Hinterbliebenengeld XX: Kein Hinterbliebenengeld bei selbstverschuldetem Verkehrsunfall

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LG Münster, Urt. v. 27.09.2021 – 11 O 304/20

 

Leitsätze (redaktionell)

  1. Es besteht kein Anspruch auf Hinterbliebenengeld, wenn der Geschädigte alleine für den Unfall haftet.
  2. Ausnahmsweise kann die einfache Betriebsgefahr eines Kfz im Rahmen der Abwägung der Verursachungsbeiträge hinter der groben Verkehrswidrigkeit des Geschädigten zurücktreten.

 

Sachverhalt

Die Klägerinnen (Tochter und Ehefrau des später Verstorbenen) verlangen von den Beklagten (Fahrer des Kfz und dessen Haftpflichtversicherung) u.a. Hinterbliebenengeld infolge eines Verkehrsunfalls im März 2019. Der Verstorbene fuhr mit seinem Pedelec auf einem Fahrrad-/Fußgängerweg, der von Fahrradfahrern in Richtung gegen den Uhrzeigersinn zu befahren ist. Neben diesem Radweg befindet sich ein Kreisverkehr. Der Radweg führt über die in den Kreisverkehr mündenden Straßen, wobei der Kraftfahrzeugverkehr Vorfahrt hat. Der Verstorbene fuhr entgegen der Fahrtrichtung auf dem Fahrradweg und begann die in den Kreisverkehr mündende P-Straße überqueren, ohne auf den Verkehr auf der P-Straße zu achten. Dabei wurde er von dem Auto des Beklagten zu 1) erfasst. Dieser fuhr mit einer Geschwindigkeit von 10-15km/h.

Die Klägerinnen meinen, der Aufenthalt im Seniorenheim und der spätere Tod seien auf die Unfallfolgen zurückzuführen. Dem Beklagten zu 1) habe die erhöhte Sorgfaltspflicht oblegen, auf querende Radfahrer zu achten. Zumindest haften die Beklagten aufgrund der einfachen Betriebsgefahr zu 25%.

 

Entscheidung

Den Klägerinnen steht kein Anspruch gem. § 7 Abs. 1, 11 StVG, 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 S. 4 VVG, § 823 Abs. 1, 253 Abs. 2, 1922 BGB zu. Denn die Beklagten haften nach Abwägung der  Verursachungsbeiträge nicht. Die Betriebsgefahr nach § 9 StVG i.V.m. § 254 BGB tritt hinter dem erheblichen Eigenverschulden des Verstorbenen zurück.

 

  1. Trifft den Geschädigten – wie hier – ein Mitverschulden, erfolgt die Abwägung gem. § 9 StVG nach § 254 BGB. Dabei werden die zu § 17 Abs. 1 StVG entwickelten Rechtsgrundsätze herangezogen. Zu berücksichtigen sind die zugestandenen oder gem. § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalles, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben. Zu berücksichtigen sind dabei insb. das Maß der Verursachung und die Summe der Gefahren, die in der konkreten Unfallsituation von den Beteiligten ausgegangen sind und sich auf den späteren Schaden ausgewirkt haben (z.B. Beschaffenheit der Fahrzeuge, gefahrene Geschwindigkeit, Fahrmanöver, konkretes Fahrverhalten insb. Fahrfehler und Verkehrsverstöße).
  2. Vorliegend verstieß der Geschädigte gegen § 8 Abs. 2 StVO, wonach der, der die Vorfahrt zu beachten hat, rechtzeitig durch sein Fahrverhalten erkennen lassen muss, dass gewartet wird. Weiterhin hat der Geschädigte gegen § 2 Abs. 4 S. 2 StVO verstoßen, da er ohne eine Freigabe entgegen der Fahrtrichtung fuhr.

Dem Beklagten zu 1) ist hingegen kein Verkehrsverstoß vorzuwerfen. Insb. Verstöße gegen §§ 1 Abs. 2, 11 Abs. 3 StVO und § 3 Abs. 2a StVO scheiden mangels Anhaltspunkten aus.

  1. Ein vollständiger Haftungsausschluss kommt im Rahmen der nach den konkreten Umständen im Einzelfall vorzunehmenden Abwägung nur in Betracht, wenn der Geschädigte sich grob verkehrswidrig verhalten hat. Grob verkehrswidrig handelt, wer objektiv schwer und subjektiv nicht entschuldbar gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verstößt und erheblich das Maß des § 276 Abs. 2 BGB überschreitet.

Vorliegend hat der Geschädigte die im Straßenverkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich hohem Maße verletzt und das unbeachtet gelassen, was jedem verständigen Verkehrsteilnehmer hätte einleuchten müssen. Er ist ohne zu gucken, ohne auf den Straßenverkehr zu achten und ohne Kenntlichmachung der Absicht, die Straße zu queren auf die P-Straße gefahren. Diese Sorgfaltspflichtverletzung ist auch subjektiv nicht entschuldbar, sie musste sich dem Geschädigten nahezu aufdrängen. Dieser Verkehrsverstoß wiegt auch besonders schwer, da der Geschädigte entgegen der vorgeschriebenen Fahrtrichtung fuhr und sich dazu nicht verkehrsgerecht verhielt. Für ihn war erkennbar, dass sich die Wege mit dem Kfz des Beklagten zu 1) kreuzen würden, denn es gab nur einen Weg, den der Beklagte zu 1) hätte nutzen können.

Der Beklagte zu 1) hingegen konnte nicht erkennen, dass der Geschädigte ihm die Vorfahrt nehmen und nicht mehr rechtzeitig anhalten konnte, bis dieser bereits die Gabelung erreichte. Er durfte – auch wenn er den Geschädigten noch rechtzeitig hätte sehen können – auf sein Vorfahrtsrecht vertrauen und brauchte nicht mit Radfahrern aus der falschen Fahrtrichtung zu rechnen. Auch wenn der Beklagte zu 1) noch rechtzeitig hätte bremsen können – was vorliegend nicht ausgeschlossen werden konnte – ändert sich nichts an dem Abwägungsergebnis. Ob ein Unfall noch abzuwenden gewesen wäre, ist ein erheblicher Abwägungsfaktor, dadurch muss aber nicht zwingend die Betriebsgefahr vollständig hinter dem Verschulden des Geschädigten zurücktreten. Ebenso fuhr der Beklagte deutlich unter der zulässigen Höchstgeschwindigkeit.

Der Antrag auf Hinterbliebenengeld ist daher mangels Haftung des Schädigers unbegründet.

 

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