Bindungswirkung durch den Vorprozess des Geschädigten

BGH, Urteil vom 23.9.2014 — Aktenzeichen: VI ZR 483/12

Leitsatz
1. Eine rechtskräftige Entscheidung entfaltet Bindungswirkung regelmäßig nur gegenüber den Parteien des Vorprozesses.

2. Für die Kenntnis von einem Forderungsübergang nach § 116 Abs. 1 SGB X reicht aus, dass der Schädiger tatsächliche Umstände kennt, von denen allgemein bekannt ist, dass sie versicherungspflichtig machen.

Sachverhalt
Die Klägerin, eine Berufsgenossenschaft, macht Ansprüche gegen die Beklagte aus gemäß § 116 Abs. 1 SGB X übergegangenem Recht für Aufwendungen geltend, die sie wegen unfallbedingter Verletzungen des bei ihr versicherten K. erbracht hat.

K. befuhr mit dem LKW seiner Arbeitgeberin, einer Transportfirma, das Betriebsgelände der Beklagten, um dort Kalk zu laden. Da die Verladestation durch einen anderen LKW besetzt war, verließ K. das Fahrzeug, um den Domdeckel seines LKW’s zu öffnen. Im Folgenden stürzte K. auf einer Eisplatte. Infolge des Sturzes zog sich K. erhebliche Verletzungen zu und war längere Zeit arbeitsunfähig.

Der Versicherte der Klägerin ist in einem Vorprozess gegen die Beklagte unterlegen. Die Klageabweisung hat das Landgericht auf die Haftungsprivilegierung der Beklagten nach § 106 Abs. 3 Alt. 3, § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII gestützt. Das Oberlandesgericht hat sich der Beurteilung des Landgerichts angeschlossen und die Berufung des Versicherten K. zurückgewiesen. Das Urteil ist rechtskräftig geworden.

Im vorliegenden Rechtsstreit hat sich das Landgericht an die rechtskräftige Entscheidung für gebunden gehalten und die Klage ebenfalls abgewiesen. Die dagegen gerichtete Berufung der Klägerin ist erfolglos geblieben.

Entscheidung
Das Berufungsurteil hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.

Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung entfaltet das rechtskräftige Urteil im Verfahren zwischen dem Versicherten K. und der Beklagten, durch das die Klage wegen der Haftungsprivilegierung der Beklagten abgewiesen worden ist, keine Bindungswirkung im vorliegenden Rechtsstreit zu Gunsten der Beklagten. Das Urteil wirkt Rechtskraft nur zwischen den damaligen Prozessparteien. Hingegen erstreckt sich die Rechtskraft nicht auf Dritte, die am Prozess nicht teilgenommen haben und deshalb auf die Entscheidungsfindung keinen Einfluss hatten. Einer der Fälle, in denen das Gesetz die Rechtskraft auf Dritte erstreckt (§§ 325 ff. ZPO), liegt nicht vor. Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung war das Berufungsgericht nicht gehalten, aufgrund einer Bindungswirkung des rechtskräftigen Urteils zwischen dem Versicherten K. und der Beklagten seinem Urteil zugrunde zu legen, dass die Beklagte gegenüber dem Versicherten K. haftungsprivilegiert ist und ein Schadensersatzanspruch deshalb gegen sie nicht gegeben ist. Ebenso wie die Rechtskraft wirkt eine frühere Entscheidung nur gegenüber den Parteien des Vorprozesses bindend, nicht jedoch gegenüber nicht am Prozess beteiligten Dritten, da ansonsten der Anspruch auf rechtliches Gehör des nicht am Prozess beteiligten Dritten nicht hinreichend gewährleistet wäre.

Eine Rechtskrafterstreckung folgt auch nicht aus den Regelungen in § 407 Abs. 2, § 412 BGB. Danach muss der neue Gläubiger (hier die Klägerin) ein Urteil gegen sich gelten lassen, das zwischen dem Schuldner einer abgetretenen bzw. übergegangenen Forderung (hier: die Beklagte) und dem bisherigen Gläubiger (hier: der Versicherte K.) in einem nach dem Forderungsübergang anhängig gewordenen Rechtsstreit rechtskräftig über die Forderung ergangen ist. § 407 Abs. 2 BGB führt zu einer Rechtskrafterstreckung nur gegen den Zessionar. Diese Voraussetzung wäre im Streitfall gegeben, da die Klage des Versicherten K. gegen die Beklagte abgewiesen worden ist. Die Vorschrift des § 407 Abs. 2 BGB verwehrt es aber dem Schuldner, sich auf eine rechtskräftig in einem Prozess zwischen ihm und dem früheren Gläubiger ergangene Entscheidung zu berufen, wenn dieser Rechtsstreit erst nach seiner Kenntnis vom Anspruchsübergang rechtshängig geworden ist. So liegt der Fall hier. Dass die Beklagte den Anspruchsübergang auf die Klägerin bei Eintritt der Rechtshängigkeit des Vorprozesses nicht kannte, kann aufgrund der unfallbedingten Verletzungen des Versicherten nicht angenommen werden. An die Kenntnis vom Forderungsübergang werden, um den Schutz der sozialen Leistungsträger nicht durch die Behauptung fehlenden Wissens vom Gläubigerwechsel unterlaufen zu können, von der Rechtsprechung im Rahmen des § 116 Abs. 1 SGB X nur maßvolle Anforderungen gestellt. Für die Kenntnis des Schädigers von einem Forderungsübergang nach § 116 Abs. 1 SGB X genügt schon das Wissen, dass der Verletzte sozialversichert ist; es reicht sogar aus, wenn er tatsächliche Umstände kennt, von denen allgemein bekannt ist, dass sie versicherungspflichtig machen. Für die Beklagte lag auf der Hand, dass K. als Mitarbeiter der Silotransportfirma gesetzlich versichert ist und die Klägerin wegen der unfallbedingten Verletzungen des bei ihr gesetzlich Versicherten K. Leistungen erbringen würde. Mithin kann sie sich nicht nach § 407 Abs. 2, § 412 BGB auf das ihr günstige, die Klage abweisende Urteil berufen.

Somit war neu zu beurteilen, ob im vorliegenden Fall etwa das Haftungsprivileg der gemeinsamen Betriebsstätte gegeben war, was vom BGH im Ergebnis verneint wurde. Dabei stellt er heraus, dass bloß parallele Tätigkeiten, die sich beziehungslos nebeneinander vollziehen, ebenso wenig genügen wie eine reine Arbeitsberührung, auch wenn es dadurch zu einer „Aufspaltung“ eines vermeintlich einheitlichen Lebensvorganges komme.

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