Hinterbliebenengeld (XIX): Kein über das Hinterbliebenengeld hinausgehendes Schmerzensgeld bei „normalpsychologischer Trauer“

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OLG Celle, Urt. v. 24.08.2022 – 14 U 22/22

 

Leitsätze (amtlich)

  1. Ohne eine pathologisch fassbare Auswirkung sind auch Depressionen, Schlafstörungen, Alpträume, Seelenschmerzen, Weinkrämpfe, Gefühle des „Aus-der-Bahn-geworfen-seins“ und vorübergehende Kreislaufstörungen bis hin zu Kollaps-Belastungen, in denen sich nach der Wertung des Gesetzes lediglich das „normale“ Lebensrisiko der Teilnahme an den Ereignissen der Umwelt verwirklicht, nicht ausreichend für die Annahme eines sogenannten „Schockschadens“.
    Alleine die von ärztlicher Seite für notwendig erachtete Behandlung, weil der Tod des Sohnes nicht verarbeitet werden kann, belegt noch keine nach der allgemeinen Verkehrsauffassung bestehende Gesundheitsverletzung.
  2. Von wesentlicher Bedeutung bei der Bemessung des Hinterbliebenengeldes sind dabei die gesundheitlichen und seelischen Beeinträchtigungen des Klägers. Zu berücksichtigen sind auch die familiären Belastungen, insbesondere im Verhältnis zu seiner Ehefrau sowie die grobe Fahrlässigkeit des Unfallverursachers.
    Es erscheint dabei angemessen, auch das Hinterbliebenengeld im Bereich des Durchschnitts von 10.000,00€ anzusetzen und diesen Durchschnittsbetrag wegen des besonders schmerzlichen Verlustes eines minderjährigen Kindes mit messbaren Krankheitsfolgen (Anpassungsstörung und leichte Depression) auf 15.000,00€ zu erhöhen.

 

Sachverhalt

Der Kläger macht gegenüber der Beklagten u.a. Schmerzens- und Hinterbliebenengeldansprüche infolge eines Verkehrsunfalls geltend.

Der 12-jährige Sohn des Klägers verunglückte 2018 tödlich, als ihn eine bei der Beklagten versicherte Sattelzugmaschine erfasste. Die Ehefrau des Beklagten erlebte den Unfall mit, während der Kläger kurze Zeit später an der Unfallstelle eintraf und dort den Körper seines verstorbenen Sohnes sah. Der Kläger begab sich daraufhin gemeinsam mit seiner Frau in psychologische Behandlung. Die Beklagte zahlte bereits Vorschüsse i.H.v. 15.000€.

Das Landgericht wies die Klage mit der Begründung ab, der Kläger habe keinen Anspruch aufgrund eines Schockschadens. Bei dem Kläger sei eine leichte depressive Episode sowie ein normalpsychologischer Trauerzustand festgestellt worden. Dies sei für ein weiteres Schmerzensgeld nicht ausreichend, da diese Leiden nicht über das Leiden anderer Betroffener hinausgehe. Der Kläger habe einen Anspruch auf Hinterbliebenengeld in Höhe der bereits von der Beklagten gezahlten 15.000€.

Hiergegen wendet sich der Kläger mit der Berufung und verfolgt u.a. sein Zahlungsbegehren i.H.v. min. 5000€ weiter.

 

Entscheidung

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Schmerzensgeld gem. §§ 7, 11 StVG, §§ 823 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB, § 6 AuslPflVG, § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG, da keine eigene Körper- oder Gesundheitsverletzung in Form eines „Schock- oder Fernwirkungsschadens“ festgestellt werden konnte.

Nach der Rechtsprechung des BGH können auf einem Unfall beruhende traumatische psychische Störungen mit Krankheitswert als Gesundheitsverletzung i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB zu werten sein, sofern eine hinreichende Gewissheit besteht, dass diese psychische Gesundheitsschädigung ohne die Verletzungshandlung nicht eingetreten wäre.

Dieser Grundsatz wird jedoch bei sog. Schockschäden beschränkt. Seelische Leiden wie Trauer und seelischer Schmerz, den Angehörige beim Tod oder der schweren Verletzung eines nahestehenden Menschen verspüren, stellen auch keine Gesundheitsverletzung dar, wenn sie mit physiologischen, für die körperliche Befindlichkeit medizinisch relevanten Symptomen einhergehen. Psychische Leiden stellen nur eine Gesundheitsverletzung i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB dar, wenn sie pathologisch fassbar sind und erheblich über das hinausgehen, was andere Betroffene in derselben Situation verspüren. Diese psychopathologischen Ausfälle müssen gewichtig und von einiger Dauer sein und nach der allgemeinen Verkehrsauffassung als Verletzung des Körpers oder der Gesundheit betrachtet werden (z.B. mittelschweres depressives Syndrom, behandlungsbedürftige Angstzustände, akute Belastungsreaktion mit schwerwiegenden Folgen z.B. Aufgabe der Wohnung und des Berufes sowie des Autofahrens, Schweißausbrüche und Zittern im Straßenverkehr). Daher können auch medizinisch erfassbare psychische Leiden für sich genommen keinen Schmerzensgeldanspruch begründen.

Diese psychischen Folgen (leichte depressive Episode, normalpsychologische Trauer und seelische Folgeerscheinungen) reichen jedoch nicht für den erforderlichen Schockschaden aus, da sie nicht über das hinausgehen, was Eltern bei dem Tod ihres minderjährigen Kindes erleiden müssen. Die Symptome des Klägers (depressiv, unkonzentriert, unruhig, massive Schlafstörungen, Weinkrämpfe) sind nicht von einiger Dauer und einigem Gewicht. Für die Annahme eines Schockschadens müssen konkrete Krankheitssymptome festzustellen sein, die den Rückschluss auf pathologisch fassbare Auswirkungen ermöglichen. Auch Depressionen, Schlafstörungen, Alpträume, Seelenschmerzen, Weinkrämpfe, Gefühle des „Aus-der-Bahn-geworden-seins“, vorrübergehende Kreislaufstörungen bis Kollaps-Belastungen, in denen sich nach der Gesetzeswertung das „normale“ Lebensrisiko verwirklicht, sind ohne pathologisch fassbare Auswirkung nicht ausreichend. Das seelische Leid ist durch das Hinterbliebenengeld zu entschädigen und kann nicht mit einer eigenen Gesundheitsverletzung gleichgesetzt werden.

 

Dem Kläger stand ein Anspruch auf Hinterbliebenengeld gem. § 844 Abs. 3 BGB zu, der die gezahlten 15.000€ jedoch nicht übersteigt, und durch die vorgerichtliche Zahlung daher gemäß § 362 BGB durch Erfüllung erloschen ist. Selbst wenn ein Schockschaden vorliegen würde, ergebe sich hieraus kein höheres Schmerzensgeld.

Das Hinterbliebenengeld kann und soll nach dem gesetzgeberischen Willen keinen Ausgleich für den Verlust des Lebens bieten. Die Entschädigung soll den Hinterbliebenen in die Lage versetzen, die durch den Verlust eines besonders nahestehenden Menschen verursachte Trauer und sein seelisches Leid zu mindern und für das seelische Leid der Hinterbliebenen geleistet werden. Die Bemessung obliegt gem. § 287 ZPO den Gerichten. Bei der Bemessung besonders zu berücksichtigen sind die gesundheitlichen und seelischen Leiden. Vorliegend sind auch die familiäre Situation und die grobe Fahrlässigkeit des Schädigers miteinzubeziehen.

Der Kläger konnte weiterhin seiner Arbeit nachgehen, seiner Frau zur Seite stehen und Organisationsaufgaben wahrnehmen. Er klagte über Schlafprobleme, jedoch sind die Alltagsbeeinträchtigungen gering, denn er habe sich nach seinem Renteneintritt eine geringfügige Beschäftigung gesucht und Besorgungen gemacht, kümmere sich um das Abendessen und Bürotätigkeiten, treffe sich mit seiner Frau und gehe mit ihr spazieren und manchmal bekämen sie Besuch. Der Rehabilitationsbericht weist lediglich „Konzentrationsschwächen beim Lernen“ aus. Es erfolgte kein sozialer Rückzug und der Kläger befand sich auch vor dem Unfall bereits in psychologischer Behandlung. Zurzeit befindet sich der Kläger in einer langwierigen Besserungsphase, sollte jedoch weiterhin behandelt werden.

Dem Kläger fehlt jedoch eine vom Leid ablenkende Bezugsperson und er hat mit dem Verlust des Sohnes die Stütze und die Erfüllung des Familienlebens verloren. Zu seinem Sohn hatte er eine besondere Beziehung, er war auch ein Freund und wurde wie ein Einzelkind aufgezogen. Aufgrund des fortgeschrittenen Alters können er und seine Frau zudem keine weiteren Kinder bekommen.

Wesentlich für die Bemessung ist das unfallbedingt schwierige Verhältnis des Klägers zu seiner Frau. Diese ist infolge des Unfalls schwer psychisch erkrankt und weise dem Kläger die Schuld für den Unfall zu. Ebenfalls zu berücksichtigen ist die erhebliche Schuld des Unfallverursachers.

Der Kläger selbsttraf zwar unmittelbar nach dem Unfall an der Unfallstelle ein , jedoch sind hierauf keine schwerwiegenden Folgen zurückzuführen. Ebenso ist das Regulierungsverhalten der Beklagten nicht erhöhend zu berücksichtigen, denn die Beklagte zeigte sich kooperativ und leistete Vorschüsse in rechtlich vertretbarer Höhe.

 

Weiteres:

Zur Unterscheidung des Schockschadens vom Hinterbliebenengeld ist sich folgendes zu verdeutlichen:

Das Hinterbliebenengeld knüpft haftungsbegründend an die Verletzung des Lebens eines anderen an und entschädigt auf der Ebene der haftungsausfüllenden Kausalität die seelischen Leiden der Hinterbliebenen. Dies kann auch eine normalpsychologische Trauer sein. Für einen Anspruch aufgrund eines Schockschadens muss eine eigene Rechtsgutverletzung vorliegen.

Diese Dogmatik kann dafür sprechen, neben einer Körper- und Gesundheitsschädigung auch den „Gefühlsschaden“ zu entschädigen, der im Rahmen des Schockschaden nicht zu entschädigen ist. Vorliegend liegt kein Schaden vor, der bei einem (hier aber nicht vorliegenden) Schockschaden auszugleichen wäre und ein höheres Hinterbliebenengeld rechtfertigen würde. Das seelische Leid, das in der Anpassungsstörung und der leichten Depression zum Ausdruck kommt, beruht gerade auf dem Unfall, sodass es Überschneidungen und fließende Übergänge zum rein seelischen Leid gibt.

Der Verlust eines minderjährigen Kindes ist zunächst im oberen Bereich der Hinterbliebenengelder anzusiedeln.

Vorliegend gehen die Leiden jedoch nicht über das hinaus, was Eltern bei dem Verlust eines Kindes regelmäßig erleiden. Deshalb kann der Durchschnittsbetrag i.H.v. 10.000€ angesetzt werden und aufgrund dessen, dass es sich um den Verlust eines noch minderjährigen Kindes handelt und der Kläger durch den Verlust messbare Krankheitsfolgen erlitten hat, erhöht werden auf 15.000€. Diese Erhöhung ist wegen der Nähe zum Durchschnittsfall aber ausreichend. Eine Erhöhung auf 20.000€ wäre nicht mehr angemessen. Ein Hinterbliebenengeld i.H.v. 20.000€ wird regelmäßig nur bei vorsätzlichen Tötungen zugesprochen, denn in diesen Fällen ist die Genugtuungsfunktion des Hinterbliebenengeldes stärker erhöhend zu werten als bei grober Fahrlässigkeit.

 

 

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