BGH: Vertrauen auf übliche Postlaufzeiten auch in Zeiten der Corona-Pandemie

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Simone EibenSimone Eiben

BGH, Beschluss vom 19.11.2020 – Aktenzeichen: V ZB 49/20

(nicht offizieller) Leitsatz

Eine Partei darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass im Bundesgebiet werktags – innerhalb der Briefkastenleerungszeiten – aufgegebene Postsendungen am folgenden Werktag ausgeliefert werden. Anders liegt es nur, wenn dem Postkunden besondere Umstände bekannt sind, die zu einer Verlängerung der normalen Postlaufzeiten führen können. Eine Briefaufgabe in Zeiten der Corona-Pandemie ist für sich genommen kein Umstand, der das Vertrauen auf die üblichen Postlaufzeiten erschüttert.

 

Sachverhalt
Das Landgericht hatte die Klage der Klägerin abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die Klägerin nach fristgerecht eingelegter Berufung darauf hingewiesen zu beabsichtigen, die Berufung der Klägerin zu verwerfen, weil es an einer fristgerechten Berufungsbegründung fehlte. Die Klägerin hat daraufhin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und zugleich die Berufung begründet. Sie hat geltend gemacht, die Frist ohne ihr Verschulden versäumt zu haben. Ihr Prozessbevollmächtigter habe rechtzeitig eine Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist beantragt. Er habe den Brief mit dem Verlängerungsantrag am späten Donnerstagnachmittag vier Tage vor Fristablauf persönlich in einer Postfiliale abgegeben. Er habe sich darauf verlassen dürfen, dass der Brief bei der gewöhnlichen Postlaufzeit spätestens zwei Tage später und damit vor Fristablauf beim Berufungsgericht eingehen würde. Das Berufungsgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Zwar könne eine Partei grundsätzlich darauf vertrauen, dass im Bundesgebiet werktags aufgegebene Postsendungen am folgenden Werktag ausgeliefert würden. Da aber die Briefaufgabe in die Zeit der Corona-Pandemie gefallen sei, hätten besondere Umstände vorgelegen, aufgrund derer die Klägerin auf die Zuverlässigkeit des Postversandes nicht habe vertrauen dürfen, sondern einen sichereren Weg (durch Telefaxschreiben oder Schreiben durch besonderes elektronisches Anwaltsfach) habe wählen müssen. Unerheblich sei, dass es zu dieser Zeit noch nicht zu Einschränkungen des Postversandes gekommen sei. Ferner habe der Prozessbevollmächtigte aber auch nicht hinreichend glaubhaft gemacht, den Schriftsatz mit dem Verlängerungsantrag rechtzeitig bei der Post aufgegeben zu haben. Gegen seine Darstellung spreche, dass der Originalfristverlängerungsantrag nach wie vor nicht zur Akte gelangt sei. Dagegen hat die Klägerin Rechtsbeschwerde eingelegt.

 

Entscheidung

Die Rechtsbeschwerde war erfolgreich. Der BGH hat den Beschluss aufgehoben und die Sache zurückverwiesen.

Das OLG habe die Sorgfaltsanforderungen, die an einen Rechtsanwalt bei der Wahrung prozessualer Pflichten zu stellen seien, überspannt. Grundsätzlich dürfe darauf vertrauen werden, dass im Bundesgebiet werktags – innerhalb der Briefkastenleerungszeiten – aufgegebene Postsendungen am folgenden Werktag ausgeliefert werden, es sei denn, es seien besondere Umstände bekannt, die zu einer Verlängerung der normalen Postlaufzeiten führen könnten, etwa ein Poststreik. Solche Umstände habe das OLG nicht festgestellt. Dass die Briefaufgabe in die Zeit der Corona-Pandemie falle, genüge allein nicht, um das Vertrauen auf die üblichen Postlaufzeiten zu erschüttern. Konkrete Anhaltspunkte für Verzögerungen, etwa entsprechende Hinweise durch die Post oder die Medien habe das OLG nicht aufgezeigt. Aus der Begründung der begehrten Fristverlängerung, eine Besprechung mit der Klägerin sei coronabedingt nicht möglich, folge nichts anderes. Denn daraus könne nicht auf Einschränkungen auch bei der Postzustellung geschlossen werden.

Der Auffassung des OLG, die Klägerin habe nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass ihr Prozessbevollmächtigter den Fristverlängerungsantrag rechtzeitig bei der Post aufgegeben hat, hat der BGH ebenfalls eine Absage erteilt. Der Prozessbevollmächtigte, so der BGH, habe die Richtigkeit seiner Angaben anwaltlich versichert. Von der Richtigkeit einer anwaltlichen Versicherung sei grundsätzlich auszugehen, es sei denn, konkrete Anhaltspunkte schlössen es aus, dass der geschilderte Sachverhalt mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zutreffend ist. Solche Anhaltspunkte lägen hier nicht vor. Insbesondere rechtfertige der Umstand, dass der Fristverlängerungsantrag nicht zur Akte gelangt ist, keinen solchen Schluss, da nicht auszuschließen sei, dass Poststücke aus nicht mehr aufklärbaren Umständen auf dem Postweg endgültig verloren gehen. Schenke das Rechtsmittelgericht einer anwaltlichen Versicherung im Verfahren der Wiedereinsetzung keinen Glauben, müsse es die um Wiedereinsetzung nachsuchende Partei darauf hinweisen und ihr Gelegenheit geben, entsprechenden Zeugenbeweis anzutreten. Zudem sei dann die Prüfung veranlasst, ob bereits in der Vorlage der anwaltlichen Versicherung zugleich ein Beweisangebot auf Vernehmung des Prozessbevollmächtigten als Zeugen zu den darin genannten Tatsachen liege. Sei das der Fall, liege in der Ablehnung der Wiedereinsetzung ohne vorherige Vernehmung des Zeugen eine unzulässige vorweggenommene Beweiswürdigung

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