Aufsatz: Anforderungen an den gutachterlichen Nachweis psychischer Schäden am Beispiel der PTBS (Möhlenkamp VersR 2025, 1-13)

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

Anforderungen an den gutachterlichen Nachweis psychischer Schäden im Haftungsprozess am Beispiel der posttraumatischen Belastungsstörung (Möhlenkamp, VersR 2025, 1-13)

 

Thematik

Im Vergleich zu physischen Verletzungen sind psychische Beeinträchtigungen nach einem Schadensereignis weitaus schwerer zu erfassen und zu bewerten. Die Gründe liegen in der Eigenart und Diagnostik der Krankheitsbilder selbst, bei denen subjektive Umstände in Person des Geschädigten im Vordergrund stehen, für die Nachweisführung jedoch verobjektiviert werden müssen. Es gibt keine MRT-Aufnahme oder klinische Untersuchung, mit welcher das Vorliegen bestimmter psychischer Beeinträchtigungen standardisiert zweifelsfrei geprüft wer-den kann. Besondere Probleme bereitet der Kausalitätsnachweis, der durch die erforderliche Abgrenzung zu Alternativursachen, Aggravation, Simulation sowie psychische Vorerkrankungen und deren prognostizierten Verlauf erschwert wird. Im Streitfall ist zwingend ein psycho-logisches Sachverständigengutachten einzuholen, bei dem darauf zu achten ist, dass der Sachverständige auf Basis einer vollständigen Informationslage gearbeitet und die dargestellten Besonderheiten bei der Validierung seiner Ergebnisse berücksichtigt hat. Das Gericht muss bei seiner anschließenden Bewertung nicht nur prüfen, ob die gutachterlichen Feststellungen den Beweisanforderungen der beweispflichtigen Partei genügen, sondern es hat – was häufig übersehen oder nur unzureichend beachtet wird – ebenso zu prüfen, ob das Gutachten selbst den Anforderungen einer prozessual verwertbaren Begutachtung entspricht. Das Gutachtenergebnis darf vom Gericht nicht lediglich übernommen werden. Vielmehr muss die gerichtliche Entscheidung erkennen lassen, dass die sachverständigen Feststellungen rechtlich und tatsächlich gewürdigt wurden.

In dem Beitrag wird am Beispiel der in der Praxis häufig präsenten posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) neben der relevanten Rechtsprechung zum Kausalitätsnachweis dargestellt, worauf bei der Auseinandersetzung mit psychiatrischen Sachverständigengutachten zu achten ist. Dabei wird besonders auf die bestehenden und anerkannten Begutachtungsrichtlinien eingegangen, die sowohl vom Sachverständigen als auch vor Gericht zu beachten sind.

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Keine Repräsentantenhaftung bei §§ 110, 111 SGB VII

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

Bundesgerichtshof, Urteil vom 11. Juni 2024, Az.: VI ZR 133/23

 

Leitsätze

Die zu § 31 BGB entwickelten Grundsätze der Repräsentantenhaftung sind nicht auf § 111 Satz 1 SGB VII zu übertragen.

 

Sachverhalt

Die Klägerin nimmt als Trägerin der gesetzlichen Unfallversicherung die Beklagte nach einem Verkehrsunfall in Anspruch, der sich mit einem bei der Beklagten haftpflichtversicherten Werttransporter der P. GmbH ereignete. Der Werttransporter hatte nach einem Bericht des TÜV Süd eine Reihe von Mängeln. Der Fuhrparkleiter H. der P. GmbH hatte dem Leiter des Flottenmanagements F. vor dem Unfall mehrfach per E-Mail mitgeteilt, dass der Werttransporter Mängel aufweise und die Gefahr bestehe, dass etwas passiere. Die Klägerin macht geltend, dass sich die P. GmbH gem. § 111 SGB VII ein grob fahrlässiges Versagen des Leiters des Flottenmanagements F. zurechnen lassen müsse, dem als Repräsentanten der GmbH bedeutsame wesensmäßige Funktionen zur eigenverantwortlichen Erfüllung zugewiesen waren.

 

Entscheidung

Die Übertragung der zu § 31 BGB entwickelten Grundsätze der Repräsentantenhaftung auf § 111 Satz 1 SGB VII lehnt der BGH jedoch ab, weil dies die Grenzen richterlicher Gesetzesauslegung und Rechtsfortbildung überschreite. Der Richter darf sich nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen. Er muss die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren und den Willen des Gesetzgebers möglichst zuverlässig zur Geltung bringen. Er hat hierbei den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung zu folgen.

Nach § 31 BGB ist der Verein für den Schaden verantwortlich, den der Vorstand, ein Mitglied des Vorstands oder ein anderer verfassungsmäßig berufener Vertreter durch eine in Ausführung der ihm zustehenden Verrichtungen begangene, zum Schadensersatz verpflichtende Handlung einem Dritten zufügt. Oberbegriff ist mithin der „verfassungsmäßig berufene Vertreter‟. Über den Wortlaut des § 31 BGB hinaus hat die Rechtsprechung eine Repräsentantenhaftung für solche Personen entwickelt, denen durch die allgemeine Betriebsregelung und Handhabung bedeutsame, wesensmäßige Funktionen der juristischen Person zur selbständigen, eigenverantwortlichen Erfüllung zugewiesen sind, so dass sie die juristische Person im Rechtsverkehr repräsentieren. Im Vergleich zu § 31 BGB sei der Wortlaut des § 111 Satz 1 SGB VII jedoch enger. Er erfasse neben dem Mitglied eines vertretungsberechtigten Organs nur Abwickler oder Liquidatoren juristischer Personen. Insbesondere enthalte § 111 Satz 1 SGB VII im Gegensatz zu § 31 BGB („verfassungsmäßig berufene Vertreter‟) keinen Ober-begriff. Auch aus der Gesetzgebungshistorie ergäben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber auch bei § 111 Satz 1 SGB VII von einer Repräsentantenhaftung ausgehe. Eine erweiternde Auslegung oder analoge Anwendung des § 111 Satz 1 SGB VII im Sinne einer Repräsentantenhaftung widerspräche zudem der Gesetzessystematik. Beim Rückgriffsanspruch gemäß § 110 Abs. 1, § 111 Satz 1 SGB VII handle es sich nicht um einen übergeleiteten Schadensersatzanspruch des Verletzten, sondern um einen originären, selbständigen Anspruch des Sozialversicherungsträgers. § 111 Satz 1 SGB VII begründe eine Haftung der juristischen Person nach Maßgabe des § 110 SGB VII, indem dieser das Ver-schulden ihrer vertretungsberechtigten Organe zugerechnet werde. Der Gesetzgeber habe den Rückgriffsanspruch der SVT gemäß §§ 110 ff. SGB VII somit besonders ausgestaltet und dabei von einer weitergehenden Zurechnungsnorm jedoch gerade abgesehen. Daher verbietet sich eine Zurechnung des Verschuldens sonstiger Personen nach anderen Vorschriften. Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung sprächen schließlich nicht für eine er-weiternde Auslegung oder analoge Anwendung des § 111 Satz 1 SGB VII.

 

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Verjährungsbeginn nach § 113 SGB VII

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

OLG Schleswig, Urteil vom 16. Juli 2024, Az.: 7 U 89/23 (Revision zugelassen)

 

Leitsätze

Die Verjährung des Regressanspruchs aus § 110 Abs. 1 SGB VII läuft kenntnisunabhängig ab dem Tag der Feststellung der Leistungspflicht für den gesetzlichen Unfallversicherungsträger, wobei diese Feststellung auch für andere Sozialversicherungsträger – namentlich Rentenversicherungsträger – maßgeblich ist.

 

Sachverhalt

Die Parteien stritten um die Feststellung eines Regressanspruchs aus § 110 Abs. 1 SGB VII. Die Klägerin ist gesetzlicher Rentenversicherer des Geschädigten. Der bei der Beklagten beschäftigte Geschädigte erlitt am 14.05.2015 bei der Arbeit als landwirtschaftlicher Helfer einen schweren Arbeitsunfall. Am 24.05.2017 erließ die zuständige gesetzliche Unfallversicherung gegenüber dem Geschädigten einen Bescheid, mit dem der Unfall vom 14.05.2015 als Arbeitsunfall anerkannt und eine Rente als vorläufige Entschädigung gewährt wurde. Unter dem 06.08.2021 beantragte der Geschädigte die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit bei der Klägerin. Der Beklagte hat die Einrede der Verjährung erhoben. Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, der Bescheid der zuständigen Berufsgenossenschaft binde auch die Klägerin i. S. d. § 113 S. 1 SGB VII, so dass der Anspruch aus § 110 Abs. 1 SGB VII verjährt sei.

 

Entscheidung

Das OLG stimmt der Beklagten zu: Die bindende Feststellung für den UVT auch für andere SVT maßgeblich ist. Diese Auffassung finde ihre Stütze in der Rechtsprechung des BGH, Urteil vom 08.12.2015, Az. VI ZR 37/15. Dort führte der BGH – obiter dictum – als Argument, dass für den Beginn der Verjährung gemäß § 113 S. 1 SGB VII eine Feststellung der Leistungspflicht dem Grunde nach (und nicht der Höhe nach) genüge, den Umstand an, dass „die für den UVT bindende Feststellung der Leistungspflicht nicht nur Voraussetzung für die Verjährung seiner eigenen Ansprüche ist, sondern auch für die Verjährung der Ansprüche anderer SVT“ (BGH, a.a.O.). Das OLG argumentiert wie der BGH mit dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes argumentiert, wonach die Regelung für alle SVT gelte Dem Träger der gesetzlichen Rentenversicherung drohe zwar die Verjährung seiner Regressansprüche, wenn er nach der Feststellung des Versicherungsfalls durch den UVT nicht innerhalb der ab diesem Zeitpunkt laufenden Verjährung Kenntnis vom Schadenfall erhält. Der Wortlaut des § 110 Abs. 1 SGB VII unterscheide jedoch nicht zwischen verschiedenen SVT, während § 113 S. 1 SGB VII für den Verjährungsbeginn allein auf die Feststellung der Leistungspflicht für den UVT abstelle. Die Regelung sei vom Gesetzgeber offenbar bewusst auch im Zuge diverser Anpassungen nicht grundlegend verändert worden. Eine planwidrige Regelungslücke oder ein redaktionelles Versehen sei demnach nicht erkennbar. Vielmehr stelle sich die Regelung als eine gesetzgeberische Grundentscheidung bei der Abwägung dar, bis wann das Interesse des nach § 110 Abs. 1 SGB VII Haftenden an Rechtssicherheit noch dem Interesse der Versichertengemeinschaft an einer Durchsetzung dieser Regressansprüche vorgehen soll.

 

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Reichweite der Eingliederungsrechtsprechung des BGH (Wie- Beschäftigung)

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

OLG Saarbrücken, Urteil vom 12. Juli 2024, Az.: 3 U 59/23

 

Leitsätze

Ein zufällig vorbeikommender Helfer, der den Halter eines Kraftfahrzeugs bei dem Versuch der gemeinsamen Behebung einer Fahrzeugpanne tödlich verletzt, kann sich den Hinterbliebenen gegenüber auf das Haftungsprivileg nach § 105 Abs. 2 S. 1 SGB VII berufen. Die Anerkennung des Schadensereignisses als Arbeitsunfall (Wegeunfall) durch den für den Arbeitgeber des Verstorbenen zuständigen Unfallversicherungsträger hindert die Zivilgerichte nicht daran, den Unfall dem im Halten des Kraftfahrzeugs zu erblickenden Unternehmen des Verstorbenen zuzuordnen. Das Halten eines Kraftfahrzeugs stellt ein Unternehmen im Sinne des § 136 Abs. 3 Nr. 1 SGB VII dar.

 

Sachverhalt

Der verstorbene Ehemann/Vater der Kläger wurde am 08.10.2019 bei dem Versuch, eine Panne an seinem Kfz zu beheben, getötet. Er war auf dem Heimweg von seiner Arbeit, als sein Kfz nahe seiner Wohnung liegenblieb. Der Beklagte zu 1) wollte Starthilfe leisten und brachte hierzu seinen Pkw heran. Als neide versuchten, den Motor mithilfe eines Überbrückungskabels zu starten, geriet der Pkw des Verstorbenen in Bewegung und quetschte beide Personen zwischen den Fahrzeugen ein. Die für den Arbeitgeber des Verstorbenen zuständige Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (VBG) erkannte den Unfall als Wegeunfall an und zahlte den Kläger eine Witwen- bzw. Halbwaisenrente. Hiergegen richteten sich die Beklagten.

 

Entscheidung

Das OLG gab den Beklagten recht und wies die Klage ab. Der Anspruch der Kläger sei nach § 105 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 SGB VII ausgeschlossen. Der Verstorbene sei in seiner Eigenschaft als Halter seines liegengebliebenen Kfz ein nicht durch die gesetzliche Unfallversicherung versicherter Unternehmer gewesen. Der Beklagte zu 1) habe bei der Starthilfe als Wie- Beschäftigter i.S.d. § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII geholfen. Zugunsten der Be-klagten greife daher der Haftungsausschluss nach § 105 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 SGB VII.

Die Anerkennung des Unfalls als Wegeunfall VBG stehe dem Haftungsprivileg hier ausnahmsweise nicht entgegen. Nach ständiger Rechtsprechung des BGH sei es den Zivilgerichten zwar grundsätzlich verwehrt, einen Unfall, der aufgrund einer bindenden Entscheidung einem Unternehmer auf der Grundlage von § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII durch einen SVT zugeordnet worden sei (hier: dem Arbeitgeber des Verstorbenen), noch einem weiteren Unternehmen auf der Grundlage des § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII zuzurechnen (Praktikantinnen-Rechtsprechung: BGH, Urteil vom 22.4.2008 – VI ZR 202/07). Daraus folge im konkreten Fall jedoch nicht, dass den Beklagten das Haftungsprivileg nach § 105 Abs. 2 Satz 1 SGB VII versperrt sei. Die genannte Rechtsprechung des BGH sei im Streitfall nicht anwendbar, da sie eine andere Fallgestaltung beträfe, nämlich einen Schaden, der bei einem für zwei Unternehmen tätigen Beschäftigten eingetreten sei. Im Gegensatz dazu stünden dem Beklagten zu 1) hier nicht zwei Unternehmer in diesem Sinne gegenüber. Deshalb sei das Verfahren sei auch nicht gem. § 108 SGB VV auszusetzen gewesen. Zumal sei im vorliegenden Fall die Konkurrenzregelung des § 135 Abs. 1 Nr. 7 SGB VII, auf die der BGH maßgebend abstelle, nicht einschlägig. Der Zweck des § 105 SGB VII, Konflikte innerhalb des Unternehmens eingeschränkt werden sollen, sei hier deshalb nicht gefährdet. Zudem überzeuge folgende Kontrollüberlegung: Wenn es um einen Personenschaden des Beklagten zu 1) ginge, wäre die Haftung des Verstorbenen nach § 104 Abs. 1 SGB VII ausgeschlossen. Könnte sich der Beklagte zu 1) demgegenüber nicht auf die Haftungsbeschränkung berufen, würde dies zu einer Schlechterstellung des zivilrechtlich haftenden Helfers gegenüber dem zivilrechtlich haftenden Fahrzeughalter führen. Dies sei mit dem Schutzprinzip des § 105 SGB VII nicht vereinbar.

 

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Keine Darlegungs- und Beweiserleichterungen für SVT (BGH)

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

Bundesgerichtshof, Urteil vom 9. Juli 2024, Az.: VI ZR 252/23

 

Leitsätze

Sozialrechtliche Anforderungen an das Abrechnungssystem zwischen Krankenhäusern und gesetzlichen Krankenkassen sowie sozialrechtliche Anforderungen an die Datenübermittlung, Prüfung von Rechnungen und Zahlungspflichten der Krankenkassen rechtfertigen keine Abweichung von den zivilrechtlichen Grundsätzen der Darlegungs- und Beweislast beim Regress des gesetzlichen Krankenversicherers des Unfallgeschädigten gegen den Schädiger nach § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X.

 

Entscheidung

Der BGH entscheidet den Streit, ob sich aus sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften zur Abrechnungen mit den Leistungserbringern der SVT, dem Datenaustausch (§§ 294–303 SGB V), Vereinbarungen zur DRG-Kodierung Besonderheiten ergeben, die zu einer abgeschwächten Darlegungs- und Beweislast der SVT führen müssen. Der BGH vertritt die gegenteilige Ansicht: Sozialrechtliche Anforderungen an das Abrechnungssystem sowie sozialrechtliche Anforderungen an die Datenübermittlung, Prüfung von Rechnungen und Zahlungspflichten rechtfertigen keine Abweichung von den zivilrechtlichen Grundsätzen der Darlegungs- und Beweislast beim Regress des SVT (dort der gesetzlichen Krankenversicherung) des Unfallgeschädigten gegen den Schädiger nach § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X (BGH, 09.07.2024, Az.: VI ZR 252/23). Auch sei das im Fall der Beschädigung einer Sache für Reparatur- und Sachverständigenkosten anerkannten Grundsätze zum sog. Werkstattrisiko nicht auf den SVT-Regress zugunsten der SVT übertragbar.

Dem ist zuzustimmen: Für den in Anspruch genommenen Schädigers darf es keinen Unterschied machen, ob der Geschädigte selbst oder dessen Krankenversicherung etc. aus abgetretenem Recht Schadensersatzansprüche geltend macht. Er muss stets die Möglichkeit haben, die Berechtigung des Anspruchs auch zur Höhe zu überprüfen. Insoweit steht ihm ein Auskunftsanspruch nach § 119 Abs. 3 VVG zu (OLG Stuttgart, 19.12.2023, Az.: 12 U 17/23; OLG Hamm, 16.05.2023, Az.: I-26 U 99/22). Es geht nicht darum, die zwischen dem SVT und den Leistungserbringern ausgehandelte Vereinbarungen über Abrechnungsmodalitäten überprüfbar zu machen oder in Frage zu stellen. Diesbezüglich sind dem Schädigern Einwände verwehrt (BGH VersR 2004, 1189 ff.; OLG Hamm VersR 2010, 91 ff.). Legt ein SVT seine Aufwendungen nicht dar, ist dem Schädiger ein qualifiziertes Bestreiten nicht möglich. In diesem Fall muss daher ein – alternativloses – Bestreiten mit Nichtwissen zulässig sein und der SVT hat nachzulegen. Ansonsten ist es dem Schädiger genommen, selbst offensichtliche Unrichtigkeiten zu erkennen und einzuwenden. Damit werden lediglich schützenswerte allgemeine Grundsätze eingefordert, die sich daraus ergeben, dass der SVT Ansprüche seines Versicherten aus übergegangenen Rechten geltend macht. Eine Bevorzugung des Schädigers ist damit nicht verbunden. Sie darf jedoch ebenso wenig dem SVT zukommen (vertiefend Möhlenkamp VersR 2024, 209 ff.).

 

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Aufsatz

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

Darlegungs- und Beweiserleichterungen zugunsten eines Sozialversicherungsträgers im Regressprozess? – Diskussion und Bewertung vor dem Hintergrund aktueller Rechtsprechung – RA Stefan Möhlenkamp (VersR 2024, 209 ff.)

Gehen in einem Schadensfall Ansprüche des Geschädigten gem. §§ 116, 119 SGB X auf einen Sozialversicherungsträger (SVT) über, stellt sich spätestens im Prozess mit dem Schädiger und/oder dessen Haftpflichtversicherer die Frage, welche Anforderungen an die Darlegungs- und Beweispflicht des SVT zu stellen sind. Grundsätzlich gilt, dass ein SVT die Schadensersatzansprüche seines Versicherten so erhält, wie sie bei diesem entstanden sind, d.h., mit denselben Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast sowie allen Einwendungsoptionen der Gegenseite. In der Praxis und Literatur stellt sich immer wieder die Frage, ob und gegebenenfalls wie dieser Grundsatz unter Berücksichtigung der sozialversicherungsrechtlichen (Sonder-)Stellung des SVT zu modifizieren ist.

Der Beitrag beleuchtet vor dem Hintergrund zweier aktueller Entscheidungen die Frage, ob sich ein SVT aufgrund seiner Sonderstellung als Teil des Sozialstaats wegen deshalb von ihm bei der Informationsbeschaffung und Datenweitergabe zu beachtenden Vorschriften und sich daraus eventuell ergebenden Schwierigkeiten auf Erleichterungen bei der Darlegung und dem Nachweis insbesondere betreffend die Höhe seiner regressierten Aufwendungen berufen kann.

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Darlegungs- und Beweislast eines Sozialversicherungsträgers

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

OLG Stuttgart, Urteil vom 19.12.2023, Az.: 12 U 17/23

 

Leitsatz

Werden gegenüber der Haftpflichtversicherung eines Unfallverursachers stationäre Behandlungskosten allein durch einen Ausdruck aus dem Software-Programm DRG Grouper (sog. „Grouper-Ausdruck“) belegt, setzt dies die in Anspruch genommene Haftpflichtversicherung nicht in die Lage, die Berechtigung des erhobenen Schadensersatzanspruchs ausreichend überprüfen zu können. Der beklagten Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers stand gemäß § 119 Abs. 3 VVG ein Anspruch auf Auskunft und Vorlage weiterer Unterlagen zur Prüfung der geltend gemachten stationären Behandlungskosten zu.

 

Entscheidung

Gehen in einem Schadensfall Ansprüche des Geschädigten gem. §§ 116, 119 SGB X auf einen Sozialversicherungsträger (SVT) über, stellt sich spätestens im Prozess mit dem Schädiger und/oder dessen Haftpflichtversicherer die Frage, welche Anforderungen an die Darlegungs- und Beweispflicht des SVT zu stellen sind. Grundsätzlich gilt, dass ein SVT die Schadensersatzansprüche seines Versicherten so erhält, wie sie bei diesem entstanden sind, d.h., mit denselben Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast sowie allen Einwendungsoptionen der Gegenseite. In der Praxis und Literatur stellt sich immer wieder die Frage, ob und gegebenenfalls wie dieser Grundsatz unter Berücksichtigung der sozialversicherungsrechtlichen (Sonder-)Stellung des SVT zu modifizieren ist.

Im Fall des OLG Stuttgart legte der klagende SVT zur Darlegung der Berechtigung der regressierten Krankenhausbehandlungskosten lediglich die DRG Grouper-Auszüge vor und vertrat die Ansicht, damit seiner Darlegungspflicht genüge getan zu haben. Das OLG Stuttgart sieht dies anders:

Aus dem Ausdruck ergibt sich nicht, wie die in dem Ausdruck angegebene Hauptdiagnose ermittelt wurde und Eingang in das Computerprogramm gefunden hat. Im Unterschied zu einem Arztbericht, in dem der behandelnde Arzt die von ihm selbst gestellte Diagnose festhält und die Befundtatsachen dokumentiert, gibt ein „Grouper-Auszug“ lediglich wieder, was – ein in der Verwaltung arbeitender Dritter – in das Computersystem eingetragen hat. Eine im „Grouper-Auszug“ genannte Verletzung mag in der Zusammenschau mit der Art des Unfallereignisses plausibel erscheinen, jedoch ist dem Schädiger nicht zuzumuten, sich auf eine Plausibilitätsprüfung zu beschränken. Vielmehr muss er die Möglichkeit haben, die behaupteten Verletzungen, die eine stationäre Behandlung und damit die geforderten Behandlungskosten erforderlich machten, konkret nachzuvollziehen. Dies ist etwa durch die Vorlage eines ärztlichen Berichts möglich, in dem der behandelnde Arzt die von ihm unmittelbar erhobenen Befundtatsachen sowie die konkrete Diagnose zusammengefasst hat. Solche detaillierten medizinischen Hintergrunddaten enthält der sog. „Grouper-Auszug“ gerade nicht.

Soweit die Klägerin argumentiert, dass der Klägerin keine weiteren Nachweismöglichkeiten zur Verfügung stünden und es an einer Rechtsgrundlage fehle, die die Klägerin berechtigen würde, selbst ärztliche Unterlagen, die ihre Versicherungsnehmerin betreffen, anzufordern und an die Beklagte zu übersenden, greift dieser Einwand ebenfalls nicht durch. Die Klägerin hat mit ihrer Versicherungsnehmerin ein Vertragsverhältnis begründet. Aus diesem folgt die Pflicht der Versicherungsnehmerin, die Behandlungsunterlagen, die sie nach § 119 Abs. 3 VVG bei einer eigenständigen Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen der gegnerischen Versicherung zugänglich machen muss, auch ihrer Krankenversicherung zu überlassen, wenn diese infolge eines gesetzlichen Forderungsübergangs nach § 116 Abs. 1 SGB X die Schadensersatzansprüche der Versicherungsnehmerin geltend macht. Für die in Anspruch genommene Haftpflichtversicherung des Schädigers wiederum darf es keinen Unterschied geben, ob die Geschädigte selbst oder deren Krankenversicherung aus abgetretenem Recht den Schadensersatzanspruch geltend macht. Die Haftpflichtversicherung muss in jedem Fall die Möglichkeit haben, die Berechtigung des erhobenen Schadensersatzanspruchs konkret zu überprüfen. Hierfür steht ihr der Auskunftsanspruch nach § 119 Abs. 3 VVG zu.‟

Anmerkungen

Dem ist nicht zuzustimmen: Für den in Anspruch genommenen Schädigers darf es keinen Unterschied geben, ob die Geschädigte selbst oder deren Krankenversicherung aus abgetretenem Recht den Schadensersatzanspruch geltend macht. Er muss die Möglichkeit haben, die Berechtigung des erhobenen Schadensersatzanspruchs konkret zu überprüfen. Hierfür steht ihm der Auskunftsanspruch nach § 119 Abs. 3 VVG zu (OLG Stuttgart, 19.12.2023, Az.: 12 U 17/23; OLG Hamm, 16.05.2023, Az.: I-26 U 99/22). Es geht nicht darum, von Krankenkassen oder anderen SVT mit den Leistungserbringern ausgehandelte Vereinbarungen über Abrechnungsmodalitäten überprüfbar zu machen oder sie in Frage zu stellen. Insoweit sind Schädigern und dessen Haftpflichtversicherern Einwände verwehrt (BGH VersR 2004, 1189 ff.; OLG Hamm VersR 2010, 91 ff.). Allerdings müssen sie in der Lage sein, die von ihnen geforderten Aufwendungen der Höhe nach zu überprüfen, um im Einzelfall qualifiziert bestreiten zu können. Legt ein SVT seine Aufwendungen nicht ausreichend dar, muss ein – alternativloses – Bestreiten mit Nichtwissen zulässig sein und der SVT hat nachzulegen. Ansonsten ist es kaum möglich, selbst offensichtliche Unrichtigkeiten zu erkennen und einzuwenden. Damit werden lediglich schützenswerte allgemeine Grundsätze angewendet, die sich daraus ergeben, dass der SVT keine eigenen, sondern Ansprüche seines Versicherten aus übergegangenen Rechten geltend macht. Eine Bevorzugung der Schädigerseite ist damit nicht verbunden. Sie darf jedoch genauso wenig dem SVT zukommen (vertiefend Möhlenkamp VersR 2024, 209 ff.).

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Teilungsabkommen: Auslegungsgrundsätze zur Frage der Kausalität

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

OLG Bamberg, Urteil vom 21.3.2023, Az.: 5 U 54/22

 

Sachverhalt

Die Klägerin, eine gesetzliche Krankenkasse, verlangt – gestützt auf ein zwischen ihr und der Beklagten abgeschlossene Rahmen-Teilungsabkommen (TA) von der Beklagten zu 1), einem Kfz-Haftpflichtversicherer, 55 % der Aufwendungen, die ihr aus Anlass eines Unfalls der bei ihr Versicherten entstanden sind sowie Feststellung der Ersatzpflicht für weitere Aufwendungen in Höhe von 55 %. Zu dem Verkehrsunfall kam es, weil der Fahrer des bei der Beklagten haftpflichtversicherten Fahrzeugs auf das verkehrsbedingt anhaltende Fahrzeug, das von der Versicherten geführt wurde, auffuhr. Die maßgeblichen Regelungen des Teilungsabkommens lauten:

§ 1a
(1) Erhebt eine diesem Abkommen beigetretene Betriebskrankenkasse („K“) Schadensersatzansprüche nach § 116 SGB X gegen Kraftfahrzeughalter und -führer, die aus dem Schadenfall bei der „H“ Versicherungsschutz genießen, so erstattet die „H“ der „K“ ohne Prüfung der Haftungsfrage namens der haftpflichtversicherten Personen im Rahmen des bestehenden Haftpflichtversicherungsvertrages und nach Maßgabe der nachstehenden Bestimmungen 55 % ihrer anlässlich des Schadensfalls aufgrund Gesetzes erwachsenen Aufwendungen.
(2) Eigenes Verschulden des Geschädigten oder das Vorliegen eines unabwendbaren Ereignisses (§ 7 Abs. 2 StVG) schließt die Erstattungspflicht der „H“ nicht aus.
(3) Voraussetzung für die abkommensgemäße Beteiligung ist jedoch das Bestehen eines adäquaten Kausalzusammenhangs zwischen dem Gebrauch des Kraftfahrzeuges und dem Eintritt des Schadenfalles.

§ 2
Die Aufwendungen der „K‟ unterliegen der Erstattung nach §§ 1a und 1b nur insoweit und solange, als sie sich mit dem sachlich und zeitlich kongruenten Schaden des Verletzten decken (Übergang nach § 116 SGB X).

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass nach dem Teilungsabkommen die Klägerin den erforderlichen Kausalzusammenhang zwischen der diagnostizierten Verletzung und dem Unfall zu beweisen habe (haftungsausfüllende Kausalität).

 

Entscheidung

Die Berufung der Klägerin hatte nach Ansicht des OLG Erfolg: Entgegen der Ansicht des Landgerichts ist das TA nicht dahingehend auszulegen, dass der Eintritt des adäquat kausalen Schadensfalls den Nachweis einer unfallbedingten Verletzung der Versicherten erfordert. Das TA ist dahingehend auszulegen, dass ein Verzicht auf die Prüfung der Haftungsfrage vereinbart wurde, von dem auch der Nachweis des Ursachenzusammenhangs zwischen Unfallereignis und Verletzung umfasst ist.

Im Streitfall ist nach § 1a Abs. 3 TA Voraussetzung für die Anwendung des Teilungsabkommens der adäquate Kausalzusammenhang zwischen „dem Schadenfall und dem Gebrauch eines Kraftfahrzeugs‟.. Der in § 1a Abs. 3 TA genannte Zusammenhang ist gegeben. Das bei der Beklagten zu 1) versicherte Fahrzeug fuhr auf das verkehrsbedingt stehen gebliebene Fahrzeug der Versicherten auf. Ein solcher Verkehrsvorgang liegt auch nicht außerhalb der allgemeinen Verkehrserfahrung, sondern ist typisch. Die Parteien haben mit dieser Regelung und der Begrenzung auf adäquat kausale Schadenfälle offensichtlich die „Groteskfälle“ von der Erstattungspflicht ausgenommen. Dabei handelt es sich um Fälle, die schon aufgrund des unstreitigen Sachverhalts unzweifelhaft und offensichtlich eine Schadensersatzpflicht des Versicherungsnehmers nicht hervorrufen können und daher gemäß § 242 BGB von der Erstattungspflicht ausgenommen sind (BGH NJW 1956, 1237).

Zu Regelungen im Sinne des § 1a Abs. 2 TA – unabwendbares Ereignis – hat der BGH mit Urteil vom 23.09.1963, Az.: II ZR 118/60 bereits entschieden, dass durch den im Teilungsabkommen vereinbarten Verzicht auf die Prüfung der Haftungsfrage nach dem Willen der Vertragsschließenden auch ein auf § 7 Abs. 2 StVG wegen eines unabwendbaren Ereignisses gestützter Einwand des Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherers ausgeschlossen sein soll

Die Regelung in § 2 TA beinhaltet ebenfalls keine Einschränkung des Verzichts auf die Prüfung der Haftungsfrage bzw. einer Kausalität im obigen Sinne. Denn danach unterliegen die Aufwendungen der Klägerin der Erstattung nach §§ 1a und 1b nur insoweit und so lange, als sie sich mit dem sachlich und zeitlich kongruenten Schaden des Verletzten decken (Übergang nach §§ 116 SGB X). Dies ist so zu verstehen, dass damit der Einwand der mangelnden zivilrechtlichen Übergangsfähigkeit behandelt wird. Dies betrifft weder die Haftungsfrage noch die Deckungsfrage, sondern die Frage, ob der Sozialversicherungsträger gemäß § 116 SGB X zur Geltendmachung des Anspruchs des Geschädigten berechtigt ist.

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Arbeitsunfall als Voraussetzung der §§ 104 ff. SGB VII: Kaffeeholen im Betrieb

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 7.2.2023, Az.: L 3 U 202/21

 

Leitsätze

1. Das Zurücklegen des Weges zum Holen eines Kaffees im Betriebsgebäude des Arbeitgebers steht im inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit.

2. Ein grundsätzlich versicherter Weg in der Sphäre des Arbeitgebers wird nicht durch die Tür des Raumes begrenzt, in dem der Getränkeautomat steht.

 

Sachverhalt

Die Klägerin ist als Verwaltungsangestellte beschäftigt und im Finanzamt D. tätig. Auf dem Weg zum Kaffeeholen im Sozialraum des Finanzamtes während ihrer Arbeit rutschte sie wegen nasser Bodenoberfläche aus und zog sich unter anderem einen Bruch des dritten Lendenwirbelkörpers zu. Sie klagt auf Anerkennung des Unfalls als Arbeitsunfalls, was ihr Arbeitgeber ihr verweigert hat.

 

Entscheidung

Das LSG führt aus: Zu unterscheiden ist zwischen Unfällen auf dem Wege zur Nahrungseinnahme und Unfällen, die sich bei der Nahrungsaufnahme selbst ereignen. Die Nahrungsaufnahme selbst ist grundsätzlich nicht in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert (stRsp, vgl. BSG, Urteil vom 31. März 2022 – B 2 U 5/20 R). Die Nahrungsaufnahme ist vielmehr dem privaten, unversicherten Lebensbereich zuzurechnen. Anders verhält es sich mit dem Weg, der im Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme bzw. mit dem Besorgen der Nahrung zurückgelegt werden muss. Das Zurücklegen eines Weges durch einen Beschäftigten mit der Handlungstendenz, sich an einem vom Ort der Tätigkeit verschiedenen Ort Nahrungsmittel zu besorgen oder einzunehmen, ist grundsätzlich versichert (vgl. BSG, Urteil vom 5. Juli 2016 – B 2 U 5/15 R) und zwar unabhängig davon, ob der Weg auf dem Betriebsgelände zurückgelegt wird oder den Versicherten von diesem herunter durch den öffentlichen Verkehrsraum (etwa zu einer Gaststätte, der eigenen Wohnung oder zu einem Kiosk/Lebensmittelgeschäft) führt. Zum einen dient die beabsichtigte Nahrungsaufnahme während der Arbeitszeit im Gegensatz zur bloßen Vorbereitungshandlung vor der Arbeit der Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit und damit der Fortsetzung der betrieblichen Tätigkeit. Zum anderen handelt es sich um einen Weg, der in seinem Ausgangs- und Zielpunkt durch die Notwendigkeit geprägt ist, persönlich im Beschäftigungsbetrieb anwesend zu sein und dort betriebliche Tätigkeiten zu verrichten.

Insbesondere die Rechtsprechung des BSG zur Außentür eines Gebäudes als Grenze des Versicherungsschutzes für versicherte Wege könne in Fallkonstellationen, in denen ein Versicherter innerhalb des Betriebsgebäudes einen Weg zu einem Lebensmittel- / Getränke- oder Kaffeemünzautomaten bzw. zu einem vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Wasserspender zurücklegt nicht übertragen werden. Zwar endet der Versicherungsschutz auf dem Hinweg und auf dem Rückweg jeweils an der Außentür des Gebäudes der Kantine bzw. der Gaststätte oder des Lebensmittelgeschäfts oder des Einkaufszentrums endet bzw. wiederbeginnt er dort. Der Versicherungsschutz erstreckt sich somit nicht auf Unfälle auf Wegen in dem Gebäude, in dem zum Beispiel die Wohnung, die Gaststätte, das Einzelhandelsgeschäft oder das Einkaufszentrum liegt (vgl etwa BSG, Urteil vom 24. Juni 2003 – B 2 U 24/02 R). Hier hatte die Geschädigte das Gebäude des Arbeitgebers jedoch nicht verlassen. Das BSG hat ausdrücklich entschieden, dass die für Betriebswege aufgezeigte Grenzziehung durch die Außentür des Wohngebäudes nicht greift, wenn sich etwa sowohl die Wohnung des Versicherten als auch seine Arbeitsstätte im selben Haus befinden und wenn der Betriebsweg in Ausführung der versicherten Tätigkeit zurückgelegt wird (BSG, 31.8.2017, Az.: B 2 U 9/16 R). Außerdem hat das BSG zahlreiche Ausnahmen vom obigen Grundsatz erwogen, erwogen etwa im Fall eines sogenannten „Frühstücksholers“, der im Auftrag des Unternehmers das Frühstück einkauft und sich aufgrund dieses Auftrags auf einem Betriebsweg befindet). Ebenso, wenn die Nahrungsaufnahme selbst ausnahmsweise versichert ist, wenn besondere (betriebliche) Umstände den Versicherten veranlassen, dort seine Mahlzeit einzunehmen (BSG, Urteil vom 24. Juni 2003 – B 2 U 24/02 R).

Gleichsam wie in diesen Fällen war im vorliegenden Fall die entscheidende objektive Handlungstendenz zum Holen eines Kaffees durch die Notwendigkeit geprägt, persönlich im Beschäftigungsbetrieb anwesend zu sein und dort betriebliche Tätigkeiten zu verrichten.

 

Anmerkung: Liegt ein Arbeitsunfall demnach vor, kann sich der Arbeitgeber bzw. dessen Haftpflichtversicherer bei einem Regress des SVT auf die Haftungsprivilegien der §§ 104 ff. SGB VII berufen. Somit sind die im Urteil übersichtlich zusammengefassten Grundsätze zur Annahme eines Arbeitsunfalles auch für Haftungsfälle allgemein relevant.

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Hinterbliebenengeld & Schockschaden: Rechtsprechungsänderung, Bemessung, Parallelität

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

BGH, Urteile vom 6.12.2022, Az.: VI ZR 23/71 & VI ZR 168/21 (i.V.m. Urteil vom 8.2.2022 Az.: VI ZR 3/21)

 

Leitsätze

1. Bei sogenannten „Schockschäden‟ stellt – wie im Falle einer unmittelbaren Beeinträchtigung – eine psychische Störung von Krankheitswert eine Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB dar, auch wenn sie beim Geschädigten mittelbar durch die Verletzung eines Rechtsgutes bei einem Dritten verursacht wurde. Ist die psychische Beeinträchtigung pathologisch fassbar, hat sie also Krankheitswert, ist für die Bejahung einer Gesundheitsverletzung nicht erforderlich, dass die Störung über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgeht, denen Betroffene bei der Verletzung eines Rechtsgutes eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt sind (BGH, 6.12.2022, Az.: VI ZR 168/21).

2. Der in dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD genannte Betrag in Höhe von 10.000 € (BT-Drucks. 18/11397, S. 11) bietet eine Orientierungshilfe für die Bemessung der Hinterbliebenenentschädigung, von der im Einzelfall sowohl nach unten als auch nach oben abgewichen werden kann. Er stellt keine Obergrenze dar. Die Einführung eines Anspruchs auf Hinterbliebenengeld diente dem Zweck, den Hinterbliebenen für immaterielle Beeinträchtigungen unterhalb der Schwelle einer Gesundheitsverletzung einen Anspruch auf angemessene Entschädigung in Geld einzuräumen. Der dem Hinterbliebenen im Einzelfall zuerkannte Betrag muss deshalb im Regelfall hinter demjenigen zurückbleiben, der ihm zustände, wenn das von ihm erlittene seelische Leid die Qualität einer Gesundheitsverletzung hätte (BGH, 6.12.2022, Az.: VI ZR 73/21).

 

Entscheidung

Mit seinen Urteilen vom 6.12.2022 mit Az.: VI ZR 23/71 & VI ZR 168/21 nimmt der BGH relevante Klarstellungen zur Bemessung und Unterscheidung zwischen Schockschadenschmerzensgeld und Hinterbliebenengeld vor. Er ändert seine bisherige Rechtsprechung zu den Anforderungen an einen Schockschaden:

Mit Urteil vom 8.2.2022 (Az.: VI ZR 3/21) hatte der BGH bereits verdeutlicht, dass Ersatzansprüche wegen eines Schockschadens und ein Anspruch auf Hinterbliebenengeld nebeneinander bestehen können. Wenn sowohl die Voraussetzungen auf Ersatz eines Schockschadens als auch die Voraussetzungen nach § 844 Abs. 3 BGB vorliegen, geht der Anspruch auf Ersatz des Schockschadens dem Anspruch auf Hinterbliebenengeld allerdings vor bzw. letztgenannter in erstgenanntem auf (vgl. auch BT-Drs. 18/11397, S. 12). Beiden Instituten kann somit eine eigenständige Bedeutung zukommen, soweit die Voraussetzungen nur einer der beiden Anspruchsgrundlagen erfüllt sind. Die Möglichkeit divergierender Ergebnisse wird grundsätzlich akzeptiert, dürfte sich jedoch in Ansehung der im folgenden dargestellten Rechtsprechungsänderung praktisch kaum noch denken lassen:Eine psychische Beeinträchtigung konnte bisher nur dann als Schockschaden und somit als eine erforderliche und im Gegensatz dazu bei § 844 Abs. 3 BGB nicht notwendige Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB angesehen werden, wenn sie pathologisch fassbar war und über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausging, denen Betroffene beim Tod oder einer schweren Verletzung eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt werden. Übliche seelische Erschütterungen wie Trauer oder seelischer Schmerz, denen Betroffene beim Tod oder einer schweren Verletzung eines Angehörigen erfahrungsgemäß ausgesetzt sind, stellten daher selbst dann nicht ohne weiteres eine Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB dar, wenn sie von Störungen der physiologischen Abläufe begleitet wurden und für die körperliche Befindlichkeit medizinisch relevant waren (BGH, 21.5.2019 Az.: ZR 299/17). In diesen Fällen war nur der Weg zum Hinterbliebenengeldanspruch möglich.

Mit Urteil vom 6.12.2022 unter dem Az.: VI ZR 168/21 gibt der BGH diese Rechtsprechung bzw. Unterscheidung auf: Nunmehr ist eine psychische Störung schon dann eine Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB und damit Schockschaden, wenn sie bloß pathologisch fassbar ist und Krankheitswert hat. Nicht mehr erforderlich ist, dass die Störung zudem über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgehen muss, denen Betroffene bei der Verletzung eines Rechtsgutes eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt sind. Somit kann nun auch die übliche Trauerreaktion schmerzensgeldbegründend sein, wenn sie quasi eine Krankschreibung rechtfertigt. Ein nach diesen Prämissen bejahter Schockschaden umfasst dann in der Regel – bei persönlichem Näheverhältnis – immer auch einen Anspruch auf Hinterbliebenengeld. Eine vom BGH erkannten Ausuferung der Haftung, welche durch die ursprüngliche Unterscheidung vermieden werden sollte, könne stattdessen über die Merkmale der Kausalität und insbesondere des Zurechnungszusammenhanges begegnet werden.

Anmerkung: Ob dies tatsächlich zu der vom BGH postulierten dogmatischen Klarheit und Vermeidung von Wertungswidersprüchen führt, darf bezweifelt werden. Die Rechtsprechungsänderung ist doch wohl eher geschädigten- als praxis- und regulierungsfreundlich. Denn nun wird man regelmäßig etwa die Diskussion führen müssen, ob unter dem Gesichtspunkt des Zurechnungszusammenhanges eine diesen ausschließende Überreaktion oder ein krasses Missverhältnis gegeben ist. Hinterbliebenengeld und Schockschaden werden praktisch gleichgeschaltet, auch wenn der BGH in allen Urteilen herausstellt, dass es grundsätzlich verschiedene Rechtsinstitute seien.

Unter dem Az.: VI ZR 73/21 macht der BGH parallel Ausführung zur Höhe des Hinterbliebenengeldes. Zwar seien beide Ansprüche weiterhin zu unterscheiden, jedoch akzeptiert er die im Gesetzentwurf zum Schockschaden genannte Betrag in Höhe von 10.000 € (BT-Drucks. 18/11397, S. 11) auch als Orientierungshilfe für die Bemessung der Hinterbliebenenentschädigung, von der im Einzelfall sowohl nach unten als auch nach oben abgewichen werden könne. 10.000 € sind somit zukünftig der höchstrichterlich anerkannte Richtwert, der weder Unter- noch Obergrenze sein muss – je nach den Umständen des Einzelfalles. Ist nur ein Anspruch auf Hinterbliebenengeld, jedoch nicht gleichzeitig wegen eines Schockschadens gegeben, etwa dann, wenn nicht mehr als eine übliche Trauerreaktion vorliegt, die noch keinen eigenständigen Krankheitswert hat, müsse der dem Hinterbliebenen im Einzelfall zuerkannte Betrag im Regelfall hinter demjenigen zurückbleiben, der ihm zustände, wenn das von ihm erlittene seelische Leid die Qualität einer Gesundheitsverletzung hätte. Die Einführung eines Anspruchs auf Hinterbliebenengeld diene schließlich dem Zweck, den Hinterbliebenen für immaterielle Beeinträchtigungen unterhalb der Schwelle einer Gesundheitsverletzung einen Anspruch auf angemessene Entschädigung in Geld einzuräumen.

Anmerkung: Da nunmehr jedoch die übliche Trauer für einen Schockschaden genügt, sofern ihr Krankheitswert zugesprochen wird, was von Seiten der Ärzte regelmäßig der fall sein dürfte, wird das vom BGH anerkannte „Weniger“ an Entschädigung beim Hinterbliebenengeld praktisch kaum eine Rolle spielen – in der Regel dürfte bereits ein Schockschaden vorliegen, nach dessen Höhe sich der (Gesamt-)Anspruch richtet – s. oben.

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