Familienprivileg und Fremdschädiger

BGH, Urteil vom 17.10.2017 — Aktenzeichen: VI ZR 423/16

Haftet aufgrund eines Verkehrsunfalls neben dem mit dem Verletzen in häuslicher Gemeinschaft wohnenden Schädiger noch ein Fremdschädiger für denselben, zu den Leistungen eines Sozialversicherungsträgers kongruenten Schaden, ist der Anspruch des Geschädigten gegen den angehörigen Schädiger bzw. dessen Versicherer gemäß § 242 BGB auf das beschränkt, was er bei einem Erhalt der Leistungen von Seiten des angehörigen Schädigers analog § 430 BGB im Verhältnis zum Sozialversicherungsträger behalten dürfte.

Leitsatz
1. Der durch einen Verkehrsunfall Geschädigte ist einem angehörigen Schädiger, mit dem er in häuslicher Gemeinschaft lebt, und dessen Haftpflichtversicherer gegenüber grundsätzlich auch insoweit aktivlegitimiert, als er Schadensersatzleistungen verlangt, die mit den ihm vom Sozialversicherungsträger zu erbringenden Sozialleistungen kongruent sind — Familienprivileg des § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X. Eine Übertragung des Regelungsinhalts des § 86 Abs. 3 VVG auf § 116 Abs. 6 SGB X scheidet aus.

2. Haftet aber aufgrund des Verkehrsunfalls neben dem angehörigen Schädiger ein Fremdschädiger für denselben kongruenten Schaden, entstehen infolge der Regelungen des § 116 Abs. 1 und Abs. 6 SGB X verschiedene Schuldverhältnisse, auf die die Regelungen der §§ 422 Abs. 1 Satz 1, 426, 430 BGB entsprechend anwendbar sind.

3. In dieser Fallgestaltung ist der Anspruch des Geschädigten gegen den angehörigen Schädiger bzw. dessen Versicherer gemäß § 242 BGB auf das beschränkt, was er bei einem Erhalt der Leistungen von Seiten des angehörigen Schädigers analog § 430 BGB im Verhältnis zum Sozialversicherungsträger behalten dürfte.

Sachverhalt
Die Klägerin nimmt die Beklagte auf Ersatz von Verdienstausfall aufgrund eines Verkehrsunfalls in Anspruch. An diesem Tag war die Klägerin als Beifahrerin ihres Ehemanns auf einem bei der Beklagten haftpflichtversicherten Motorrad unterwegs. Das Motorrad wurde von einem Pkw erfasst, der bei der Streithelferin haftpflichtversichert war. Die Klägerin wurde schwer verletzt. Im Verhältnis zwischen dem Ehemann der Klägerin einerseits und dem Fahrer des Pkw sowie der Streithelferin andererseits steht fest, dass die beiden letzteren für den Unfall dem Grund nach voll einstandspflichtig sind.

Die Klägerin´ist seit dem Unfall dauerhaft erwerbsunfähig. Sie erhält deshalb von dem Träger der gesetzlichen Rentenversicherung eine Rente wegen Erwerbsminderung.

Die Klägerin hat von der Beklagten Ersatz des Verdienstausfalls für die Jahre 2010 bis 2013 verlangt, den sie nach Anrechnung von Vorschüssen, die die Streithelferin auf den Verdienstausfallschaden der Klägerin erbracht hat.

Das Landgericht hat mit Teilgrund- und Teilurteil festgestellt, dass der Anspruch der Klägerin auf Ersatz ihres Verdienstausfalls für die Jahre 2010 bis 2013 dem Grunde nach gerechtfertigt ist und dass die Beklagte verpflichtet ist. Auf die Berufungen der Beklagten und der Streithelferin hat das Oberlandesgericht klargestellt, dass die festgestellte Ersatzpflicht auch den Rentenausfall erfasst und — nur insoweit den Rechtsmitteln stattgebend — weiter festgestellt, dass der von der Beklagten zu erstattende Gesamtschaden der Klägerin aus dem Unfallereignis auf einen Höchstbetrag von 5 Mio. € beschränkt ist. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision begehren die Beklagte vollständige, die Streithelferin teilweise Klageabweisung.

Entscheidung
Die Klägerin hat als Beifahrerin gegen ihren Ehemann (im Folgenden: angehöriger Schädiger) gemäß § 7 Abs. 1 StVG einen Anspruch auf Ersatz ihres Schadens.

Soweit der Sozialversicherungsträger der Klägerin infolge der unfallbedingten Erwerbsminderung keine oder keine kongruenten Sozialleistungen zu erbringen hat, steht die Aktivlegitimation der Klägerin hinsichtlich dieses Teils ihres Verdienstausfallschadens außer Frage.

Die Klägerin ist der Beklagten gegenüber grundsätzlich auch aktivlegitimiert, als sie im Hinblick auf ihren Verdienstausfall Schadensersatzleistungen verlangt, die mit den ihr vom Sozialversicherungsträger infolge der unfallbedingten Erwerbsminderung zu erbringenden Sozialleistungen kongruent sind. Ein Verlust der Aktivlegitimation durch Übergang ihrer diesbezüglichen Forderung auf den Sozialversicherungsträgers ist aufgrund § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X ausgeschlossen. Diese Sperre des Übergangs der Forderung auf den Sozialversicherungsträger gilt auch für den Direktanspruch gegen den Haftpflichtversicherer.

Verzichtet der Geschädigte auf den mit dem Familienprivileg bezweckten Schutz und nimmt er den Schädiger, mit dem er in häuslicher Gemeinschaft lebt, verringern die Leistungen, die der Sozialversicherungsträger infolge des Unfalls an die Klägerin erbringt, weder den von den Schädigern zu ersetzenden Schaden noch entfalten sie Erfüllungswirkung für die Schädiger und deren Versicherer. Zwischen dem Sozialversicherungsträger und den Schädigern besteht nämlich kein Gesamtschuldverhältnis.

Die Geltendmachung des der Klägerin zustehenden Anspruchs stellt sich aber insoweit als treuwidrig dar, als die Klägerin mit der Durchsetzung ihres auf kongruente Leistungen gerichteten Anspruchs gegen den Haftpflichtversicherer des angehörigen Schädigers den Regressanspruch des Sozialversicherungsträgers gegenüber dem letztlich vollumfänglich haftenden Fremdschädiger und dessen Haftpflichtversicherer zum Erlöschen bringt (§ 242 BGB). Der Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte ist aus diesem Grund auf Null reduziert. Ist ein zusätzlicher Schädiger vorhanden, der dem Sozialversicherungsträger gegenüber vollumfänglich verantwortlich ist, führt das infolge der Vorschrift des § 116 Abs. 1 und 6 SGB X zu verschiedenen Schuldverhältnissen zwischen den vier Beteiligten — Geschädigter, angehöriger Schädiger, Sozialversicherungsträger und Fremdschädiger -, auf die die Regelungen der §§ 422 Abs. 1 Satz 1, 426, 430 BGB entsprechend anwendbar sind.

In dieser Fallkonstellation hat die Durchsetzung des Anspruchs auf Ersatz des kongruenten Verdienstausfallschadens durch die Klägerin gegenüber dem angehörigen Schädiger zur Folge, dass die Klägerin diesen Schaden — zunächst — doppelt ersetzt erhält und zugleich den Regressanspruch des Sozialversicherungsträgers gegen den letztlich vollumfänglich verantwortlichen Fremdschädiger zum Erlöschen bringt. Damit geht die durch den doppelten Ersatz des Verdienstausfallschadens entstehende Bereicherung der Klägerin unmittelbar zu Lasten des Sozialversicherungsträgers und der Versichertengemeinschaft. Das erfordert entsprechend § 430 BGB einen Ausgleich zwischen den beiden Gläubigern — der Klägerin und dem Sozialversicherungsträger — dahin, dass die Klägerin diese Bereicherung an den Sozialversicherungsträger hinauszugeben hat.

Vor diesem Hintergrund macht die Klägerin im vorliegenden Verfahren einen Anspruch geltend, der ihr zwar formal zusteht, der ihr aber eine nur vorübergehende Bereicherung verschafft, die sie ohnehin wieder herauszugeben hätte, während sie gleichzeitig in der Vorschrift des § 116 Abs. 1 SGB X zum Ausdruck kommende beachtliche Interessen des Sozialversicherungsträgers und der Versichertengemeinschaft verletzt. Das stellt eine unzulässige Rechtsausübung dar.

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