Ersatzfähiger Rentenverkürzungsschaden?–Anmerkung zu OLG Braunschweig 7 U 61/14

Die Entscheidung des OLG Braunschweig behandelt erstmals — soweit ersichtlich — in der obergerichtlichen Rechtsprechung ein in der Vergangenheit wenig bekanntes Problem der Rentenschäden von Unfallopfern, die Versicherte der gesetzlichen Rentenversicherung sind.

Ausgangspunkt dieser Problematik ist § 77 Abs.2 SGB VI, der für den Fall einer „vorzeitigen“ Inanspruchnahme einer Alters- oder Erwerbsminderungsrente bei der Rentenberechnung die Herabsetzung des sog. „Zugangsfaktors“ von grundsätzlich 1,0 um 0,003 für jeden Monat des vorzeitigen Rentenbezugs anordnet. Die Herabsetzung des Zugangsfaktors wirkt sich über den Zeitraum des Bezugs der gesamten Altersrente rentenmindernd aus, vgl. § 77 Abs.3 SGB VI.

Das OLG Braunschweig verneint — im Ergebnis wohl zu Recht, wenngleich in der Begründung wenig überzeugend — einen Anspruch des Geschädigten gegen den Schädiger bzw. dessen Haftpflichtversicherer auf Ausgleich des daraus resultierenden monatlichen Rentenausfallschadens wegen fehlender Aktivlegitimation. Wegen der Einzelheiten sei auf die in einem separaten Beitrag enthaltene Urteilswiedergabe verwiesen.

Im Ergebnis zuzustimmen ist der Entscheidung, soweit sie den Geschädigten hinsichtlich eines Rentenkürzungsschaden nicht für aktivlegitimiert erachtet. Zu Recht geht das OLG davon aus, dass der schadensrechtliche Ausgleich eines Schadens zwischen Rentenversicherer (RV) und Schädiger/Haftpflichtversicherer (HV) zu erfolgen hat. § 116 SGB X und § 119 SGB X beabsichtigen, den Anspruch auf Ersatz eines Rentenschadens der Aktivlegitimation des Geschädigten selbst zu entziehen: § 116 SGB X, indem der Regress wegen der vom RV tatsächlich erbrachten Rentenleistungen diesem zugewiesen wird; § 119 SGB X, indem er Ansprüche auf Ersatz eines Beitragsschadens auf den RV als Treuhänder überträgt und dadurch den Geschädigten vor Einbußen wegen schadensbedingt nicht (mehr) erbrachter Beitragszahlungen schützt.

Wenig überzeugend ist das Urteil, soweit es den Forderungsübergang des hier relevanten Rentenschadens über § 116 SGB X mit der Begründung annimmt, eine Ausgleich habe dadurch zu erfolgen, dass der Schädiger/HV an den RV den Betrag zahle, der nach § 187 a SGB VI die Kürzung des Zugangsfaktors ausgleiche. Ob sich ein Forderungsübergang auf § 119 SGB X stützt, lässt das OLG offen, da § 119 jedenfalls nach dessen Abs.1 S.1 letzter HS Nr. 2 SGB X keine Anwendung finde, wenn der Anspruch bereits gem. § 116 SGB X übergegangen sei. Das OLG geht hier offensichtlich von einer möglichen Subsidiarität des § 119 SGB X aus, verkennt damit aber die gegeneinander abzugrenzenden Anwendungsbereiche beider Normen: § 116 SGB X betrifft den Regress der vom RV erbrachten Rentenleistungen (inklusive der daraus resultierenden Beitragszahlungen), während § 119 SGB X den Regress der durch den Unfall ausgefallenen, also bei „unfallfreier Erwerbsbiografie“ erwarteten Beiträge zur RV eröffnet: Hierdurch wird im Ergebnis das Rentenkonto des Geschädigten so gestellt, als hätte er bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze gearbeitet.

Noch problematischer stellt sich die Entscheidung des OLG aber vor allem dar, soweit dieses unterstellt, der Rentenkürzungsschaden sei durch eine an § 187 a SGB VI orientierte Beitragsausgleichszahlung der Schädigerseite an den RV zu kompensieren. Irritierend sind diese Ausführungen zunächst, weil der Kläger mit seiner Klage gerade nicht die „Zahlung von Beitragsausgleichszahlungen“ zur Korrektur seines „Rentenkontos“ beantragt hat, sondern vielmehr die Zahlung der Renten(leistungs)differenz. Unabhängig davon begegnet aber die Auffassung des OLG vor allem folgenden Bedenken: § 187 a SGB VI räumt einem Versicherten der gesetzlichen Rentenversicherung die Möglichkeit ein, durch eine freiwillige Zahlung eines Einmalbetrages den Nachteil auszugleichen, der ihm bei vorzeitigem Rentenbezug infolge der Kürzung des Zugangsfaktors nach § 77 SGB VI ansonsten entsteht. Im Ergebnis sichert sich der Versicherte auf diesem Weg eine ungekürzte Rente. Die vom OLG gewählte Konstruktion führt indes zu dem Ergebnis, dass sich diese „mögliche“, in der persönlichen Entscheidung des Versicherten liegende Einmalzahlung zu einem zur Disposition des RV stehenden Pflicht(ausgleichs)Anspruch wandelt. Die Herabsetzung des Zugangsfaktors gem. § 77 SGB VI wie auch die Ausgleichsmöglichkeit nach § 187 a SGB VI verdeutlichen die Intention des Gesetzgebers, mit deren Einführung Mehraufwendungen der Solidargemeinschaft der gesetzlich Rentenversicherten infolge einer vorzeitigen Inanspruchnahme einer Rente zu vermeiden. Dabei hatte der Gesetzgeber offenkundig diejenigen Konstellationen im Blick, bei denen der vorzeitige Renteneintritt erfolgt, ohne dass ein Schadenereignis zugrunde liegt, für das ein Dritter haftet.

Eine Belastung der Solidargemeinschaft liegt aber in Fällen des vorzeitigen Rentenbezugs infolge eines Schadensereignisses, für das eine Dritter haftet, nicht vor: Erbrachte Rentenleistungen werden vom RV gem. § 116 SGB X, Rentenbeitragsausfälle gem. § 119 SGB X regressiert. Auch bei vorzeitiger Inanspruchnahme einer Alters- oder Erwerbsminderungsrente stellt sich das „Rentenkonto“ des Geschädigten dar wie ohne das Schadensereignis. Eine weitere Kompensation über eine Ausgleichszahlung entsprechend § 187 a SGB VI würde also einerseits zu einer doppelten Inanspruchnahme des Schädigers und andererseits zu einer Besserstellung der Solidargemeinschaft der Rentenversicherten führen, da diese ohne faktische Mehrbelastung einen zusätzlichen Beitragszufluss erhielte.

Richtig ist allerdings, dass im Ergebnis die dem Geschädigten widerfahrende tatsächliche Rentenkürzung nicht hinnehmbar ist.

Allerdings liegt die Lösung nicht in der vom OLG Braunschweig postulierten „Ausgleichzahlung analog § 187 a SGB VI“ oder anderen, über den Rentenregress nach § 116 SGB X bzw. den Rentenbeitragsregress nach § 119 SGB X hinausgehende Ersatzzahlungen des Schädigers.

Richtigerweise ist vielmehr die vom RV vorgenommene Herabsetzung des Zugangsfaktors zu korrigieren, also eine „rentenrechtliche Lösung“ geboten: Durch die vorgenannten Regressmöglichkeiten ( bzw. -pflichten) ist gewährleistet, dass das „Rentenkonto“ des Geschädigten sich als durch das Schadenereignis unbeeinflusst darstellt. Wirtschaftlich ist aus Sicht des RV keine Belastung der Solidargemeinschaft durch die vorzeitige unfallbedingte Rentenleistung entstanden. Dies entspricht faktisch der Situation, die der weiteren Regelung des § 77 Abs. 3 Satz 3 Ziff. 1. und 2. SGB VI zugrunde liegt: Hiernach erfolgt in Fällen der „Nicht-mehr-Inanspruchnahme“ einer vorzeitigen Rente eine den Herabsetzungsvorgaben des § 77 Abs. 2 Ziff.2 SGB VI entsprechende Anhebung des Zugangsfaktors. Da infolge des Regresses nach § 116 SGB X der Geschädigte faktisch die Rentenversicherung nicht wirtschaftlich belastet, also damit die vorzeitig bezogene Rente realiter „nicht mehr“ in Anspruch nimmt, ist der Zugangsfaktor im Ergebnis vom RV bei der Rentenfestsetzung nicht herabzusetzen (so auch Plagemann, VersR 2016, 620). Entnimmt man dieses nicht unmittelbar dem § 77 Abs. 3 Satz 3 SGB VI, so wäre jedenfalls ansonsten eine analoge Anwendung der Norm bzw. eine daran orientierte teleologische Reduktion des § 77 Abs.2 Ziff. 2 SGB VI geboten. Denn der Gesetzgeber hat mit der Einführung dieser Regelung die Fälle einer „vorzeitigen Rente“ infolge eines Schadensereignisses, für das ein Dritter ersatzpflichtig und demnach auch nach den §§ 116, 119 SGB X regresspflichtig ist, nicht im Blick gehabt.

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