem Bereich, in dem der Kläger nach seinem Vorbringen abgebogen sein will, als solche erkennbar gewesen sei, ist frei von Rechtsfehlern. Insbesondere konnte das Landgericht die insoweit getroffenen Feststellungen anhand der zur Gerichtsakte eingereichten Lichtbilder der Unfallstelle treffen. Auf den Lichtbildern I und II auf Bl. 207 und auf dem Lichtbild Ia auf Bl. 213 der landgerichtlichen Akte lässt sich erkennen, dass die durchgezogene Linie im Bereich des Hinweisschildes zwar etwas verdreckt oder geringfügig beschädigt sein mag, jedoch als solche weiterhin deutlich zu erkennen war. Dass eine Erkennbarkeit auch bei den klägerseits behaupteten Sichtverhältnissen gegeben war, durfte das Landgericht ebenfalls annehmen, ohne dass es sich dazu etwa eines Sachverständigen hätte bedienen müssen. Der Kläger hatte – wie jeder andere Verkehrsteilnehmer auch – seine Fahrweise den Sicht- und Witterungsverhältnissen anzupassen (§ 3 Abs. 1 Satz 2 StVO).

  4. Weil ein Verkehrsteilnehmer nach § 3 Abs. 1 StVO seine Fahrweise an die Sichtverhältnisse anzupassen hat, benötigt man kein Sachverständigengutachten für die Frage, ob eine Erkennbarkeit dann gegeben ist:

    Dass eine Erkennbarkeit auch bei den klägerseits behaupteten Sichtverhältnissen gegeben war, durfte das Landgericht ebenfalls annehmen, ohne dass es sich dazu etwa eines Sachverständigen hätte bedienen müssen. Der Kläger hatte – wie jeder andere Verkehrsteilnehmer auch – seine Fahrweise den Sicht- und Witterungsverhältnissen anzupassen (§ 3 Abs. 1 Satz 2 StVO).

  5. Hinweisschilder beanspruchen für sich nicht die Geltung wie Richtzeichen. Hinweisschilder können auch in einiger Entfernung vor der „geltenden‟ Stelle aufgestellt sein:

    Eine Verkehrssicherungspflichtverletzung folgt vorliegend auch nicht aus der Positionierung des Hinweisschildes. Hinsichtlich der Aufstellung von Richtzeichen ordnet § 42 Abs. 3 StVO lediglich an, dass diese dort aufzustellen seien, von wo an die Anordnung zu befolgen ist. Soweit die Zeichen aus Gründen der Leichtigkeit oder der Sicherheit des Verkehrs in einer bestimmten Entfernung zum Beginn der Befolgungspflicht stehen, ist die Entfernung zu dem maßgeblichen Ort auf einem Zusatzzeichen anzugeben. Die Regelung betrifft demnach nur Richtzeichen, welche ein Ge- oder Verbot enthalten, was bei dem Richtzeichen 430 gerade nicht der Fall ist. Es soll lediglich einen besonderen Hinweis zur Erleichterung des Verkehrs geben. Dabei ist es sogar üblich, dass solche Hinweise in einiger Entfernung zum Kreuzungsbereich erfolgen, um dem Fahrer die Möglichkeit zu geben, seine Fahrweise vorausschauend zu gestalten. Es handelt sich insbesondere nicht um ein dem Zeichen 333 (Ausfahrt) vergleichbares Richtzeichen, aufgrund dessen der Kraftfahrer den Schluss ziehen könnte, dass sich eben an dem Aufstellungsort der Beginn der Ausfahrt befindet.

  6. Wenn die allgemeinen sicherungsmaßnahmen genügen, muss auch ein plötzlicher, seitlicher Abfall der Straße (Fräskante) nicht gesondert gesichert werden:

    Letztlich begründet auch der Umstand, dass die Fräskante nicht gesondert gesichert war – entgegen der Annahme des Klägers – keine Verkehrssicherungspflichtverletzung des beklagten Landes. Durch die Kennzeichnung des Fahrbahnverlaufs mittels Leitbaken und durchgezogener Linie wurde hinreichend Sorge dafür getragen, dass Verkehrsteilnehmer nicht in den Baustellenbereich gelangen. Einer zusätzlichen Absicherung in dem für den allgemeinen Verkehr nicht freigegebenen Baustellenbereich bedurfte es vor diesem Hintergrund nicht.

 

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(keine) schuldhafte Verkehrssicherungspflichtverletzung bei DIN-widrigem Inventar

Michael PeusMichael Peus

Landgericht Passau
SR 000438-23

 

Sachverhalt

Die Beklagte betreibt seit 20 Jahren einen Bereich mit Liegeflächen. In dem Bereich waren hunderte Liegen, vor 20 Jahren aus den USA importiert, für die Besucher zur Nutzung zur Verfügung gestellt. Die Kopflehne war in bekannter Art und Weise aufgebaut, nämlich, dass an der Kopflehne ein „einseitig geöffnetes, abgerundetes Rechteck‟ angebracht war, welches an den beiden Enden mit der Kopflehne verbunden war. Bei der der Öffnung gegenüberliegenden Rechteckseite handelte es sich nur um ein Verbindungsstück. Die andern beiden Rechteckseiten, die einerseits an der Verbindung zur Kopflehen endeten und andererseits in das Verbindungsstück übergingen, hatten jeweils „Zähne‟, die in eine feste Liegenstange unter dem Kopfteil eingreifen konnten und so durch Arretierung den Neigungsgrad des Kopfstücks bestimmten.

Die Klägerin besuchte die Einrichtung und benutzte eine der Liegen. Die Funktionsweise war ihr durch mehrere Nutzungen zuvor bekannt. Ferner ist die Mechanik selbsterklärend. Als sie – auf der Liege seiend (in welcher Ruhe- und Bewegungsart war streitig) – hinter das Kopfteil griff, um das über das Kopfteil befindliche Badetuch zu richten, klappte das Kopfteil zurück und führte zu einer Handverletzung (medizinisch: Teilamputation eines Fingers), deren Umfang auch streitig war.

Ursprünglich führte die Klägerin die Verletzung darauf zurück, dass die Liegenkonstruktion (unstreitig) aus Metall war und wegen des Alters Verschleiß gehabt hätte. Sodann wurde ein Sachverständigengutachten eingeholt. Der Sachverständige führte aus, dass
a)  das Material „Metall‟ zumindest nicht kausal war,
b) Verschleiß nicht vorhanden war, sondern die Liege uneingeschränkt funktionstüchtig war,
c) im Klappmechanismus eine DIN-widrige Quetschmöglichkeit vorläge. 

Sodann stützte die Klägerin ihre Klage auf die DIN-widrige Quetschmöglichkeit. Die DIN existierte (unstreitig) bereits zum Zeitpunkt des Imports der Liege. Dass die Kausalität der DIN-Problematik streitig war, hielt das Amtsgericht nicht davon ab, die Rechtsansicht zu vertreten, eine Haftung der Beklagten wegen einer schuldhaften Verkehrssicherungspflichtverletzung sei gegeben. Das Amtsgericht gab der Klage auf Schmerzensgeld statt.

Gegen das Urteil des Amtsgerichts wurde Berufung eingelegt und das Landgericht entschied in Kammerbesetzung.

Entscheidung

Die Berufung hatte Erfolg. Die Klage wurde abgewiesen.

Selbst dann, wenn man eine Kausalität einer DIN-Widrigkeit unterstellen würde, habe die Klägerin keinen Anspruch. Es fehle an einem Verschulden.

Das Landgericht Passau folgt dabei der Rechtsprechung des BGH, wonach man im Rahmen der Verkehrssicherungspflichten gehalten sei, die notwendigen und zumutbaren Maßnahmen zu treffen, um andere nicht zu schädigen (…). Dabei könnten DIN-Normen die Sorgfaltspflichten konkretisieren. DIN-Normen seien nicht abschließend, würden aber grundsätzlich den Stand von Wissenschaft und Technik abbilden. Bereits durch den Import der DIN-widrigen Liegen seine objektiv eine Pflichtverletzung erfüllt.

Allerdings fehle es an einem Verschulden der Beklagten. Das Landgericht folgte dabei der hiesigen Hilfsargumentation. Diesseits wurde darauf verwiesen, dass niemand zig tausende DIN-Normen kennen könne und auch nicht die Einhaltung derer durch wiederholte Begehungen des Betriebs sicherstellen könne. Das wäre unverhältnismäßig und würde im Übrigen nicht einmal von öffentlich zugänglichen Gebäuden (Rathäusern, Gerichten etc.) gehandhabt.
Das Landgericht folgte der hiesigen Argumentation (jedenfalls) insoweit, dass es ausführte:

Die Beklagte war aus besonderen persönlichen Gründen nicht zu einer Abwendung der
von der Liege ausgehenden Gefahr verpflichtet, weil sie nicht erkennen konnte, dass die Liege
den maßgeblichen DIN-Normen nicht entsprach. Bei einer solchen Sachlage ist ausnahmsweise
der Schluss von der Nichteinhaltung der “äußeren” Sorgfalt auf eine Verletzung der “inneren”
Sorgfalt nicht gerechtfertigt (vgl. dazu v. Bar, JuS 1988, 169 (173); Deutsch, HaftungsR I, 1976,
S. 276 ff., (279); Steffen, in: RGRK, § 823 Rdnr. 144; s. auch BGHZ 80, 186 (199) = NJW 1981,
1603 = LM § 823 (Dc) BGB Nr. 130; Senat, NJW 1986, 2757 = LM § 823 (Dc) BGB Nr. 152 =
VersR 1986, 765 (766)).

Denn beim Import der Liegen entsprachen diese der Art und dem Erscheinungsbild her den herkömmlichen Liegen. Eine Pflicht, importierte Waren anlasslos durch einen Sachverständigen auf DIN-Konformität zu überprüfen lassen, bestehe nicht. Und bei der Nutzung der hunderten Liegen über 20 Jahre hinweg ohne jeden (bekannten) Zwischenfall sei auch in der Folgezeit keine Kontrollpflicht ausgelöst worden.

Schließlich führt das Gericht auch aus, dass es keine anlasslose Überprüfungspflicht des gesamten Betriebes gab:

dd. Eine schuldhafte Verkehrspflichtverletzung der Beklagten kann – anders als das Amtsgericht Passau annimmt – auch nicht darin gesehen werden, dass die Beklagte es unterlassen hat, in regelmäßigen Abständen anlasslos ihren Betrieb mitsamt den streitgegenständlichen Liegen auf die Einhaltung aktueller Sicherheitsbestimmungen überprüfen zu lassen. Eine solche allgemeine Überprüfungs-, Nachrüstungs- und Anpassungspflicht besteht für den Betreiber einer Anlage gerade nicht. Vielmehr ist eine Einzelfallprüfung durchzuführen und danach zu fragen, ob sich im konkreten Einzelfall die naheliegende Gefahr ergibt, dass durch die bestehende technische Anlage – ohne Nachrüstung – Rechtsgüter anderer verletzt werden können. Denn welche Sicherheit und welcher Gefahrenschutz im Rahmen der Verkehrssicherungspflicht zu gewährleisten sind, richtet sich nicht ausschließlich nach den modernsten Erkenntnissen und nach dem neuesten Stand der Technik. Es kommt vielmehr maßgeblich auch auf die Art der Gefahrenquelle an. Je größer die Gefahr und je schwerwiegender die im Falle ihrer Verwirklichung drohenden Folgen sind, umso eher wird eine Anpassung an neueste Sicherheitsstandards geboten sein (vgl. hierzu BGH, NJW 2010, 1967). Ein konkreter Handlungsbedarf bestand für die Beklagte in Hinblick auf eine Überprüfung der vorhandenen Liegen und den Erwerb neuer DIN-Norm-konformer Liegen nicht. Der seit dem Import der Liegen bestehende Konstruktionsfehler und die damit verbundene Gefahr für Verletzungen der Gäste war für einen durchschnittlichen Klinikbetreiber wie die Beklagte nicht erkennbar. Ein konkreter Anlass, die Liegen auf Funktionstüchtigkeit und Verkehrssicherheit durch einen Sachverständigen überprüfen zu lassen, ergab sich bis zum streitgegenständlichen Vorfall am 31.05.2018 gerade nicht. Mit einer über das allgemeine Lebensrisiko hinausgehenden Gefährlichkeit der Liegen musste niemand rechnen. Eine regelmäßige anlasslose Überprüfung der Liegen, welche nur zusammen mit einer regelmäßigen anlasslosen Überprüfung des
gesamten Geschäftsbetriebs der Beklagten sinnvoll erscheinen würde, durch fachkundige Personen wie Sachverständige ist in rechtlicher Hinsicht weder geboten noch kann ein solches Vorgehen mit den entsprechenden Konsequenzen einer nach dem Rat der Sachverständigen durchzuführenden Anpassung und Erneuerung der Beklagten finanziell und mit Blick auf die Funktionsfähigkeit ihres Betriebes zugemutet werden.

 

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keine Haftung bei Baumsturz

Michael PeusMichael Peus

OLG Hamm Beschluss vom 28.06.2023, Az. 11 U 170/22

Sachverhalt

Der Teil eines Baumes aus einem Waldgebiet fiel bei orkanartigem Sturmgeschehen auf eine öffentliche Straße. Das Fahrzeug des Klägers wurde dadurch geschädigt. In Anspruch wurde die öffentliche Hand im Wege der Amtshaftung genommen. Das Landgericht wies die auf Schadensersatz gerichtete Klage ab. Der Kläger stellte die Entscheidung zur Überprüfung durch das Oberlandesgericht Hamm.

Entscheidung
Das OLG Hamm wies darauf hin, dass es dem Rechtsmittel des Klägers keinen Erfolg beimesse. Wesentlich seien hierfür folgende Erwägungen:

  1. Der Baum stand in einem Waldstück. Es handelte sich mangels besonderer Merkmale, welche ihn zu einem Straßenbaum machen würden, nicht um einen Straßenbaum, auf den sich eine Amtspflicht der öffentlich-rechtlichen Verkehrssicherungspflicht erstrecke (Verweis auf BGH, 19.01.1989, III ZR 258/87).
  2. Selbst wenn es sich um einen Straßenbaum handele und sich eine öffentlich-rechtliche Verkehrssicherungspflicht auf ihn erstrecke, sei die Klage unbegründet:
      • Der Pflichtenumfang läge grundsätzlich nur in Kontrollen; lediglich in Ausnahmefällen müssten Verkehrswege gesperrt werden, wenn eine Kontrolle nicht in angemessener Zeit habe erfolgen können:

        „Denn der Straßenbaulastträger hat aufgrund der ihm für die Straße obliegenden Verkehrssicherungspflicht zur Abwehr der von Straßenbäumen ausgehenden Gefahren nur die Maßnahmen zu treffen, die einerseits zum Schutz gegen Astbruch und Umsturz erforderlich sind, andererseits ihm unter Berücksichtigung des umfangreichen Baumbestandes der öffentlichen Hand auch zumutbar sind. Er genügt seiner Überwachungs- und  Verkehrssicherungspflicht hinsichtlich der Straßenbäume, wenn er diese in regelmäßigen zeitlichen Abständen hin auf die Standsicherheit hin kontrolliert. Er hat die dabei von ihm als gefahrbringend festgestellten Bäume oder Teile von diesen zu entfernen. Ist ihm dies innerhalb angemessener Zeit nicht möglich, kann ihn im Einzelfall auch die Pflicht treffen, die Straße bis zur Beseitigung des gefahrbringenden Baumes oder Teiles davon für den Verkehr zu sperren.‟

      • Bäume bedeuten allgemein eine abstrakte Gefahr. Diese ist jedem bekannt und sind Teil des allgemeinen Lebensrisikos (vgl. auch BGH, Urteil vom 06.03.2014, III ZR 352/13).

        „Dass nicht jede von einem Baum oder einzelnen seiner Äste ausgehende Gefahr immer von außen erkennbar ist, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung. Vielmehr muss der Verkehr gewisse Gefahren, die nicht durch menschliches Handeln entstehen, sondern auf Gegebenheiten oder Gewalten der Natur beruhen, als unvermeidbar hinnehmen. Eine Verletzung der  Verkehrssicherungspflicht liegt deshalb in solchen Fällen nur vor, wenn Anzeichen verkannt oder übersehen worden sind, die nach der Erfahrung auf eine weitere Gefahr durch den Baum hinweisen (BGH, Urteil vom 21.01.1965 – III ZR 217/63, juris Rn. 13; Senatsurteil vom 30.10.2020 – 11 U 34/20, juris Rn. 7; Senatsbeschluss vom 04.11.2013 – 11 U 38/13, juris Rn. 13; Senatsbeschluss vom 04.11. 2022 – I-11 U 86/21 -, juris Rn. 6).‟

      • Allgemein gilt bezüglich der Verkehrssicherungspflicht auch in der Ausprägung als Amtspflicht, dass nur in „vernünftigem‟ Ausmaß Sicherheit geschuldet ist:

        „Die der Beklagten als Straßenbaulastträgerin nach §§ 9, 9a StrWG NW obliegende Straßenverkehrssicherungspflicht umfasst (nur) diejenigen Maßnahmen, die ein umsichtiger und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch für notwendig und ausreichend hält, um andere vor Schäden zu bewahren (BGH, Urteil vom 6. Februar 2007 – VI ZR 274/05 -, Rn. 14, juris). Dabei ist zu berücksichtigen, dass nicht jeder abstrakten Gefahr vorbeugend begegnet werden kann. Eine Verkehrssicherung, die jede Schädigung ausschließt, ist im praktischen Leben nicht erreichbar. Deshalb muss nicht für alle denkbaren Möglichkeiten eines Schadenseintritts Vorsorge getroffen werden. Es sind vielmehr nur diejenigen Vorkehrungen zu treffen, die geeignet sind, die Schädigung anderer tunlichst abzuwenden. Der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (§ 276 Abs. 2 BGB) ist genügt, wenn im Ergebnis derjenige Sicherheitsgrad erreicht ist, den die in dem entsprechenden Bereich herrschende Verkehrsauffassung für erforderlich hält.‟

      • Nach dem allgemeinen Grundsatz des Umfangs der Verkehrssicherungspflicht war allgemein wegen Existenz des Baumes eine Sperrung des Straßenabschnitts nicht notwendig:

        „Nach diesen Grundsätzen muss der Träger der Straßenbaulast bei einem aufkommen-den Sturm nicht einzelne Straßenabschnitte sperren, um bereits vorbeugend den sonst teilnehmenden Verkehr vor Schäden durch auf die Straße umstürzende Bäume oder Teile davon zu schützen.‟

      • Nach allgemeinen Grundsätzen musste vor Gefahren nur gewarnt werden, wenn eine Gefahr nicht rechtzeitig erkannt werden kann:

        „Darüber hinaus muss der Verkehrssicherungspflichtige auch nur diejenigen Gefahren ausräumen oder vor ihnen warnen, die für den Benutzer, der die erforderliche Sorgfalt walten lässt, nicht oder nicht rechtzeitig erkennbar sind und auf die er sich nicht oder nicht rechtzeitig einzurichten vermag (OLG Köln, Beschluss vom 07.01.2016 – 7 U 160/15 – juris Rn. 5).‟

      • Deshalb gab es auch im konkreten Einzelfall keine Pflicht zur Warnung, dass Bäume bei Orkan umfallen können oder sich Teile von ihnen lösen:

        „Dass bei einem orkanartigen Sturm die Gefahr besteht, dass umherwehende Gegenstände oder umstehende Bäume oder Teile von ihnen auf die Straße stürzen, ist aber allgemein bekannt, so dass sich jeder umsichtige Verkehrsteilnehmer auf die damit einhergehenden Gefahren – und sei es durch einen Verzicht auf das Befahren der Straße – einstellen kann. Aufgrund dieser allgemein anzunehmenden Kenntnis besteht kein Anspruch darauf, durch den Inhaber der Verkehrssicherungspflicht vor Schäden, welche auf solche Extremwetterlagen und damit höhere Gewalt zurückzuführen sind, gewarnt oder – wie vom Kläger verlangt – durch vorbeugende Maßnahmen geschützt zu werden (Wingler in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 10. Aufl., § 839 BGB [Stand: 21.03.2023], Rn. 564).‟

      • Ein Absperren wäre für eine Kommune bzw. sonstigen Amtsträger wegen des personellen Aufwands unzumutbar:

        „Zudem würde die Annahme einer solchermaßen weitgehenden Verkehrssicherungspflicht den Verkehrssicherungspflichtigen auch in personeller und wirtschaftlicher Hinsicht überfordern und wäre ihm deshalb auch nicht zumutbar.‟

  3. Selbst wenn an anderer Stelle Maßnahmen wie das Absperren von Straßen erfolgt sein sollten, wären diese nach den allgemeinen Maßstäben überobligatorisch und würden damit den Pflichtenkreis nicht erweitern.

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Recht im Winter – Übersicht 2024

Michael PeusMichael Peus

Übersicht zu Artikeln „Winter & Recht‟:

– Vorstellung und Kommentierung  zur ergangenen Rechtsprechung nach Themen der Urteile –

 

Dachlawinen:

Dachlawine beschädigt Kfz, OLG Hamm, RA Krappel

Dachlawinen und Kfz, LG Detmold u. OLG Hamm, RA Peus

 

Fußgängerstürze wegen Glätte:

Sturz auf Bahnhofsgelände, BGH, RA Dr. Schmidt

Sturz auf dem Bahnhofsgelände, OLG Hamm, RA Möhlenkamp

Sturz auf dem Weg zum Kfz, OLG München, RA Dr. Schmidt

Sturz wegen Glätte nach streupflichtiger Zeit, LG Braunschweig, RA Möhlenkamp

Sturz wegen ungeeigneten Streumittels, OLG Hamm, RA Möhlenkamp

 

Mieter

Lichterkette am Balkon der Mietwohnung, RA Peus

 

Sommerreifen

Unfall mit Sommerreifen bei Schnee, RA Peus

 

Weihnachtsbräuche:

Lichterkette am Balkon der Mietwohnung, RA Peus

Sturz über Schlauch auf Weihnachtsmarkt, OLG Sachsen-Anhalt, RA Dr. Schmidt

Verkehrssicherungspflicht für Weihnachtsbaum, OLG Düsseldorf, RA Peus

Weihnachtsbaum in Gefängniszelle: nicht gestattet, RA Peus

 

Winterreifen

Winterreifen am Mietwagen von Schadensersatzanspruch umfasst, RA Peus

Winterreifen am Radarmesswagen, RA Peus

 

Wintersport:

Rodeln und Skifreizeit, AG Bonn und LG Augsburg, RA Peus

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Recht im Winter – Winterreifen im Rahmen des Schadensersatzanspruchs

Michael PeusMichael Peus

Winterreifenaufschlag beim Mietwagen ein Schaden?

AG Wuppertal, Urteil vom 23.02.2021 – 31 C 102/20 – 

 

Es war streitig, ob ein Geschädigter, der schadenbedingt (z.B. nach einem Verkehrsunfall) einen Mietwagen anmieten muss, Anspruch auf die Kostenposition „Winterreifen‟ hat.

Das Landgericht Essen urteilte im Jahr 2009, dass ein im Winter angemieteter Mietwagen Winterreifen haben müsse. Diese könnten mithin nicht gesondert abgerechnet und in Rechnung gestellt werden:

„Winterreifen gehören bei einem im Dezember gemieteten Fahrzeug zur Grundausstattung; sie rechtfertigen daher keine Aufschlag.‟

vgl. LG Essen, Urteil vom 13.01.2009 – 15 S 265/08

Abweichend sah es das Landgericht Karlsruhe (Urteil vom 27.09.2013 – 10 O 122/13), welches neben dem Normaltarif ungeprüft auch die Aufschläge für Winterreifen zusprach.

Nachvollziehbar führte das LG Düsseldorf zu der heute herrschenden Rechtsansicht aus, dass es darauf ankomme, ob der örtliche Markt üblicherweise gesondertes Entgelt für Winterreifen verlangt oder nicht. Dies sei entscheidend für die Frage, ob diese Kostenposition nach § 249 BGB einen Schaden darstelle:

„bb) Hinsichtlich der Erstattungsfähigkeit der Kosten für die Winterbereifung besteht Streit. Die Klägerin fordert in den Fällen, 2, 3, 5, 8 und 9 diese Kosten. Nach Ansicht des Gerichts sind diese Kosten ebenfalls grundsätzlich erstattungsfähige Nebenleistungen. Denn gemäß § 249 Abs. 2 S. 1 BGB haben die Geschädigten Anspruch auf die zur Naturalrestitution erforderlichen Mittel. „Erforderlich“ ist demnach der Geldbetrag, der nach den Marktgegebenheiten für eine solche Anmietung aufgewandt werden muss. Wenn auf dem Mietwagenmarkt Mietfahrzeuge mit Winterbereifung nur gegen Zahlung eines Zuschlags für dieses Ausstattungsmerkmal angeboten werden, dann ist der zusätzliche Kostenaufwand für die Ausstattung mit Winterreifen erforderlich i. S. v. § 249 Abs. 2 S. 1 BGB. Vorausgesetzt ist dabei, dass die Winterbereifung ihrerseits erforderlich ist, um den Verlust der Nutzungsmöglichkeit des eigenen Kfz auszugleichen. Dies ist nicht nur stets dann der Fall, wenn das verunfallte Kfz mit Winterreifen ausgestattet war, sondern auch in allen Fällen, in denen während der Mietdauer ernstlich mit der Möglichkeit von Wetterlagen gerechnet werden muss, die mit Rücksicht auf § 2 Abs. 3a StVO a.F. eine Winterausrüstung des Mietwagens erforderlich machen. Da der Mieter Verantwortung für fremdes Eigentum übernehmen muss, ist ihm in der kalten Jahreszeit die Haftung für den Mietwagen ohne Winterreifen selbst dann nicht zuzumuten, wenn er sein eigenes Fahrzeug nicht mit Winterreifen ausgerüstet hat.

Das Argument, in der Winterzeit sei die Ausrüstung eines Mietwagens mit Winterreifen eine „Selbstverständlichkeit“, die mit dem Normaltarif abgegolten sei, trägt dann nicht, wenn der Markt dies gerade nicht als „selbstverständlich“ voraussetzt. Dass dies so ist, ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts aus dem Umstand, dass die Schwacke-Liste aufgrund der Erhebungen bei unzähligen Autovermietern Winterreifen als typischerweise gesondert zu vergütende Zusatzausstattung ausweist.‟

vgl. LG Düsseldorf, Urteil vom 23.04.2014 – 7 O 143/13

Dieser Ansicht folgten richtigerweise beispielsweise auch das OLG Düsseldorf, Urteil vom 21. April 2015 – I-1 U 114/14, und das AG Wuppertal, Urteil vom 23.02.2021 – 31 C 102/20.

Dieser Anspruch soll sogar dann bestehen können, wenn das Fahrzeug des Geschädigten keine Winterreifen montiert hat:

Voraussetzung für die Erstattungsfähigkeit der Winterreifen ist dabei aber stets, dass diese ihrerseits erforderlich gewesen sind, um den Verlust der Nutzungsmöglichkeit des eigenen Kfz auszugleichen. Dies ist nicht nur dann der Fall, wenn das verunfallte Kfz mit Winterreifen ausgestattet war, sondern in allen Fällen, in denen während der Mietdauer ernstlich mit der Möglichkeit von Wetterlagen gerechnet werden muss, die mit Rücksicht auf § 2 Abs. 3a StVO eine Winterausrüstung des Mietwagens erforderlich machen. Da der Mieter Verantwortung für fremdes Eigentum übernehmen muss, ist ihm in der kalten Jahreszeit die Haftung für den Mietwagen ohne Winterreifen selbst dann nicht zuzumuten, wenn er sein eigenes Fahrzeug nicht mit Winterreifen ausgerüstet hat (vgl. OLG Stuttgart, NZV 2011, 556 ff.).

vgl. AG Königswinter, Schlussurteil vom 29.11.2022 – 10 C 23/22

Die Anmietung des Ersatzfahrzeuges mit Winterreifen wird in der Regel auch noch im März erforderlich sein, wenn jedenfalls partiell mit Winterwetter gerechnet werden muss.

 vgl. AG Waldbröl, Urteil vom 18.06.2020 – 15 C 10/20

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Hinterbliebenengeld – Übersicht (Stand 07/2023)

Michael PeusMichael Peus

zur allgemeinen textlichen Darstellung

Betrag Näheverhältnis Bemessungsgründe Haftungsgrund Gericht
0 Nasciturus (Vater verstarb vor der Geburt)
kein Näheverhältnis
Nasciturus ist nach § 1 BGB noch nicht rechtsfähig; eine Ausnahme – wie in § 844 Abs. 2 BGB – hat der Gesetzgeber nicht gemacht; von einer ungewollten Regelungslücke ist nicht auszugehen. Verkehrsunfall in 2017 OLG München im Endurteil vom 05.08.2021, Az. 24 U 5354/20
0 Sohn einer Getöteten kein Anspruch auf Hinterbliebenengeld wegen des zeitlichen Anwendungsrahmens (ab 22.07.2017) Krebsbehandlung in 2015 OLG München im Endurteil vom 25.03.2021, Az. 1 U 1831/18
0 Mutter einer Getöteten kein Anspruch auf Hinterbliebenengeld, weil Schmerzensgeldanspruch höher ist und dem Hinterbliebenengeld vorgeht Mord am 29.06.2019 LG Bonn, Urteil vom 03.12.2019 – 24 Ks 7/19
0 Schwiegermutter einer Getöteten kein Anspruch auf Hinterbliebenengeld wegen Sperre nach §§ 104, 105 SGB VII Arbeitsunfall am 14.03.2018 BGH, Urt. v. 08.02.2022 – VI ZR 3/21, Vorinstanz: LG Koblenz, Urteil vom 24. April 2020 – 12 O 137/19
0 Eltern eines 24 Jahre alten Getöteten Anspruch auf Hinterbliebenengeld aufgrund der Haftungsprivilegierung gem. § 105 SGB VII ausgeschlossen. Verkehrsunfall am 04.06.2018 LG Mainz, Urt. v. 02.09.2020 – 5 O 249/19
0 anbändelnde Partnerschaft
kein ausreichendes Näheverhältnis
  • erste Anbahnung des Verhältnisses ca. 25.11.2019, also knapp 2 Monate vor Tötung
  • Beziehung wurde beiderseits noch geheim gehalten
  • in der Woche vor der Tötung täglicher Besuch nebst Übernachtung
Tötungsdelikt am 08.02.2020 BGH, Beschluss vom 28.10.2021 – 4 StR 300/21
0 Schwipschwägerin
kein ausreichendes Näheverhältnis
  • enger Familienverbund
  • erhebliche gemeinsame Freizeitgestaltung
  • nicht verwandt
  • nicht verschwägert
  • kein gemeinsamer Haushalt
  • keine finanzielle Unterstützung
Verkehrsunfall am 14.09.2016 LG Limburg, Urteil vom 22.03.2019 – 2 O 177/18
0 Ehemann
Näheverhältnis widerlegt
  • seit 4 Jahren getrennt
  • Scheidungsantrag 1 Jahr vorher eingereicht
  • neue Beziehung des Ehemannes
Verkehrsunfall am 14.04.2018 LG Traunstein, Endurteil v. 11.02.2020, Az. 1 O 1047/19
0 Angehörige nach § 844 Abs. 3 BGB
Näheverhältnis widerlegt
  • Die Beziehung der Angehörigen zum Verstorbenen war „gerade in den Jahren vor deren Tod als schwierig und nicht eng im Sinne eines regelmäßig gelebten persönlichen Kontakts und besonderen persönlichen Näheverhältnisses gestaltet‟.
  • Allein Trauer über den Tod des Angehörigen genügt nicht.
Mord BGH, Beschluss vom 18.05.2020, Az. 6 StR 48/20
0 Tochter eines Getöteten
  • Die Haftungsquote des Verstorbenen beträgt 100%.
  • Der Verstorbene verhielt sich grob verkehrswidrig. Daher tritt die einfache Betriebsgefahr des Schädigers hinter dem Verursachungsbeitrag des Geschädigten zurück.
Verkehrsunfall im März 2019; Haftung des Schädigers 0% LG Münster, Urt. v. 27.09.2021 – 11 O 304/21
0 Ehefrau eines Getöteten
  • Die Haftungsquote des Verstorbenen beträgt 100%.
  • Der Verstorbene verhielt sich grob verkehrswidrig. Daher tritt die einfache Betriebsgefahr des Schädigers hinter dem Verursachungsbeitrag des Geschädigten zurück.
Verkehrsunfall im März 2019; Haftung des Schädigers 0% LG Münster, Urt. v. 27.09.2021 – 11 O 304/21
2.000 Vater
eines 19-jährigen Verstorbenen
  • 1998 Sohn geboren
  • 2000 Mutter und Verstorbenen verlassen
  • 2006 Umzug des Vaters; persönlicher Kontakt nur in Ferienzeit; dann: Kontaktabbruch; keine familiäre Vater-Sohn-Beziehung
  • 2012: nach Versterben der Kindsmutter wieder Umgangskontakt; 2 Mal wöchentlich telefonischer Kontakt
  • 2013: es beginnt wieder Umgangskontakt in Form monatlicher Umgangswochenenden und während der Schulferien
  • 2016: im September letzter persönlicher Kontakt
  • 09.09.2017: letzter Kontakt via Handy-Chat
  • Sohn war bereits erwachsen
Mord in 09/2017; Haftung des Schädigers 100% LG Osnabrück, Urteil vom 09. Januar 2019 – 3 KLs 4/18
3.000 Schwiegertochter einer Verstorbenen Verkehrsunfall in 2018; Haftung des Schädigers 100% LG München II, Endurteil vom 17.05.2019 – 12 O 4540/18
3.000 Partnerin eines 22-jährigen Verstorbenen ·         Vergleichsweise kurze Dauer der Partnerschaft (zwei Monate) Totschlag in 2020; Haftung des Schädigers 100% LG Münster, Urt. v. 07.09.2020 – 2 Ks-30 Js 119/20-6/20
5.000 Vater
eines verstorbenen 20-Jährigen
  • Alter des Verstorbenen
  • kein gemeinsamer Wohnsitz
  • Fahrlässigkeit auf Seiten des Beklagten
  • kurze Zeit vom Unfallzeitpunkt bis zum Eintritt des Todes
  • mindestens 50% Mitverschulden des Verstorbenen
Verkehrsunfall
Haftung des Schädigers (maximal) 50%
OLG Koblenz, Beschluss vom 31.08.2020 – 12 U 870/20
5.000 Sohn
einer Verstorbenen
  • 48 Jahre alt
  • bereits verheiratet
Verkehrsunfall in 2018; Haftung des Schädigers 100% LG München II, Endurteil vom 17.05.2019 – 12 O 4540/18
5.000 Bruder
eines 60-jährigen Verstorbenen
  • Miterleben des Unfalls und des Versterbens
  • räumliche Entfernung sprach gegen besondere Nähe
Verkehrsunfall
Haftung des Schädigers 100%
Landgericht Tübingen, Urteil vom 17. Mai 2019, Az. 3 O 108/18
5.000 Schwester
eines 60-jährigen Verstorbenen
  • enge Verbindung im Kindesalter
  • Unternahmen noch als Erwachsene gemeinsame Reisen
  • gemeinsamen Urlaub für 2019 geplant
  • Näheverhältnis (Geschwister) ist auf niedriger Stufe anzusiedeln
Mord in 08/2018
Haftung der Schädigerin 100%
Landgericht München II, Urteil vom 18. Dezember 2020, Az. 1 Ks 31 Js 47130/18
5.000 Partner einer 20-jährigen Verstorbenen
  • 3-4 Jahre Bekanntschaft vorhergehend
  • besonderes persönliches Näheverhältnis
  • Plan, einen Familienhausstand zu gründen
  • Partner überließ Verstorbener seinen Pkw
  • Deutlich kürzerer Zeitraum des Näheverhältnisses als in Vergleichsfällen
  • 3-monatige Liebesbeziehung

 

Verkehrsunfall am 07.01.2022

Haftung des Schädigers 100%

OLG Celle, Beschl. v. 21.09.2022 – 5 U 97/22; Vorinstanz: LG Hildesheim, Urt. v. 14.06.2022 – 3 O 30/22
5.000 57-jährige Tochter einer 89-jährigen Verstorbenen
  • Näheverhältnis wird vermutet (Mutter-Tochter-Verhältnis)
  • Elternteil bereits im vorgerückten Alter und bereits erwachsenes Kind: Natürlicher Verlust der Eltern hat sich zumindest abgezeichnet, Kind meist schon ausgezogen und hat selbst eine Familie gegründet.
  • Genugtuungsfunktion entfällt vollständig, Unfall wurde nicht vorsätzlich oder durch Leichtfertigkeit verursacht.
  • Todesursache selbst lag in dem Gesundheitszustand der Verstorbenen, der tödliche Verlauf wurde durch den Unfall nur angestoßen.
  • Bereits vorhandene Schadenanfälligkeit der Getöteten
Verkehrsunfall am 08.12.2019 LG Heidelberg, Urt. v. 19.01.2023 – 5 O 93/21
6.500 Tochter
eines Unfallopfers
  • Tochter war erste Ansprechpartnerin des Vaters
  • Tochter trauerte noch 18 Monate nach Unfall um den Vater
  • Wohnorte knapp 150 km auseinander
  • grundsätzlich gewöhnliche Vater-Tochter-Beziehung
Verkehrsunfall
in 2018
Haftung des Schädigers 100%
Landgericht Flensburg, SCHLÜNDER: 1304-2019
7.500 Kinder
eines 60-jährigen Verstorbenen
  • alle Kinder schon über 20 Jahre alt
  • waren nicht auf Fürsorge des Verstorbenen angewiesen
  • waren in einem Alter, in dem man sich von dem Elternhaus allmählich löst
Verkehrsunfall
Haftung des Schädigers 100%
Landgericht Tübingen, Urteil vom 17. Mai 2019, Az. 3 O 108/18
7.500 Kinder
eines 60-jährigen Verstorbenen
  • noch keine Schul- und Berufsabschlüsse
  • Alter der Kinder zwischen 14 und 19 Jahren
  • regelmäßiger Kontakt via Messenger
  • wechselseitige Besuche und Telefonate
  • lebten bei der Kindsmutter
Mord in 08/2018
Haftung der Schädigerin 100%
Landgericht München II, Urteil vom 18. Dezember 2020, Az. 1 Ks 31 Js 47130/18
8.000 erwachsene Tochter
einer Verstorbenen
  • enges emotionales Verhältnis trotz räumlicher Distanz
  • Töchter waren schon erwachsen
Mord in 08/2019
Haftung des Schädigers 100%
LG Münster Urteil vom 16.07.2020 – 2 Ks-30 Js 206/19-23/19
8.000 Schwiegermutter
einer Verstorbenen
  • besonders enges Verhältnis zwischen Schwiegermutter und Verstorbener (etwa Mutter-Tochter-Verhältnis)
  • verstorbene Schwiegertochter gehört nicht zum engsten Kreis der Angehörigen
Arbeitsunfall am 14.03.2018
Haftung des Schädigers 100%
OLG Koblenz Urteil vom 21.12.2020 – 12 U 711/20
10.000 Tochter eines Verstorbenen
  • Kontakt durch monatliche Telefonate und Textnachrichten bis Januar 2020 (5 Monate vor Tod)
  • enge Bindung
  • kein gemeinsamer Hausstand
  • Tochter bereits erwachsen
  • keine persönlichen Treffen in den letzten Jahren
  • Tochter hatte keine Kenntnis von neuer Beziehung des Verstorbenen
Mord in 06/2020, Haftung des Schädigers 100% LG Amberg, Urteil vom 19.08.2021 – 11 Ks 100 Js 6315/20
10.000 Tochter
eines Verstorbenen
  • Tochter war Ansprech- und Notfallkontaktperson des Verstorbenen
  • enge Bindung
  • nach dem Tod des Vaters: Schlafstörungen, Ängste beim Autofahren, Arbeitsplatzwechsel
  • Schockschaden
Verkehrsunfall in 12/2018
Haftung des Schädigers 100%
Oberlandgericht Schleswig, Urteil vom 23.02.2021, Az. 7 U 149/20
10.000 Ehemann
einer Verstorbenen
  • 40 Ehejahre
Unfalltod
Haftung des Schädigers 100%
Landgericht Wiesbaden, Beschluss vom 23.10.2018, Az. 3 O 219/18
10.000 Mutter
einer Getöteten
  • Aufgrund Angehörigenverhältnis nach gesetzlicher Vermutung gem. § 844 Abs. 3 BGB besonderes persönliches Näheverhältnis
  • Anerkenntnis des Angeklagten gem. § 406 Abs. 2 StPO
Mord am 27.10.2019 LG Mannheim, Urt. v. 15.07.20 – 1 Ks 400 Js 35919/19
10.000 Tochter (ca. 4 Jahre alt)
einer Getöteten
  • Aufgrund Angehörigenverhältnis nach gesetzlicher Vermutung gem. § 844 Abs. 3 BGB besonderes persönliches Näheverhältnis
  • Anerkenntnis des Angeklagten gem. § 406 Abs. 2 StPO
Mord am 27.10.2019 LG Mannheim, Urt. v. 15.07.20 – 1 Ks 400 Js 35919/19
10.000 Ehemann einer Getöteten ·         Näheverhältnis wird gem. § 844 Abs. 3 S. 2 BGB vermutet.

·         Verloren die gesamte Familienstruktur; er war der arbeitende Elternteil, die Getötete kümmerte sich um die Kinder. Nunmehr musste er seine Arbeitsstelle aufgeben um sich um die Kinder zu kümmern und die Familie ist auf staatliche Unterstützungsleistungen angewiesen.

·         Kommt mit der Situation nicht zurecht.

Mord am 14.09.2017

Haftung des Schädigers 100%

LG Rottweil, Urt. v. 26.06.2018 – 1 Ks 10 Js 10802/17
10.000 Minderjährige Kinder der Getöteten ·         Näheverhältnis wird gem. § 844 Abs. 3 S. 2 BGB vermutet.

·         Verloren die gesamte Familienstruktur.

·         S. P. verlor seine Mutter in sehr frühem Alter, in welchem eine Abhängigkeit zwischen Mutter und Kind besteht. Er war nicht in der Lage, die Tat zu begreifen und fragt bis heute nach seiner Mutter.

·         S. hat zumindest Teile der Tat mitangesehen.

Mord am 14.09.2017

Haftung des Schädigers 100%

LG Rottweil, Urt. v. 26.06.2018 – 1 Ks 10 Js 10802/17
10.000 Schwester der Getöteten ·         Verhältnis entspricht der Intensität nach dem Näheverhältnis zu den Eltern.

·         Persönliche Beziehungen waren in der Familie trotz nicht unerheblicher räumlicher Trennung eng.

·         Ständiger Kontakt und regelmäßige Besuche

·         Leidet erheblich unter dem Verlust und kann sich die Tat nicht erklären, da die Getötete dem Angeklagten unbekannt war.

Mord am 14.09.2017

Haftung des Schädigers 100%

LG Rottweil, Urt. v. 26.06.2018 – 1 Ks 10 Js 10802/17
10.000 Eltern der Getöteten ·         Näheverhältnis wird gem. § 844 Abs. 3 S. 2 BGB vermutet.

·         Leiden erheblich unter dem Verlust und können sich die Tat nicht erklären, da die Getötete dem Angeklagten unbekannt war.

Mord am 14.09.2017

Haftung des Schädigers 100%

LG Rottweil, Urt. v. 26.06.2018 – 1 Ks 10 Js 10802/17
10.000 Geschwister des 34-jährigen Getöteten ·         Gelebtes Näheverhältnis entspricht dem zur Mutter.

·         Persönliche Beziehungen innerhalb der Familie waren trotz der räumlichen nicht unerheblichen Trennung eng. So eng, dass diese die Lebensgefährtin des Getöteten sofort nach der Tat aufnahmen und sie von der Familie bis heute unterstützt wird.

Mord am 14.09.2017

Haftung des Schädigers 100%

LG Rottweil, Urt. v. 26.06.2018 – 1 Ks 10 Js 10802/17
10.000 Mutter des 34-jährigen Getöteten ·         Näheverhältnis wird gem. § 844 Abs. 3 S. 2 BGB vermutet. Mord am 14.09.2017

Haftung des Schädigers 100%

LG Rottweil, Urt. v. 26.06.2018 – 1 Ks 10 Js 10802/17
10.000 Lebensgefährtin eines 34-jährigen Getöteten ·         Näheverhältnis ergibt sich aus der tatsächlich gelebten sozialen Beziehung, die der Intensität entspricht, die in den nach § 844 Abs. 3 S. 2 BGB vermuteten Fällen typischerweise besteht.

·         Gemeinsamer Haushalt

·         Konnten sich aufgrund der bestehenden Ehe des Getöteten nicht verloben, wollten aber nach der Scheidung heiraten.

·         Antragstellerin war von ihrem getöteten Lebensgefährten schwanger.

·         Sie musste die Tat weitestgehend mit ansehen.

·         Leidet bis heute sehr unter dem Verlust.

·         Hat bislang noch keine Therapie durchgeführt, um für ihr ungeborenes Kind „stark“ zu sein und versucht die Tat zu verdrängen.

·         Verschulden des Angeklagten wiegt äußerst schwer; kein Mitverschulden des Getöteten.

Mord am 14.09.2017

Haftung des Schädigers 100%

LG Rottweil, Urt. v. 26.06.2018 – 1 Ks 10 Js 10802/17
20.000 Ehefrau eines 63-jährigen Getöteten
  • Getöteter war zentraler Lebensmittelpunkt
  • Tötung erfolgte absichtlich, daher höherer Verschuldensgrad
  • Trauer und seelisches Leid infolge des Verlustes nahestehender Personen aufgrund der vorsätzlichen Tötung intensiver
Mord am 21.11.2020 LG Nürnberg-Fürth, Urt. v. 09.12.2021 – 5 Ks 103 Js 2698/20
20.000 Vater eines 30-jährigen Getöteten
  • Vater gehörte zum allerengsten Angehörigenkreis.
  • Getöteter hatte mit seinen 30 Jahren noch das Leben vor sich;
  • sehr inniges Verhältnis und regelmäßiger persönlicher Kontakt.
  • vorsätzliche Körperverletzung
  • Sühnefunktion
Körperverletzung mit Todesfolge am 29.09.2017

Haftung des Schädigers 100%

LG Dessau-Roßlau, Urt. v. 22.10.2021 – 4 O 220/20
20.000 Mutter eines 6-jährigen Getöteten ·         Näheverhältnis zum Sohn wird gem. § 844 Abs. 3 S. 2 BGB vermutet

·         Verlust des eigenen Kindes ist für ein Elternteil der schlimmste Verlust

·         Leidet bis heute sehr unter dem Verlust insb. ihres Sohnes.

·         Hat bislang noch keine Therapie durchgeführt, um für ihr ungeborenes Kind „stark“ zu sein und versucht die Tat zu verdrängen.

·         Verschulden des Angeklagten wiegt äußerst schwer; kein Mitverschulden des Getöteten.

Mord am 14.09.2017

Haftung des Schädigers 100%

LG Rottweil, Urt. v. 26.06.2018 – 1 Ks 10 Js 10802/17
20.000 Minderjährige Kinder des 34-jährigen Getöteten ·         Näheverhältnis wird gem. § 844 Abs. 3 S. 2 BGB vermutet.

·         Waren auch nach der Trennung ihrer Eltern gern bei ihrem Vater.

·         Kamen mit der neuen Lebensgefährtin des Vaters sowie ihrem Sohn, der ebenfalls ermordet wurde, gut zurecht.

·         M. war noch zu jung um zu verstehen, warum sein Vater nicht mehr kommt.

·         V. wurde völlig aus der Bahn geworfen und weinte lange viel und es kam zu einem Leistungsabfall in der Schule; möglicherweise muss eine Klasse wiederholt werden.

·         D. hatte nach einem Streit nicht die Möglichkeit, sich mit seinem Vater auszusöhnen.

Mord am 14.09.2017

Haftung des Schädigers 100%

LG Rottweil, Urt. v. 26.06.2018 – 1 Ks 10 Js 10802/17
25.000 Mutter eines Getöteten (ca. im Säuglings-/Kleinkindalter) ·         Hinterbliebenengeld geht in dem Schmerzensgeld aufgrund eines Schockschadens auf. Körperverletzung mit Todesfolge am 08./09.08.2017 LG Osnabrück, Urt. v. 05.05.2023 – 1 O 1857/21

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Hinterbliebenengeld – Darstellung (Stand 07/2023)

Michael PeusMichael Peus

zur tabellarischen Übersicht Stand 07/23

 

Die Regelungen zum Hinterbliebenengeld wurden am 17.07.2017 in dem „Gesetz zur Einführung eines Anspruchs auf Hinterbliebenengeld‟ vom Bundestag beschlossen. So heißt es in § 844 Abs. 3 BGB:

(3) Der Ersatzpflichtige hat dem Hinterbliebenen, der zur Zeit der Verletzung zu dem Getöteten in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis stand, für das dem Hinterbliebenen zugefügte seelische Leid eine angemessene Entschädigung in Geld zu leisten. Ein besonderes persönliches Näheverhältnis wird vermutet, wenn der Hinterbliebene der Ehegatte, der Lebenspartner, ein Elternteil oder ein Kind des Getöteten war.

 

  1. normative Grundlagen

In verschiedenen Gesetzen wurde diese Regelung eingeführt:

  • § 844 III BGB (Bürgerliches Gesetzbuch),
  • § 86 III AMG (Arzneimittelgesetz),
  • § 32 IV GenTG (Gentechnikgesetz),
  • § 7 III ProdHaftG (Produkthaftungsgesetz),
  • § 12 III UmweltHG (Umwelthaftungsgesetz),
  • § 28 III AtG und § 15 III AtG (Atomgesetz),
  • § 10 III StVG (Straßenverkehrsgesetz),
  • § 5 III HaftPflG (Haftpflichtgesetz),
  • § 35 III LuftVG und
  • § 72 VI LuftVG (Luftverkehrsgesetz).

 

  1. zeitlicher Anwendungsbereich

Die Überleitungsvorschrift findet sich im Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch unter Art. 229 § 43 EGBGB. Diese Regelungen gelten für zum Tod führende Verletzungen, die nach dem 22.07.2017 eingetreten sind. Hinterbliebenengeld kommt somit in Betracht für Sachverhalte, in denen die zum Tod führende Verletzung ab dem 22.07.2017 eingetreten ist (zutreffend: OLG München; Anwendungsbereich verkannt: LG Limburg). Wie das OLG Düsseldorf verdeutlicht, hat die Einführung des Hinterbliebenengeldes auch keine mittelbare Auswirkung auf alte Sachverhalte vor Einführung des Hinterbliebenengeldes. Auch der BGH bestätigt, dass über den Sinn und Zweck des Hinterbliebenengeldes hinaus keine neuen gesetzgeberischen Intentionen unterstellt werden können; damit verbleibe es dabei, dass Geldentschädigungsansprüche wegen der Verletzung des Persönlichkeitsrechts im Grundsatz nicht vererblich seien (BGH im Teil-Urteil vom 29.11.2021, VI ZR 258/18).

 

  1. Ausschluss nach SGB VII !

Die Frage war umstritten. Nunmehr hat der BGH (Urt. v. 08.02.2022 – VI ZR 3/21) entschieden, dass eine Privilegierung des Schädigers nach §§ 104, 105 SGB VII auch zu einem Ausschluss des Anspruchs auf Hinterbliebenengeld führt. Damit gelangte der Bundesgerichtshof zum selben Ergebnis, wie wir bereits vertreten haben. Dem OLG Koblenz erteilt der BGH mithin eine klare Absage und teilt die Rechtsansicht des LG Koblenz und LG Mainz, weiter dazu hier.

 

  1. Bemessungskriterien

Hinterbliebenengeld (§ 844 Abs. 3 BGB oder § 10 Abs. 3 StVG) fügt sich der Höhe nach in den gesetzgeberisch vorgesehenen Rahmen bzw. die bisherigen Entscheidungen zum Schmerzensgeld ein. Entsprechend der Rechtsprechung zum Schmerzensgeld muss ein Anspruchsteller nur einen Mindestbetrag fordern, ohne dass das Gericht durch diesen an einer höheren Bewertung gehindert wäre (vgl. LG München II). Darin liegt kein Verstoß gegen § 308 Abs. 2 ZPO (ne ultra petita).

Eine wirtschaftliche Abhängigkeit zu dem verstorbenen Elternteil bleibt bei der Bemessung des Hinterbliebenengeldes unberücksichtigt. Zudem kann das Hinterbliebenengeld nicht mit Härteleistungen für Opfer terroristischer und extremistischer Taten verglichen werden, welchen bei Verlust eines Elternteils die Möglichkeit der Zahlung von Härteleistungen in Höhe von pauschal 30.000 € zusteht. Bei diesen Entschädigungen handelt es sich um eine freiwillige und besondere Solidaritätsleistung des Staates und entspricht daher schon nicht dem Regelungszweck des Hinterbliebenengeldes (vgl. OLG Köln, Urteil vom 05.05.2022 – 18 U 168/21).

Falls ein Geschädigter (auch) Schmerzensgeldansprüche besitzt, erhöht das Vorliegen beider Anspruchsgrundlagen nicht den Gesamtanspruch. Vielmehr geht sonst der eine Anspruch in dem anderen auf bzw. ist der Anspruch auf Hinterbliebenengeld in der Höhe subsidiär, vgl. LG BonnLG Regensburg, OLG Koblenz und OLG München.

Ein Mitverschulden des Verstorbenen ist anspruchsmindernd (bis anspruchsausschließend, LG Limburg; arg. ex. OLG Hamm, Beschluss vom 08.03.2022 – 9 U 157/21) zu berücksichtigen, vgl. OLG Koblenz; LG Münster, Urt. v. 27.09.2021, 11 O 304/20

 

  1. Angehörige: auch der Nasciturus!?

Was ist mit Hinterbliebenengeld für ein zum Verletzungszeitpunkt gezeugtes, aber noch nicht geborenes Kind? Nach dem Gesetzestext ist auf den Zeitpunkt der Verletzung abzustellen:

„Der Ersatzpflichtige hat dem Hinterbliebenen, der zur Zeit der Verletzung zu dem Getöteten in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis stand, für das dem Hinterbliebenen zugefügte seelische Leid eine angemessene Entschädigung in Geld zu leisten. Ein besonderes persönliches Näheverhältnis wird vermutet, wenn der Hinterbliebene der Ehegatte, der Lebenspartner, ein Elternteil oder ein Kind des Getöteten war.‟
vgl. z.B. § 844 Abs. 3 BGB

Nach § 1 BGB beginnt die Rechtsfähigkeit des Menschen mit der Geburt. Entsprechend den hiesigen Erwägungen in der Übersicht 07/2021 hat das OLG München entschieden, dass dem Nasciturus kein Hinterbliebenengeld zusteht.

 

  1. Schmerzensgeldansprüche neben Hinterbliebenengeld

Stehen einem Geschädigten neben einem Anspruch auf Hinterbliebenengeld auch Schmerzensgeldansprüche für Schockschäden zu, erhöht dies nicht den Gesamtanspruch. Zweck des Hinterbliebenengeldes ist es, das seelische Leid des Angehörigen auszugleichen und diesen in die Lage zu versetzen, seine Trauer und sein seelisches Leid zu lindern. Dieser Zweck ist bereits durch den Schmerzensgeldanspruch mitumfasst (vgl. LG Hannover, Urt. v. 10.01.2022 – 1 O 68/19).

 

  1. Exkurs: Strafrecht

Falls ein Angehöriger einen Anspruch auf Hinterbliebenengeld hat, ist er in einem Strafverfahren gegen den Schädiger Verletzter im Sinne des § 403 StPO (Geltendmachung eines Anspruchs im Adhäsionsverfahren), vgl. BGH im Beschluss vom 05.09.2019 – 4 StR 178/19. Er ist jedoch kein Verletzter im Sinne des § 46a StGB (Täter-Opfer-Ausgleich, Schadenswiedergutmachung), vgl. BGH im Beschluss vom 06.06.2018 – 4 StR 144/18.

 

  1. Höhe
    Die Bemessung des Hinterbliebenengeldes erfolgt im Ermessen des nach § 287 ZPO besonders frei gestellten Tatrichters. Der Tatrichter hat dabei unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls und des Ausgleichs- und Genugtuungsgedankens des Hinterbliebenengeldes die seelische Beeinträchtigung des Hinterbliebenen zu bewerten (vgl. BGH, Urt. v. 06.12.2022 – VI ZR 73/21).

Maßgeblich für die Höhe sind insb. die Intensität und Dauer des erlittenen seelischen Leids und der Grad des Verschuldens des Schädigers. Aus dem Näheverhältnis, der Bedeutung des Verstorbenen für den Hinterbliebenen und der Qualität der gelebten Beziehung können sich Indizien für das Maß des seelischen Leids ergeben (vgl. BGH, Urt. v. 06.12.2022 – VI ZR 73/21).

Der im Gesetzesentwurf zum Hinterbliebenengeldanspruch (BT-Drs. 18/11397) genannte Betrag i.H.v. 10.000€ stellt dabei eine Orientierungshilfe, aber keine Obergrenze dar. Die Höhe des Schmerzensgeldes muss sich auch nicht in die europäische Rechtsprechung einfügen, sondern hat sich nur an den deutschen Lebensverhältnissen und der deutschen Rechtsordnung zu orientieren (vgl. BGH, Urt. v. 06.12.2022 – VI ZR 73/21).

 

zur tabellarischen Übersicht Stand 07/23

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Teilungsabkommen: Auslegungsgrundsätze zur Frage der Kausalität

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

OLG Bamberg, Urteil vom 21.3.2023, Az.: 5 U 54/22

 

Sachverhalt

Die Klägerin, eine gesetzliche Krankenkasse, verlangt – gestützt auf ein zwischen ihr und der Beklagten abgeschlossene Rahmen-Teilungsabkommen (TA) von der Beklagten zu 1), einem Kfz-Haftpflichtversicherer, 55 % der Aufwendungen, die ihr aus Anlass eines Unfalls der bei ihr Versicherten entstanden sind sowie Feststellung der Ersatzpflicht für weitere Aufwendungen in Höhe von 55 %. Zu dem Verkehrsunfall kam es, weil der Fahrer des bei der Beklagten haftpflichtversicherten Fahrzeugs auf das verkehrsbedingt anhaltende Fahrzeug, das von der Versicherten geführt wurde, auffuhr. Die maßgeblichen Regelungen des Teilungsabkommens lauten:

§ 1a
(1) Erhebt eine diesem Abkommen beigetretene Betriebskrankenkasse („K“) Schadensersatzansprüche nach § 116 SGB X gegen Kraftfahrzeughalter und -führer, die aus dem Schadenfall bei der „H“ Versicherungsschutz genießen, so erstattet die „H“ der „K“ ohne Prüfung der Haftungsfrage namens der haftpflichtversicherten Personen im Rahmen des bestehenden Haftpflichtversicherungsvertrages und nach Maßgabe der nachstehenden Bestimmungen 55 % ihrer anlässlich des Schadensfalls aufgrund Gesetzes erwachsenen Aufwendungen.
(2) Eigenes Verschulden des Geschädigten oder das Vorliegen eines unabwendbaren Ereignisses (§ 7 Abs. 2 StVG) schließt die Erstattungspflicht der „H“ nicht aus.
(3) Voraussetzung für die abkommensgemäße Beteiligung ist jedoch das Bestehen eines adäquaten Kausalzusammenhangs zwischen dem Gebrauch des Kraftfahrzeuges und dem Eintritt des Schadenfalles.

§ 2
Die Aufwendungen der „K‟ unterliegen der Erstattung nach §§ 1a und 1b nur insoweit und solange, als sie sich mit dem sachlich und zeitlich kongruenten Schaden des Verletzten decken (Übergang nach § 116 SGB X).

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass nach dem Teilungsabkommen die Klägerin den erforderlichen Kausalzusammenhang zwischen der diagnostizierten Verletzung und dem Unfall zu beweisen habe (haftungsausfüllende Kausalität).

 

Entscheidung

Die Berufung der Klägerin hatte nach Ansicht des OLG Erfolg: Entgegen der Ansicht des Landgerichts ist das TA nicht dahingehend auszulegen, dass der Eintritt des adäquat kausalen Schadensfalls den Nachweis einer unfallbedingten Verletzung der Versicherten erfordert. Das TA ist dahingehend auszulegen, dass ein Verzicht auf die Prüfung der Haftungsfrage vereinbart wurde, von dem auch der Nachweis des Ursachenzusammenhangs zwischen Unfallereignis und Verletzung umfasst ist.

Im Streitfall ist nach § 1a Abs. 3 TA Voraussetzung für die Anwendung des Teilungsabkommens der adäquate Kausalzusammenhang zwischen „dem Schadenfall und dem Gebrauch eines Kraftfahrzeugs‟.. Der in § 1a Abs. 3 TA genannte Zusammenhang ist gegeben. Das bei der Beklagten zu 1) versicherte Fahrzeug fuhr auf das verkehrsbedingt stehen gebliebene Fahrzeug der Versicherten auf. Ein solcher Verkehrsvorgang liegt auch nicht außerhalb der allgemeinen Verkehrserfahrung, sondern ist typisch. Die Parteien haben mit dieser Regelung und der Begrenzung auf adäquat kausale Schadenfälle offensichtlich die „Groteskfälle“ von der Erstattungspflicht ausgenommen. Dabei handelt es sich um Fälle, die schon aufgrund des unstreitigen Sachverhalts unzweifelhaft und offensichtlich eine Schadensersatzpflicht des Versicherungsnehmers nicht hervorrufen können und daher gemäß § 242 BGB von der Erstattungspflicht ausgenommen sind (BGH NJW 1956, 1237).

Zu Regelungen im Sinne des § 1a Abs. 2 TA – unabwendbares Ereignis – hat der BGH mit Urteil vom 23.09.1963, Az.: II ZR 118/60 bereits entschieden, dass durch den im Teilungsabkommen vereinbarten Verzicht auf die Prüfung der Haftungsfrage nach dem Willen der Vertragsschließenden auch ein auf § 7 Abs. 2 StVG wegen eines unabwendbaren Ereignisses gestützter Einwand des Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherers ausgeschlossen sein soll

Die Regelung in § 2 TA beinhaltet ebenfalls keine Einschränkung des Verzichts auf die Prüfung der Haftungsfrage bzw. einer Kausalität im obigen Sinne. Denn danach unterliegen die Aufwendungen der Klägerin der Erstattung nach §§ 1a und 1b nur insoweit und so lange, als sie sich mit dem sachlich und zeitlich kongruenten Schaden des Verletzten decken (Übergang nach §§ 116 SGB X). Dies ist so zu verstehen, dass damit der Einwand der mangelnden zivilrechtlichen Übergangsfähigkeit behandelt wird. Dies betrifft weder die Haftungsfrage noch die Deckungsfrage, sondern die Frage, ob der Sozialversicherungsträger gemäß § 116 SGB X zur Geltendmachung des Anspruchs des Geschädigten berechtigt ist.

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Arbeitsunfall als Voraussetzung der §§ 104 ff. SGB VII: Kaffeeholen im Betrieb

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 7.2.2023, Az.: L 3 U 202/21

 

Leitsätze

1. Das Zurücklegen des Weges zum Holen eines Kaffees im Betriebsgebäude des Arbeitgebers steht im inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit.

2. Ein grundsätzlich versicherter Weg in der Sphäre des Arbeitgebers wird nicht durch die Tür des Raumes begrenzt, in dem der Getränkeautomat steht.

 

Sachverhalt

Die Klägerin ist als Verwaltungsangestellte beschäftigt und im Finanzamt D. tätig. Auf dem Weg zum Kaffeeholen im Sozialraum des Finanzamtes während ihrer Arbeit rutschte sie wegen nasser Bodenoberfläche aus und zog sich unter anderem einen Bruch des dritten Lendenwirbelkörpers zu. Sie klagt auf Anerkennung des Unfalls als Arbeitsunfalls, was ihr Arbeitgeber ihr verweigert hat.

 

Entscheidung

Das LSG führt aus: Zu unterscheiden ist zwischen Unfällen auf dem Wege zur Nahrungseinnahme und Unfällen, die sich bei der Nahrungsaufnahme selbst ereignen. Die Nahrungsaufnahme selbst ist grundsätzlich nicht in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert (stRsp, vgl. BSG, Urteil vom 31. März 2022 – B 2 U 5/20 R). Die Nahrungsaufnahme ist vielmehr dem privaten, unversicherten Lebensbereich zuzurechnen. Anders verhält es sich mit dem Weg, der im Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme bzw. mit dem Besorgen der Nahrung zurückgelegt werden muss. Das Zurücklegen eines Weges durch einen Beschäftigten mit der Handlungstendenz, sich an einem vom Ort der Tätigkeit verschiedenen Ort Nahrungsmittel zu besorgen oder einzunehmen, ist grundsätzlich versichert (vgl. BSG, Urteil vom 5. Juli 2016 – B 2 U 5/15 R) und zwar unabhängig davon, ob der Weg auf dem Betriebsgelände zurückgelegt wird oder den Versicherten von diesem herunter durch den öffentlichen Verkehrsraum (etwa zu einer Gaststätte, der eigenen Wohnung oder zu einem Kiosk/Lebensmittelgeschäft) führt. Zum einen dient die beabsichtigte Nahrungsaufnahme während der Arbeitszeit im Gegensatz zur bloßen Vorbereitungshandlung vor der Arbeit der Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit und damit der Fortsetzung der betrieblichen Tätigkeit. Zum anderen handelt es sich um einen Weg, der in seinem Ausgangs- und Zielpunkt durch die Notwendigkeit geprägt ist, persönlich im Beschäftigungsbetrieb anwesend zu sein und dort betriebliche Tätigkeiten zu verrichten.

Insbesondere die Rechtsprechung des BSG zur Außentür eines Gebäudes als Grenze des Versicherungsschutzes für versicherte Wege könne in Fallkonstellationen, in denen ein Versicherter innerhalb des Betriebsgebäudes einen Weg zu einem Lebensmittel- / Getränke- oder Kaffeemünzautomaten bzw. zu einem vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Wasserspender zurücklegt nicht übertragen werden. Zwar endet der Versicherungsschutz auf dem Hinweg und auf dem Rückweg jeweils an der Außentür des Gebäudes der Kantine bzw. der Gaststätte oder des Lebensmittelgeschäfts oder des Einkaufszentrums endet bzw. wiederbeginnt er dort. Der Versicherungsschutz erstreckt sich somit nicht auf Unfälle auf Wegen in dem Gebäude, in dem zum Beispiel die Wohnung, die Gaststätte, das Einzelhandelsgeschäft oder das Einkaufszentrum liegt (vgl etwa BSG, Urteil vom 24. Juni 2003 – B 2 U 24/02 R). Hier hatte die Geschädigte das Gebäude des Arbeitgebers jedoch nicht verlassen. Das BSG hat ausdrücklich entschieden, dass die für Betriebswege aufgezeigte Grenzziehung durch die Außentür des Wohngebäudes nicht greift, wenn sich etwa sowohl die Wohnung des Versicherten als auch seine Arbeitsstätte im selben Haus befinden und wenn der Betriebsweg in Ausführung der versicherten Tätigkeit zurückgelegt wird (BSG, 31.8.2017, Az.: B 2 U 9/16 R). Außerdem hat das BSG zahlreiche Ausnahmen vom obigen Grundsatz erwogen, erwogen etwa im Fall eines sogenannten „Frühstücksholers“, der im Auftrag des Unternehmers das Frühstück einkauft und sich aufgrund dieses Auftrags auf einem Betriebsweg befindet). Ebenso, wenn die Nahrungsaufnahme selbst ausnahmsweise versichert ist, wenn besondere (betriebliche) Umstände den Versicherten veranlassen, dort seine Mahlzeit einzunehmen (BSG, Urteil vom 24. Juni 2003 – B 2 U 24/02 R).

Gleichsam wie in diesen Fällen war im vorliegenden Fall die entscheidende objektive Handlungstendenz zum Holen eines Kaffees durch die Notwendigkeit geprägt, persönlich im Beschäftigungsbetrieb anwesend zu sein und dort betriebliche Tätigkeiten zu verrichten.

 

Anmerkung: Liegt ein Arbeitsunfall demnach vor, kann sich der Arbeitgeber bzw. dessen Haftpflichtversicherer bei einem Regress des SVT auf die Haftungsprivilegien der §§ 104 ff. SGB VII berufen. Somit sind die im Urteil übersichtlich zusammengefassten Grundsätze zur Annahme eines Arbeitsunfalles auch für Haftungsfälle allgemein relevant.

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Hinterbliebenengeld & Schockschaden: Rechtsprechungsänderung, Bemessung, Parallelität

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

BGH, Urteile vom 6.12.2022, Az.: VI ZR 23/71 & VI ZR 168/21 (i.V.m. Urteil vom 8.2.2022 Az.: VI ZR 3/21)

 

Leitsätze

1. Bei sogenannten „Schockschäden‟ stellt – wie im Falle einer unmittelbaren Beeinträchtigung – eine psychische Störung von Krankheitswert eine Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB dar, auch wenn sie beim Geschädigten mittelbar durch die Verletzung eines Rechtsgutes bei einem Dritten verursacht wurde. Ist die psychische Beeinträchtigung pathologisch fassbar, hat sie also Krankheitswert, ist für die Bejahung einer Gesundheitsverletzung nicht erforderlich, dass die Störung über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgeht, denen Betroffene bei der Verletzung eines Rechtsgutes eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt sind (BGH, 6.12.2022, Az.: VI ZR 168/21).

2. Der in dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD genannte Betrag in Höhe von 10.000 € (BT-Drucks. 18/11397, S. 11) bietet eine Orientierungshilfe für die Bemessung der Hinterbliebenenentschädigung, von der im Einzelfall sowohl nach unten als auch nach oben abgewichen werden kann. Er stellt keine Obergrenze dar. Die Einführung eines Anspruchs auf Hinterbliebenengeld diente dem Zweck, den Hinterbliebenen für immaterielle Beeinträchtigungen unterhalb der Schwelle einer Gesundheitsverletzung einen Anspruch auf angemessene Entschädigung in Geld einzuräumen. Der dem Hinterbliebenen im Einzelfall zuerkannte Betrag muss deshalb im Regelfall hinter demjenigen zurückbleiben, der ihm zustände, wenn das von ihm erlittene seelische Leid die Qualität einer Gesundheitsverletzung hätte (BGH, 6.12.2022, Az.: VI ZR 73/21).

 

Entscheidung

Mit seinen Urteilen vom 6.12.2022 mit Az.: VI ZR 23/71 & VI ZR 168/21 nimmt der BGH relevante Klarstellungen zur Bemessung und Unterscheidung zwischen Schockschadenschmerzensgeld und Hinterbliebenengeld vor. Er ändert seine bisherige Rechtsprechung zu den Anforderungen an einen Schockschaden:

Mit Urteil vom 8.2.2022 (Az.: VI ZR 3/21) hatte der BGH bereits verdeutlicht, dass Ersatzansprüche wegen eines Schockschadens und ein Anspruch auf Hinterbliebenengeld nebeneinander bestehen können. Wenn sowohl die Voraussetzungen auf Ersatz eines Schockschadens als auch die Voraussetzungen nach § 844 Abs. 3 BGB vorliegen, geht der Anspruch auf Ersatz des Schockschadens dem Anspruch auf Hinterbliebenengeld allerdings vor bzw. letztgenannter in erstgenanntem auf (vgl. auch BT-Drs. 18/11397, S. 12). Beiden Instituten kann somit eine eigenständige Bedeutung zukommen, soweit die Voraussetzungen nur einer der beiden Anspruchsgrundlagen erfüllt sind. Die Möglichkeit divergierender Ergebnisse wird grundsätzlich akzeptiert, dürfte sich jedoch in Ansehung der im folgenden dargestellten Rechtsprechungsänderung praktisch kaum noch denken lassen:Eine psychische Beeinträchtigung konnte bisher nur dann als Schockschaden und somit als eine erforderliche und im Gegensatz dazu bei § 844 Abs. 3 BGB nicht notwendige Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB angesehen werden, wenn sie pathologisch fassbar war und über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausging, denen Betroffene beim Tod oder einer schweren Verletzung eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt werden. Übliche seelische Erschütterungen wie Trauer oder seelischer Schmerz, denen Betroffene beim Tod oder einer schweren Verletzung eines Angehörigen erfahrungsgemäß ausgesetzt sind, stellten daher selbst dann nicht ohne weiteres eine Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB dar, wenn sie von Störungen der physiologischen Abläufe begleitet wurden und für die körperliche Befindlichkeit medizinisch relevant waren (BGH, 21.5.2019 Az.: ZR 299/17). In diesen Fällen war nur der Weg zum Hinterbliebenengeldanspruch möglich.

Mit Urteil vom 6.12.2022 unter dem Az.: VI ZR 168/21 gibt der BGH diese Rechtsprechung bzw. Unterscheidung auf: Nunmehr ist eine psychische Störung schon dann eine Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB und damit Schockschaden, wenn sie bloß pathologisch fassbar ist und Krankheitswert hat. Nicht mehr erforderlich ist, dass die Störung zudem über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgehen muss, denen Betroffene bei der Verletzung eines Rechtsgutes eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt sind. Somit kann nun auch die übliche Trauerreaktion schmerzensgeldbegründend sein, wenn sie quasi eine Krankschreibung rechtfertigt. Ein nach diesen Prämissen bejahter Schockschaden umfasst dann in der Regel – bei persönlichem Näheverhältnis – immer auch einen Anspruch auf Hinterbliebenengeld. Eine vom BGH erkannten Ausuferung der Haftung, welche durch die ursprüngliche Unterscheidung vermieden werden sollte, könne stattdessen über die Merkmale der Kausalität und insbesondere des Zurechnungszusammenhanges begegnet werden.

Anmerkung: Ob dies tatsächlich zu der vom BGH postulierten dogmatischen Klarheit und Vermeidung von Wertungswidersprüchen führt, darf bezweifelt werden. Die Rechtsprechungsänderung ist doch wohl eher geschädigten- als praxis- und regulierungsfreundlich. Denn nun wird man regelmäßig etwa die Diskussion führen müssen, ob unter dem Gesichtspunkt des Zurechnungszusammenhanges eine diesen ausschließende Überreaktion oder ein krasses Missverhältnis gegeben ist. Hinterbliebenengeld und Schockschaden werden praktisch gleichgeschaltet, auch wenn der BGH in allen Urteilen herausstellt, dass es grundsätzlich verschiedene Rechtsinstitute seien.

Unter dem Az.: VI ZR 73/21 macht der BGH parallel Ausführung zur Höhe des Hinterbliebenengeldes. Zwar seien beide Ansprüche weiterhin zu unterscheiden, jedoch akzeptiert er die im Gesetzentwurf zum Schockschaden genannte Betrag in Höhe von 10.000 € (BT-Drucks. 18/11397, S. 11) auch als Orientierungshilfe für die Bemessung der Hinterbliebenenentschädigung, von der im Einzelfall sowohl nach unten als auch nach oben abgewichen werden könne. 10.000 € sind somit zukünftig der höchstrichterlich anerkannte Richtwert, der weder Unter- noch Obergrenze sein muss – je nach den Umständen des Einzelfalles. Ist nur ein Anspruch auf Hinterbliebenengeld, jedoch nicht gleichzeitig wegen eines Schockschadens gegeben, etwa dann, wenn nicht mehr als eine übliche Trauerreaktion vorliegt, die noch keinen eigenständigen Krankheitswert hat, müsse der dem Hinterbliebenen im Einzelfall zuerkannte Betrag im Regelfall hinter demjenigen zurückbleiben, der ihm zustände, wenn das von ihm erlittene seelische Leid die Qualität einer Gesundheitsverletzung hätte. Die Einführung eines Anspruchs auf Hinterbliebenengeld diene schließlich dem Zweck, den Hinterbliebenen für immaterielle Beeinträchtigungen unterhalb der Schwelle einer Gesundheitsverletzung einen Anspruch auf angemessene Entschädigung in Geld einzuräumen.

Anmerkung: Da nunmehr jedoch die übliche Trauer für einen Schockschaden genügt, sofern ihr Krankheitswert zugesprochen wird, was von Seiten der Ärzte regelmäßig der fall sein dürfte, wird das vom BGH anerkannte „Weniger“ an Entschädigung beim Hinterbliebenengeld praktisch kaum eine Rolle spielen – in der Regel dürfte bereits ein Schockschaden vorliegen, nach dessen Höhe sich der (Gesamt-)Anspruch richtet – s. oben.

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