Teilungsabkommen: Auslegungsgrundsätze zur Frage der Kausalität

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

OLG Bamberg, Urteil vom 21.3.2023, Az.: 5 U 54/22

 

Sachverhalt

Die Klägerin, eine gesetzliche Krankenkasse, verlangt – gestützt auf ein zwischen ihr und der Beklagten abgeschlossene Rahmen-Teilungsabkommen (TA) von der Beklagten zu 1), einem Kfz-Haftpflichtversicherer, 55 % der Aufwendungen, die ihr aus Anlass eines Unfalls der bei ihr Versicherten entstanden sind sowie Feststellung der Ersatzpflicht für weitere Aufwendungen in Höhe von 55 %. Zu dem Verkehrsunfall kam es, weil der Fahrer des bei der Beklagten haftpflichtversicherten Fahrzeugs auf das verkehrsbedingt anhaltende Fahrzeug, das von der Versicherten geführt wurde, auffuhr. Die maßgeblichen Regelungen des Teilungsabkommens lauten:

§ 1a
(1) Erhebt eine diesem Abkommen beigetretene Betriebskrankenkasse („K“) Schadensersatzansprüche nach § 116 SGB X gegen Kraftfahrzeughalter und -führer, die aus dem Schadenfall bei der „H“ Versicherungsschutz genießen, so erstattet die „H“ der „K“ ohne Prüfung der Haftungsfrage namens der haftpflichtversicherten Personen im Rahmen des bestehenden Haftpflichtversicherungsvertrages und nach Maßgabe der nachstehenden Bestimmungen 55 % ihrer anlässlich des Schadensfalls aufgrund Gesetzes erwachsenen Aufwendungen.
(2) Eigenes Verschulden des Geschädigten oder das Vorliegen eines unabwendbaren Ereignisses (§ 7 Abs. 2 StVG) schließt die Erstattungspflicht der „H“ nicht aus.
(3) Voraussetzung für die abkommensgemäße Beteiligung ist jedoch das Bestehen eines adäquaten Kausalzusammenhangs zwischen dem Gebrauch des Kraftfahrzeuges und dem Eintritt des Schadenfalles.

§ 2
Die Aufwendungen der „K‟ unterliegen der Erstattung nach §§ 1a und 1b nur insoweit und solange, als sie sich mit dem sachlich und zeitlich kongruenten Schaden des Verletzten decken (Übergang nach § 116 SGB X).

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass nach dem Teilungsabkommen die Klägerin den erforderlichen Kausalzusammenhang zwischen der diagnostizierten Verletzung und dem Unfall zu beweisen habe (haftungsausfüllende Kausalität).

 

Entscheidung

Die Berufung der Klägerin hatte nach Ansicht des OLG Erfolg: Entgegen der Ansicht des Landgerichts ist das TA nicht dahingehend auszulegen, dass der Eintritt des adäquat kausalen Schadensfalls den Nachweis einer unfallbedingten Verletzung der Versicherten erfordert. Das TA ist dahingehend auszulegen, dass ein Verzicht auf die Prüfung der Haftungsfrage vereinbart wurde, von dem auch der Nachweis des Ursachenzusammenhangs zwischen Unfallereignis und Verletzung umfasst ist.

Im Streitfall ist nach § 1a Abs. 3 TA Voraussetzung für die Anwendung des Teilungsabkommens der adäquate Kausalzusammenhang zwischen „dem Schadenfall und dem Gebrauch eines Kraftfahrzeugs‟.. Der in § 1a Abs. 3 TA genannte Zusammenhang ist gegeben. Das bei der Beklagten zu 1) versicherte Fahrzeug fuhr auf das verkehrsbedingt stehen gebliebene Fahrzeug der Versicherten auf. Ein solcher Verkehrsvorgang liegt auch nicht außerhalb der allgemeinen Verkehrserfahrung, sondern ist typisch. Die Parteien haben mit dieser Regelung und der Begrenzung auf adäquat kausale Schadenfälle offensichtlich die „Groteskfälle“ von der Erstattungspflicht ausgenommen. Dabei handelt es sich um Fälle, die schon aufgrund des unstreitigen Sachverhalts unzweifelhaft und offensichtlich eine Schadensersatzpflicht des Versicherungsnehmers nicht hervorrufen können und daher gemäß § 242 BGB von der Erstattungspflicht ausgenommen sind (BGH NJW 1956, 1237).

Zu Regelungen im Sinne des § 1a Abs. 2 TA – unabwendbares Ereignis – hat der BGH mit Urteil vom 23.09.1963, Az.: II ZR 118/60 bereits entschieden, dass durch den im Teilungsabkommen vereinbarten Verzicht auf die Prüfung der Haftungsfrage nach dem Willen der Vertragsschließenden auch ein auf § 7 Abs. 2 StVG wegen eines unabwendbaren Ereignisses gestützter Einwand des Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherers ausgeschlossen sein soll

Die Regelung in § 2 TA beinhaltet ebenfalls keine Einschränkung des Verzichts auf die Prüfung der Haftungsfrage bzw. einer Kausalität im obigen Sinne. Denn danach unterliegen die Aufwendungen der Klägerin der Erstattung nach §§ 1a und 1b nur insoweit und so lange, als sie sich mit dem sachlich und zeitlich kongruenten Schaden des Verletzten decken (Übergang nach §§ 116 SGB X). Dies ist so zu verstehen, dass damit der Einwand der mangelnden zivilrechtlichen Übergangsfähigkeit behandelt wird. Dies betrifft weder die Haftungsfrage noch die Deckungsfrage, sondern die Frage, ob der Sozialversicherungsträger gemäß § 116 SGB X zur Geltendmachung des Anspruchs des Geschädigten berechtigt ist.

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Arbeitsunfall als Voraussetzung der §§ 104 ff. SGB VII: Kaffeeholen im Betrieb

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 7.2.2023, Az.: L 3 U 202/21

 

Leitsätze

1. Das Zurücklegen des Weges zum Holen eines Kaffees im Betriebsgebäude des Arbeitgebers steht im inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit.

2. Ein grundsätzlich versicherter Weg in der Sphäre des Arbeitgebers wird nicht durch die Tür des Raumes begrenzt, in dem der Getränkeautomat steht.

 

Sachverhalt

Die Klägerin ist als Verwaltungsangestellte beschäftigt und im Finanzamt D. tätig. Auf dem Weg zum Kaffeeholen im Sozialraum des Finanzamtes während ihrer Arbeit rutschte sie wegen nasser Bodenoberfläche aus und zog sich unter anderem einen Bruch des dritten Lendenwirbelkörpers zu. Sie klagt auf Anerkennung des Unfalls als Arbeitsunfalls, was ihr Arbeitgeber ihr verweigert hat.

 

Entscheidung

Das LSG führt aus: Zu unterscheiden ist zwischen Unfällen auf dem Wege zur Nahrungseinnahme und Unfällen, die sich bei der Nahrungsaufnahme selbst ereignen. Die Nahrungsaufnahme selbst ist grundsätzlich nicht in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert (stRsp, vgl. BSG, Urteil vom 31. März 2022 – B 2 U 5/20 R). Die Nahrungsaufnahme ist vielmehr dem privaten, unversicherten Lebensbereich zuzurechnen. Anders verhält es sich mit dem Weg, der im Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme bzw. mit dem Besorgen der Nahrung zurückgelegt werden muss. Das Zurücklegen eines Weges durch einen Beschäftigten mit der Handlungstendenz, sich an einem vom Ort der Tätigkeit verschiedenen Ort Nahrungsmittel zu besorgen oder einzunehmen, ist grundsätzlich versichert (vgl. BSG, Urteil vom 5. Juli 2016 – B 2 U 5/15 R) und zwar unabhängig davon, ob der Weg auf dem Betriebsgelände zurückgelegt wird oder den Versicherten von diesem herunter durch den öffentlichen Verkehrsraum (etwa zu einer Gaststätte, der eigenen Wohnung oder zu einem Kiosk/Lebensmittelgeschäft) führt. Zum einen dient die beabsichtigte Nahrungsaufnahme während der Arbeitszeit im Gegensatz zur bloßen Vorbereitungshandlung vor der Arbeit der Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit und damit der Fortsetzung der betrieblichen Tätigkeit. Zum anderen handelt es sich um einen Weg, der in seinem Ausgangs- und Zielpunkt durch die Notwendigkeit geprägt ist, persönlich im Beschäftigungsbetrieb anwesend zu sein und dort betriebliche Tätigkeiten zu verrichten.

Insbesondere die Rechtsprechung des BSG zur Außentür eines Gebäudes als Grenze des Versicherungsschutzes für versicherte Wege könne in Fallkonstellationen, in denen ein Versicherter innerhalb des Betriebsgebäudes einen Weg zu einem Lebensmittel- / Getränke- oder Kaffeemünzautomaten bzw. zu einem vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Wasserspender zurücklegt nicht übertragen werden. Zwar endet der Versicherungsschutz auf dem Hinweg und auf dem Rückweg jeweils an der Außentür des Gebäudes der Kantine bzw. der Gaststätte oder des Lebensmittelgeschäfts oder des Einkaufszentrums endet bzw. wiederbeginnt er dort. Der Versicherungsschutz erstreckt sich somit nicht auf Unfälle auf Wegen in dem Gebäude, in dem zum Beispiel die Wohnung, die Gaststätte, das Einzelhandelsgeschäft oder das Einkaufszentrum liegt (vgl etwa BSG, Urteil vom 24. Juni 2003 – B 2 U 24/02 R). Hier hatte die Geschädigte das Gebäude des Arbeitgebers jedoch nicht verlassen. Das BSG hat ausdrücklich entschieden, dass die für Betriebswege aufgezeigte Grenzziehung durch die Außentür des Wohngebäudes nicht greift, wenn sich etwa sowohl die Wohnung des Versicherten als auch seine Arbeitsstätte im selben Haus befinden und wenn der Betriebsweg in Ausführung der versicherten Tätigkeit zurückgelegt wird (BSG, 31.8.2017, Az.: B 2 U 9/16 R). Außerdem hat das BSG zahlreiche Ausnahmen vom obigen Grundsatz erwogen, erwogen etwa im Fall eines sogenannten „Frühstücksholers“, der im Auftrag des Unternehmers das Frühstück einkauft und sich aufgrund dieses Auftrags auf einem Betriebsweg befindet). Ebenso, wenn die Nahrungsaufnahme selbst ausnahmsweise versichert ist, wenn besondere (betriebliche) Umstände den Versicherten veranlassen, dort seine Mahlzeit einzunehmen (BSG, Urteil vom 24. Juni 2003 – B 2 U 24/02 R).

Gleichsam wie in diesen Fällen war im vorliegenden Fall die entscheidende objektive Handlungstendenz zum Holen eines Kaffees durch die Notwendigkeit geprägt, persönlich im Beschäftigungsbetrieb anwesend zu sein und dort betriebliche Tätigkeiten zu verrichten.

 

Anmerkung: Liegt ein Arbeitsunfall demnach vor, kann sich der Arbeitgeber bzw. dessen Haftpflichtversicherer bei einem Regress des SVT auf die Haftungsprivilegien der §§ 104 ff. SGB VII berufen. Somit sind die im Urteil übersichtlich zusammengefassten Grundsätze zur Annahme eines Arbeitsunfalles auch für Haftungsfälle allgemein relevant.

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Hinterbliebenengeld & Schockschaden: Rechtsprechungsänderung, Bemessung, Parallelität

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

BGH, Urteile vom 6.12.2022, Az.: VI ZR 23/71 & VI ZR 168/21 (i.V.m. Urteil vom 8.2.2022 Az.: VI ZR 3/21)

 

Leitsätze

1. Bei sogenannten „Schockschäden‟ stellt – wie im Falle einer unmittelbaren Beeinträchtigung – eine psychische Störung von Krankheitswert eine Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB dar, auch wenn sie beim Geschädigten mittelbar durch die Verletzung eines Rechtsgutes bei einem Dritten verursacht wurde. Ist die psychische Beeinträchtigung pathologisch fassbar, hat sie also Krankheitswert, ist für die Bejahung einer Gesundheitsverletzung nicht erforderlich, dass die Störung über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgeht, denen Betroffene bei der Verletzung eines Rechtsgutes eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt sind (BGH, 6.12.2022, Az.: VI ZR 168/21).

2. Der in dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD genannte Betrag in Höhe von 10.000 € (BT-Drucks. 18/11397, S. 11) bietet eine Orientierungshilfe für die Bemessung der Hinterbliebenenentschädigung, von der im Einzelfall sowohl nach unten als auch nach oben abgewichen werden kann. Er stellt keine Obergrenze dar. Die Einführung eines Anspruchs auf Hinterbliebenengeld diente dem Zweck, den Hinterbliebenen für immaterielle Beeinträchtigungen unterhalb der Schwelle einer Gesundheitsverletzung einen Anspruch auf angemessene Entschädigung in Geld einzuräumen. Der dem Hinterbliebenen im Einzelfall zuerkannte Betrag muss deshalb im Regelfall hinter demjenigen zurückbleiben, der ihm zustände, wenn das von ihm erlittene seelische Leid die Qualität einer Gesundheitsverletzung hätte (BGH, 6.12.2022, Az.: VI ZR 73/21).

 

Entscheidung

Mit seinen Urteilen vom 6.12.2022 mit Az.: VI ZR 23/71 & VI ZR 168/21 nimmt der BGH relevante Klarstellungen zur Bemessung und Unterscheidung zwischen Schockschadenschmerzensgeld und Hinterbliebenengeld vor. Er ändert seine bisherige Rechtsprechung zu den Anforderungen an einen Schockschaden:

Mit Urteil vom 8.2.2022 (Az.: VI ZR 3/21) hatte der BGH bereits verdeutlicht, dass Ersatzansprüche wegen eines Schockschadens und ein Anspruch auf Hinterbliebenengeld nebeneinander bestehen können. Wenn sowohl die Voraussetzungen auf Ersatz eines Schockschadens als auch die Voraussetzungen nach § 844 Abs. 3 BGB vorliegen, geht der Anspruch auf Ersatz des Schockschadens dem Anspruch auf Hinterbliebenengeld allerdings vor bzw. letztgenannter in erstgenanntem auf (vgl. auch BT-Drs. 18/11397, S. 12). Beiden Instituten kann somit eine eigenständige Bedeutung zukommen, soweit die Voraussetzungen nur einer der beiden Anspruchsgrundlagen erfüllt sind. Die Möglichkeit divergierender Ergebnisse wird grundsätzlich akzeptiert, dürfte sich jedoch in Ansehung der im folgenden dargestellten Rechtsprechungsänderung praktisch kaum noch denken lassen:Eine psychische Beeinträchtigung konnte bisher nur dann als Schockschaden und somit als eine erforderliche und im Gegensatz dazu bei § 844 Abs. 3 BGB nicht notwendige Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB angesehen werden, wenn sie pathologisch fassbar war und über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausging, denen Betroffene beim Tod oder einer schweren Verletzung eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt werden. Übliche seelische Erschütterungen wie Trauer oder seelischer Schmerz, denen Betroffene beim Tod oder einer schweren Verletzung eines Angehörigen erfahrungsgemäß ausgesetzt sind, stellten daher selbst dann nicht ohne weiteres eine Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB dar, wenn sie von Störungen der physiologischen Abläufe begleitet wurden und für die körperliche Befindlichkeit medizinisch relevant waren (BGH, 21.5.2019 Az.: ZR 299/17). In diesen Fällen war nur der Weg zum Hinterbliebenengeldanspruch möglich.

Mit Urteil vom 6.12.2022 unter dem Az.: VI ZR 168/21 gibt der BGH diese Rechtsprechung bzw. Unterscheidung auf: Nunmehr ist eine psychische Störung schon dann eine Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB und damit Schockschaden, wenn sie bloß pathologisch fassbar ist und Krankheitswert hat. Nicht mehr erforderlich ist, dass die Störung zudem über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgehen muss, denen Betroffene bei der Verletzung eines Rechtsgutes eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt sind. Somit kann nun auch die übliche Trauerreaktion schmerzensgeldbegründend sein, wenn sie quasi eine Krankschreibung rechtfertigt. Ein nach diesen Prämissen bejahter Schockschaden umfasst dann in der Regel – bei persönlichem Näheverhältnis – immer auch einen Anspruch auf Hinterbliebenengeld. Eine vom BGH erkannten Ausuferung der Haftung, welche durch die ursprüngliche Unterscheidung vermieden werden sollte, könne stattdessen über die Merkmale der Kausalität und insbesondere des Zurechnungszusammenhanges begegnet werden.

Anmerkung: Ob dies tatsächlich zu der vom BGH postulierten dogmatischen Klarheit und Vermeidung von Wertungswidersprüchen führt, darf bezweifelt werden. Die Rechtsprechungsänderung ist doch wohl eher geschädigten- als praxis- und regulierungsfreundlich. Denn nun wird man regelmäßig etwa die Diskussion führen müssen, ob unter dem Gesichtspunkt des Zurechnungszusammenhanges eine diesen ausschließende Überreaktion oder ein krasses Missverhältnis gegeben ist. Hinterbliebenengeld und Schockschaden werden praktisch gleichgeschaltet, auch wenn der BGH in allen Urteilen herausstellt, dass es grundsätzlich verschiedene Rechtsinstitute seien.

Unter dem Az.: VI ZR 73/21 macht der BGH parallel Ausführung zur Höhe des Hinterbliebenengeldes. Zwar seien beide Ansprüche weiterhin zu unterscheiden, jedoch akzeptiert er die im Gesetzentwurf zum Schockschaden genannte Betrag in Höhe von 10.000 € (BT-Drucks. 18/11397, S. 11) auch als Orientierungshilfe für die Bemessung der Hinterbliebenenentschädigung, von der im Einzelfall sowohl nach unten als auch nach oben abgewichen werden könne. 10.000 € sind somit zukünftig der höchstrichterlich anerkannte Richtwert, der weder Unter- noch Obergrenze sein muss – je nach den Umständen des Einzelfalles. Ist nur ein Anspruch auf Hinterbliebenengeld, jedoch nicht gleichzeitig wegen eines Schockschadens gegeben, etwa dann, wenn nicht mehr als eine übliche Trauerreaktion vorliegt, die noch keinen eigenständigen Krankheitswert hat, müsse der dem Hinterbliebenen im Einzelfall zuerkannte Betrag im Regelfall hinter demjenigen zurückbleiben, der ihm zustände, wenn das von ihm erlittene seelische Leid die Qualität einer Gesundheitsverletzung hätte. Die Einführung eines Anspruchs auf Hinterbliebenengeld diene schließlich dem Zweck, den Hinterbliebenen für immaterielle Beeinträchtigungen unterhalb der Schwelle einer Gesundheitsverletzung einen Anspruch auf angemessene Entschädigung in Geld einzuräumen.

Anmerkung: Da nunmehr jedoch die übliche Trauer für einen Schockschaden genügt, sofern ihr Krankheitswert zugesprochen wird, was von Seiten der Ärzte regelmäßig der fall sein dürfte, wird das vom BGH anerkannte „Weniger“ an Entschädigung beim Hinterbliebenengeld praktisch kaum eine Rolle spielen – in der Regel dürfte bereits ein Schockschaden vorliegen, nach dessen Höhe sich der (Gesamt-)Anspruch richtet – s. oben.

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Nachweis grob fahrlässiger Unkenntnis beim SVT

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

BGH, Urteil vom 18. Oktober 2022, Az.: ZR 1177/20

 

Leitsätze

1. Hinsichtlich des Zeitpunkts des Anspruchsübergangs nach § 116 SGB X ist zu differenzieren. (Rn.15) Maßgeblich für die Differenzierung ist der Grund der Leistungserbringung und nicht der Träger der Leistung. Bei Sozialleistungen, die aufgrund eines Sozialversicherungsverhältnisses zu erbringen sind, findet der in § 116 Abs. 1 SGB X normierte Anspruchsübergang in aller Regel bereits im Zeitpunkt des schadenstiftenden Ereignisses statt, sofern das Versicherungsverhältnis schon zu diesem Zeitpunkt besteht. Bei Sozialleistungen, deren Gewährung nicht an das Bestehen eines Sozialversicherungsverhältnisses, sondern an andere Voraussetzungen gebunden ist, ist für den Rechtsübergang erforderlich, dass nach den konkreten Umständen des jeweiligen Einzelfalls eine Leistungspflicht ernsthaft in Betracht zu ziehen ist

2. Zur grob fahrlässigen Unkenntnis von Bediensteten der Regressabteilung (§ 199 Abs. 1 Nr. 2 Fall 1 BGB).

 

Entscheidung

Mit der Revision wird das Urteil des OLG Karlsruhe vom 24. Juli 2020 – 1 U 186/18 – aufgehoben, mit dem eine Anspruchsverjährung beim SVT bzw. der BfA wegen grob fahrlässiger Unkenntnis angenommen wurde. Das OLG hatte insbesondere ausgeführt, dass die behördeninternen Handlungs- und Regressanweisungen nicht hinreichend klar und ausreichend gewesen seien. Dem widerspricht nun der BGH:

Zunächst wiederholt der BGH seine mit Urteil vom 17. April 2012 – VI ZR 108/11 – aufgestellten Grundsätze: Der Regressabteilung ist die Durchsetzung der nach den §§ 116, 119 SGB X übergegangenen Schadensersatzansprüche übertragen. Sie hat diese Ansprüche im Anschluss an die Leistungen, die der Träger der Sozialversicherung dem geschädigten Versicherten gewährt hat, zügig zu verfolgen. Behördenintern hat sie in geeigneter Weise sicherzustellen, dass sie frühzeitig von Schadensfällen Kenntnis erlangt, die einen Regress begründen können. Die Verletzung dieser Obliegenheiten kann als grob fahrlässig zu bewerten sein, wenn ein Mitarbeiter der Regressabteilung aus ihm zugeleiteten Unterlagen in einer anderen Angelegenheit ohne weiteres hätte erkennen können, dass die Möglichkeit eines Regresses in einem weiteren Schadensfall in Betracht kommt, und er die Frage des Rückgriffes auf sich beruhen lässt, ohne die gebotene Klärung der für den Rückgriff erforderlichen Umstände zu veranlassen. Gleiches gilt, wenn die Mitarbeiter der Regressabteilung erkennen mussten, dass Organisationsanweisungen notwendig sind oder vorhandene Organisationsanweisungen von den Mitarbeitern der Leistungsabteilung nicht beachtet wurden und es deswegen zu verzögerten Zuleitungen von Vorgängen kam (Fortführung BGH, Urteil vom 17. April 2012 – VI ZR 108/11).

Dann schränkt er jedoch ein: Auch in diesen Fallgestaltungen sei jedoch zu berücksichtigen, dass die (bloße) nachlässige Handhabung der vorbeschriebenen Obliegenheiten zur Begründung grober Fahrlässigkeit nicht genügten. Die Annahme grober Fahrlässigkeit erfordere die Feststellung eines schweren Obliegenheitsverstoßes; der Gläubiger müsse die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich grobem Maße verletzt haben. Nicht zu beanstanden sei zwar, dass das Berufungsgericht den SVT hinsichtlich der Erfüllung der vorbeschriebenen Obliegenheiten als sekundär darlegungsbelastet angesehen habe. Allerdings dürften die Anforderungen an die Substantiierung des Vortrags eines SVT zu den internen Abläufen in Zusammenhang mit der Durchsetzung von Regressansprüchen, insbesondere zu der Frage, welche Maßnahmen die Regressabteilung ergriffen hat, um sicherzustellen, dass sie frühzeitig von regressbegründenden Schadensfällen Kenntnis erlangt, nicht überspannt werden.

Im vorliegenden Fall genügte es dem BGH, dass der SVT die im Zuständigkeitsbereich der Bundesagentur für Arbeit ergriffenen Maßnahmen zur Organisation der Durchsetzung von Regressansprüchen dargelegt und die diesbezüglichen Dienstanweisungen, insbesondere den für den maßgeblichen Zeitraum relevanten „RD-Rundbrief“ vorgelegt hatte. Dort seien auf sechs Seiten konkrete Bestimmungen zum Erkennen von Regressfällen und zur Durchführung des Regressverfahrens enthalten. Unter der Überschrift „Allgemeines‟ werde die Bestimmung in § 116 SGB X erläutert und darauf hingewiesen, dass Schadensereignisse, die eine Haftung auslösen, bspw. Verkehrsunfälle sein könnten. Deshalb seien alle Fälle vorzulegen, in denen der Verdacht von Schadensersatzansprüchen der Bundesagentur für Arbeit bestehe. Unter der Überschrift „Erkennen von Regressfällen‟ werde erläutert, dass sich Hinweise auf mögliche Schadensersatzansprüche aus den Antragsunterlagen ergäben. Der Antrag auf Leistungen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben enthalte die konkrete Frage nach einem Unfallereignis. In der Folge würden das Regressverfahren bei der Gewährung von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe einerseits und die Einleitung des Regressverfahrens bei Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben (Reha-Regressverfahren) dargestellt. In beiden Fällen werde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der „Regressstelle bei der RD‟ bzw. dem „Fachgebiet Regress bei der RD‟ die regressrelevanten Unterlagen vorzulegen seien. Diese würden dann im Einzelnen bezeichnet. Während beim Regressverfahren in Bezug auf Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe bereits die erstmalige Anspruchsanmeldung durch das „Fachgebiet Regress‟ erfolgen solle, soll beim Regress aufgrund von Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben die erstmalige „Geltendmachung‟ noch durch die Agentur für Arbeit erfolgen. Hiermit sei ersichtlich die drei Zeilen weiter unten genannte Anzeige des Forderungsübergangs gegenüber dem Schädiger gemeint, die im Anschluss mit den anderen regressrelevanten Unterlagen dem „Fachgebiet Regress bei der RD‟ vorzulegen seien. Auf den Seiten 4 bis 6 befänden sich weitere sämtliche Regressverfahren betreffende Anweisungen. Es werde mehrfach darauf hingewiesen, dass die örtlich zuständigen Arbeitsagenturen zu prüfen hätten, ob ein Regressfall vorliegen könnte, und die erhobenen Unterlagen an die Regionaldirektion weiterzuleiten haben.

Soweit das OLG Karlsruhe gemeint habe, den Anweisungen zur Durchführung des Regresses fehle jedenfalls die notwendige Klarheit, habe es übersehen, dass die bloße nachlässige Handhabung von Obliegenheiten zur Begründung grober Fahrlässigkeit nicht genüge. Aufgrund der Ausgestaltung der Handlungsanweisungen etc. mussten die Mitarbeiter der Regressabteilung nicht mit Missverständnissen seitens der für Leistungsbewilligung zuständigen Mitarbeiter rechnen. Es sei jedenfalls weder festgestellt noch sonst ersichtlich, warum sich den Mitarbeitern der Regressabteilung ein entsprechendes Fehlverständnis seitens der Leistungsabteilung in grobe Fahrlässigkeit begründender Weise hätte aufdrängen müssen.

 

Anmerkung:

Der BGH „kassiert“ somit die durchaus beachtliche Entscheidung des OLG Karlsruhe, mit welcher zu Lasten der SVT argumentiert werden konnte, die verwendeten Organisation- und Handlungsanweisungen seien unzureichend. Zwar stellt der BGH an die Anforderung der Organisation- und Handlungsanweisungen keine strengen Anforderungen. Er bestätigt aber und trotz der für den SVT (die BfA) günstigen Entscheidung, dass bei der Bewertung grob fahrlässiger Unkenntnis die Qualität der Organisation- und Handlungsanweisungen zu bewerten sei. Sofern die Organisations- und Handlungsanweisungen unterhalb des im Urteil dargestellten Standards liegen, ist somit durchaus an grob fahrlässige Unkenntnis zu denken. Auch eine nachlässige Handhabung im Einzelfall ausreichender Organisation- und Handlungsanweisungen wird vom BGH wohl als Anknüpfung für grob fahrlässige Unkenntnis akzeptiert. Allerdings muss dann sowohl die Handhabe grob nachlässig gewesen und nachgewiesen sein (1), als auch hätte sie den Mitarbeitern der Regressabteilung genauso wie etwa ein eklatantes Fehlverständnis der Organisation- und Handlungsanweisungen in der Leistungsabteilung in grobe Fahrlässiger Weise auffallen müssen (2).

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Behauptete Schmerzen und Übelkeit als zum Schadensersatz berechtigende Körperverletzung?

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

BGH, Urteil vom 26.07.2022, Az.: VI ZR 58/21

Leitsätze

1. Der Begriff der Primärverletzung bezeichnet die für die Erfüllung der Haftungstatbestände des § 823 Abs. 1 BGB und des § 7 Abs. 1 StVG erforderliche Rechtsgutsverletzung. Er enthält kein kausalitätsbezogenes Element.

2. Von den Primärverletzungen sind Sekundärverletzungen abzugrenzen. Bei ihnen handelt es sich um die auf eine haftungsbegründende Rechtsgutsverletzung zurückzuführenden haftungsausfüllenden Folgeschäden. Sie setzen schon begrifflich voraus, dass der Haftungsgrund feststeht.

3. Vom Geschädigten können daher Beeinträchtigungen seiner körperlichen Befindlichkeit nur dann als Sekundärverletzungen qualifiziert werden, wenn eine durch das Handeln des Schädigers verursachte Primärverletzung unstreitig oder festgestellt und nach medizinischen Erkenntnissen grundsätzlich geeignet ist, die weitere behauptete Beeinträchtigung der körperlichen Befindlichkeit herbeizuführen. Fehlt es an einer haftungsbegründenden Primärverletzung oder steht diese in keinem erkennbaren medizinischen Zusammenhang zu der weiteren gesundheitlichen Beeinträchtigung, ist letztere (also die behauptet Sekundärverletzung) als – ggf. zweite bzw. weitere – Primärverletzung anzusehen.

Sachverhalt

Die Klägerin nimmt den Beklagten auf Zahlung von Schmerzensgeld aufgrund eines Verkehrsunfalls in Anspruch. Der Beklagte sei ihr von hinten auf das wegen eines Rückstaus an einer Kreuzung stehende Fahrzeug, in dem diese als Fahrerin saß, aufgefahren. Durch den Anstoß wurden unter anderem der Stoßfänger am PKW der Klägerin hinten durchstoßen und die Schalldämpferanlage aus der Halterung gerissen. Die Airbags im Fahrzeug der Klägerin öffneten sich nicht. Bis zu diesem Tag war die Klägerin noch nicht bei einem Unfall verletzt worden. Eine Freundin von ihr war indes bei einem Verkehrsunfall verstorben. Darüber hinaus war die Klägerin Ersthelferin bei einem Verkehrsunfall gewesen, bei dem zwei Menschen verstorben. Die Klägerin behauptet, sie sei bei dem Unfall körperlich verletzt worden. Unmittelbar nach dem Unfall habe sie unter Kopfschmerzen gelitten. Später am Abend sei ihr übel geworden und sie habe sich übergeben. Sie habe sich daraufhin in das Evangelische Krankenhaus B. begeben, wo sie geröntgt worden sei. Im Anschluss sei eine HWS-Distorsion 2. Grades diagnostiziert worden.

Entscheidung

Nach Auffassung des Berufungsgerichts stand der Klägerin ein Schadensersatzanspruch gegen den Beklagten nicht zu. Zwar stand zur Überzeugung der Kammer fest, dass bei der Klägerin nach dem Unfall Beschwerden und sichtbare Befunde vorgelegen hätten, die die Diagnose einer HWS-Distorsion 2. Grades rechtfertigten, und die Klägerin unter Kopf- und Nackenschmerzen gelitten habe. Die Kammer hatte aber Zweifel daran, dass die die Diagnose einer HWS-Distorsion rechtfertigenden sichtbaren Befunde bei der Klägerin eine Primärverletzung, verursacht durch einen Verkehrsunfall mit einer allein bewiesenen kollisionsbedingten Geschwindigkeitsveränderung von 4 km/h und einer kollisionsbedingten mittleren Beschleunigung von etwa 11 m/s² darstellten. Auch eine andere unfallbedingte Primärverletzung der Klägerin konnte die Kammer nicht feststellen. Die Auffassung des Bundesgerichtshofs im Urteil vom 23. Juni 2020 (VI ZR 435/19), wonach auch starke Kopf- und Nackenschmerzen als unfallbedingte Körperverletzungen zu bewerten seien, halte die Kammer nicht für überzeugend. Abgesehen davon seien die Kopf- und Nackenschmerzen der Klägerin zwar im Sinne einer conditio-sine-qua-non nachvollziehbar auf den Unfall zurückzuführen, könnten jedoch wertungsmäßig nicht mehr dem Unfall, sondern nur dem allgemeinen Lebensrisiko zugerechnet werden. Wichtig ist zu, dass die somit grds. vom OLG bejahte adäquate Kausalität des Unfalls für die behaupteten Schmerzen etc. von der Revision nicht angegriffen wurde.

Dem widerspricht nun der BGH: Zum einen habe das Berufungsgericht den Bedeutungsgehalt des Begriffs der Primärverletzung verkannt. Der Begriff der Primärverletzung – der Rechtsgutsverletzung – beinhalte zunächst kein kausalitätsbezogenes Element – er nehme insbesondere nicht die weitere Anspruchsvoraussetzung der haftungsbegründenden Kausalität in sich auf. Ob das Handeln des Schädigers die festgestellte Rechtsgutsverletzung verursacht habe, sei erst in einem weiteren Schritt – ebenfalls nach dem strengen Beweismaß des § 286 ZPO – zu prüfen. Somit können auch Nacken- und Kopfschmerzen eine Körperverletzung im Sinne dieser Bestimmungen und damit eine Primärverletzung begründen (unabhängig von der Kausalitätsfrage). Da eine Schadensersatzpflicht nur besteht, wenn die geltend gemachte Rechtsgutsverletzung nach Art und Entstehungsweise unter den Schutzzweck der verletzten Norm fällt, muss die Rechtsgutsverletzung in einem inneren Zusammenhang mit der durch den Schädiger geschaffenen Gefahrenlage stehen; ein rein äußerlicher, gewissermaßen zufälliger Zusammenhang genügt nicht. An dem erforderlichen Schutzzweckzusammenhang fehlt es in der Regel, wenn sich eine Gefahr realisiert hat, die dem allgemeinen Lebensrisiko und damit dem Risikobereich des Geschädigten zuzurechnen ist. Der Schädiger kann nicht für solche Verletzungen oder Schäden haftbar gemacht werden, die der Betroffene in seinem Leben auch sonst üblicherweise zu gewärtigen hat. Insoweit ist eine wertende Betrachtung geboten. Das Berufungsgericht habe aber übersehen, dass der Schädiger grundsätzlich auch für psychische Auswirkungen einer Verletzungshandlung haftungsrechtlich einzustehen habe, was anschließend vom BGH im Fall der Klägerin bejaht wird.

Anmerkung.

Die Problematik der Entscheidung liegt darin, dass der Eindruck entstehen könnte, behauptete (subjektive) Schmerzen und Übelkeit genügen für einen Schmerzensgeldanspruch nach einem (Verkehrs-)Unfall. Hiervon sind insbesondere HWS-Prozesse betroffen, in denen regelmäßig nur derart unspezifischen Beeinträchtigungen behauptet werden. Tatsächlich sagt der BGH aber nur, was auch nichts Neues ist, dass Schmerzen und Übelkeit grds. eine schadensersatzrelevante Körperverletzung sein können und zwar selbst dann, wenn sie nur psychisch/mittelbar durch ein Unfallereignis vermittelt worden sind. Bei der Frage, ob überhaupt einer Körperverletzung vorliegt, spiele die Frage nach der Kausalität (zunächst noch) keine Rolle. Er sagt aber auch, dass im einem zweiten Schritt anschließend zu prüfen ist, ob die Schmerzen etc. nun kausal-adäquat durch den behaupteten Unfall (ggfls. auch psychisch vermittelt) verursacht wurden. Im konkreten Fall war dies nicht mehr streitig bzw. vom BGH in der Revision zu beachten, weil die Revision versäumt hatte, die vom OLG bejahte adäquate Kausalität des Unfalles anzugreifen. Dies war daher unstreitig und es bedurfte durch den BGH nur eine Bewertung, ob die Schmerzen hier auch wertungsmäßig noch dem Unfall oder nur dem allgemeinen Lebensrisiko zuzurechnen waren.

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Haushaltsführungsschaden: Gesetzliche Unterhaltspflicht?

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

Thüringer Oberlandesgericht, Urteil vom 9. Februar 2022, Az.: 2 U 504/20

Leitsätze

Auf eine faktisch oder sittlich begründete Unterhaltsverpflichtung ist im Rahmen der Bemessung des Haushaltsführungsschadens nicht abzustellen. Entscheidend ist eine bestehende Unterhaltspflicht, deren Nichterfüllung zur Folge hätte, dass der Verletzte an sich gehalten wäre, auf andere Weise seinen Beitrag zum Familienunterhalt zu leisten. Dies ist bei einer faktisch oder sittlich begründeten Unterhaltsverpflichtung nicht der Fall; die weitere Erbringung der Leistungen kann nicht eingefordert werden.

Sachverhalt

Der unfallgeschädigte Kläger lebte am Unfalltag mit seiner (nichtehelichen) Lebensgefährten und seinen Eltern zusammen. Er bewohnte eine Etage seines Hauses zusammen mit seiner Lebensgefährtin und seinem Kind, die andere Etage bewohnten seine Eltern. Dies ist auch nach dem Unfall noch so.

Entscheidung

Der Kläger habe zwar einen Anspruch auf Schadensersatz, soweit die beeinträchtigte Fähigkeit zur Führung des Haushaltes der Deckung seiner eigenen Bedürfnisse diente. Er habe jedoch keinen Anspruch auf Schadensersatz, soweit seine Mitarbeit im Haushalt der Deckung des Bedarfes seiner Lebensgefährtin oder seiner Eltern diente. Aus dem Vortrag des Klägers ergebe sich nichts dafür, dass er gesetzlich verpflichtet war, durch Leistungen im Haushalt und am Haus zum Unterhalt seiner Eltern beizutragen, §§ 1601, 1602 Abs. 1, 1612 BGB. Der Kläger war auch seiner Lebensgefährtin gegenüber nicht gesetzlich zum Unterhalt durch Führung des Haushalts verpflichtet.

Auf eine faktisch oder sittlich begründete Unterhaltsverpflichtung ist im Rahmen der Bemessung des Haushaltsführungsschadens nicht abzustellen. Diese Einschränkung ist erforderlich, weil es um den Ersatz von Vermögensschäden geht. Das Ver-mögen kann aber nur dann betroffen sein, wenn durch das Unterbleiben der Hausarbeit für dritte Personen eine bestehende Unterhaltspflicht mit der Folge unerfüllt bliebe, dass der Verletzte an sich gehalten wäre, auf andere Weise seinen Beitrag zum Familienunterhalt zu leisten. Dies ist bei einer faktisch oder sittlich begründeten Unterhaltsverpflichtung nicht der Fall; die weitere Erbringung der Leistungen kann nicht eingefordert werden. Ein Anspruch könne hingegen bestehen, wenn die Leistungen zur Haushaltsführung aufgrund einer vertraglichen Regelung erfolgen, insbesondere soweit sie sich als Gegenleistung zur Unterhalts- oder Versorgungsleistung des anderen Partners verstehen. Möglicherweise kommt auch die Qualifizierung als ersatzfähiger Erwerbsschaden unter dem Gesichtspunkt in Betracht, dass die Haushaltsführung eine sinnvolle Verwertung der Arbeitskraft des davon betroffenen Partners darstellt. Eine Verpflichtung zur Erbringung des Betreuungsunterhaltes bestand aber gegenüber seinem – minderjährigen – Kind, §§ 1601, 1602 Abs. 1, 1606 Abs. 3 Satz 2 BGB. Die Verpflichtung zur Leistung des Betreuungsunterhaltes bestand daher seitdem bis zum Ende des streitgegenständlichen Zeitraumes. Die Mitarbeit des Klägers hat daher insoweit auszuscheiden, als sie der Deckung des Bedarfes seiner Lebensgefährtin oder seiner Eltern diente. Für den Zeitraum bis zur Geburt seiner Tochter sei daher auf einen „fiktiven“ Ein-Personen-Haushalt abzustellen. Für die Zeit danach auf einen „fiktiven“ Zwei-Personen-Haushalt mit dem Kläger und seinem Kind.

Anmerkung

Anders etwa das OLG München, nach dem für die konkrete Bestimmung des Schadensersatzes wegen Beeinträchtigung in der Führung des Haushalts ohne Belang sei, zu welchem Ausmaß von Haushaltstätigkeit der Geschädigte familienrechtlich verpflichtet gewesen wäre. Entscheidend sei allein, welche Tätigkeit er ohne den Unfall auch künftig geleistet haben würde. Eine Mitarbeitspflicht von Familienangehörigen sei zudem nur dann zu berücksichtigen, wenn diese Hilfe tatsächlich erbracht wurde (OLG München, 16.2.2022, Az.: 10 U 6245/20.

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Gerüstunfall und Anscheinsbeweis

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

OLG Koblenz, Urteil v. 28.3.2022, Az.: 15 U 565/21

Leitsätze

1. Ein Baugerüst ist ein mit einem Grundstück verbundenes Werk im Sinne des § 836 BGB, für das der Gerüsthersteller als Besitzer gemäß § 837 BGB verantwortlich ist. Er muss im Sinne des § 836 BGB zur Widerlegung der gegen ihn sprechenden Vermutung darlegen und beweisen, dass er zum Zwecke der Abwendung der Ge-fahr die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beachtet hat.

2. Gerüstbretter sind ein Teil dieses Werkes, selbst wenn sie mit ihm nur durch die Schwerkraft verbunden sind. Ein zur Gerüsterstellung verwendetes, zum Begehen durch Gerüstbenutzer bestimmtes Brett muss so beschaffen sein, dass es nicht durchbricht, wenn es von einem Bauhandwerker betreten wird. Geschieht dies dennoch, so spricht typischerweise nach der allgemeinen Lebenserfahrung der An-schein dafür, dass dieses Brett von seiner Beschaffenheit her objektiv nicht für ein Baugerüst geeignet war.

3. Allerdings greift der Anscheinsbeweis nicht durch, wenn das Schadensereignis Umstände aufweist, die vom typischen Geschehensablauf abweichen und konkret eine andere, ernsthaft ebenfalls in Betracht kommende Möglichkeit für die Entwicklung des Unfalls nahelegen. Solche zur Erschütterung des Anscheinsbeweises geeignete Umstände müssen vom Gerüstersteller nachgewiesen werden.

Sachverhalt

Der Kläger macht Ansprüche auf Schadensersatz aus Verletzung der Verkehrssicherungspflicht hinsichtlich eines von dem Beklagten erstellten Baugerüsts geltend. Der Beklagte betreibt einen Gerüstbaubetrieb. Er stellte zur Sanierung der Pfarrkirche … in …[Z], bei der die Außenfassade abgestemmt und die Außenmauer aus Tuffstein neu aufgebaut werden sollte, im Frühjahr 2012 ein aus Arbeitsgerüst und Aufstiegsgerüst bestehendes Fassadengerüst der Fa. …[A] auf. Am Gerüst war ein Hinweisschild über die maximale Belastung (300 kg/m2) angebracht. Der Kläger, der als angestellter Steinmetz an der Baustelle arbeitete, verletzte sich dort am 06.11.2012. Nach dem Unfall wurde eine gebrochene Durchstiegstafel aus Sperrholz an einem Leiterdurchstieg durch Mitarbeiter des Beklagten ausgetauscht.

Entscheidung

Das Erstgericht hat aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme durch Anhörung des Klägers und Vernehmung der von diesem benannten Zeugen …[B] und …[C] die Überzeugung gewonnen, dass der Kläger, wie von ihm vorgetragen, durch den Gerüstboden gebrochen ist. Dagegen hat der Beklagte mit seiner Berufung nichts erinnert. Aufgrund des damit feststehenden Sachverhalts sprach für die objektive Fehlerhaftigkeit des Werkes – ebenso wie für deren Ursächlichkeit für den Schadenseintritt – hier der Beweis des ersten Anscheins. Zur Erschütterung des Anscheinsbeweises geeignete Umstände im vorgenannten Sinne habe die Beweisaufnahme nach Ansicht des OLG nicht ergeben. Der Grundstücksbesitzer im Sinne des § 836 BGB muss zur Widerlegung der gegen ihn sprechenden Vermutung darlegen und beweisen, dass er zum Zwecke der Abwendung der Gefahr die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beachtet hat. Dabei sind an Substantiierung und Beweispflichten des Haftpflichtigen hohe Anforderungen zu stellen. Insoweit verbleibende Zweifel müssten zu Lasten des beweispflichtigen Beklagten gehen.

Entgegen der Auffassung des Beklagten sei nach den eingangs genannten Maßstäben nicht vom Kläger darzulegen und zu beweisen, dass die streitgegenständliche Belagstafel mit so erheblichen Verschleißerscheinungen eingebaut gewesen sei, dass dieser Belag nicht mehr verwendungsfähig war und nicht hätte eingebaut werden dürfen. Vielmehr müsse sich die Beklagte exkulpieren. Angaben von Zeugen, dass bei der Errichtung des Gerüsts nichts falsch gemacht worden sei und die vom Sachverständigen festgestellte kritische Abnutzung des Holzbelags erst während der Bauarbeiten eingetreten sei, genügten insoweit nicht. Es könne auch dahinstehen, ob in dem angefochtenen Urteil übersehen wurde, dass der Unfall auch auf eine nachträglich eingetretene Verschlechterung der Beschaffenheit des Belags, eine unzulässige Gewichtsbelastung oder ein Fehlverhalten des Klägers zurückgehen könne. Auch dies hätte die Beklagte beweisen müssen.

Auch ein nachweislich schuldhaftes Handeln eines weiteren “Schädigers“ – nach Auffassung des Beklagten soll es sich dabei um den Arbeitgeber des Beklagten handeln – sei weder erstinstanzlich festgestellt noch nach den Grundsätzen einer Haftungsreduzierung wegen gestörter Gesamtschuld zu berücksichtigen gewesen. Dies gelte insbesondere für den Vortrag, der Arbeitgeber des Klägers habe sei-ne „primäre“ Verkehrssicherungspflicht verletzt. Soweit der Beklagte darauf hingewiesen habe, dass der Unternehmer, der die Verwendung von Gerüsten für seine Beschäftigten zulässt, die Verantwortung dafür trage, dass sich diese in einem ordnungsgemäßen Zustand befinden, sei damit ein schuldhafter Verstoß des Arbeitgebers des Beklagten schon nicht substantiiert vorgetragen. Gleiches gelte, so-weit er auf die Verpflichtung zu einer Unterweisung über die Gerüstbenutzung durch den Arbeitgeber hingewiesen und „mit Nichtwissen bestritten“ habe, dass der Kläger entsprechend unterwiesen und diese Unterweisung regelmäßig wieder-holt wurde. Der ihm obliegenden Darlegungs- und Beweislast entspreche dieser Vortrag nicht.

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Umfang der Bindungswirkung nach § 108 SGB VII

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

OLG Hamm, Urteil vom 22.02.2022, Az.: I-26 U 67/21

Leitsätze

1. § 118 SGB X erfasst nur Entscheidungen dazu, dass und in welchem Umfang der Leistungsträger zur Leistung verpflichtet ist. Gemeint ist nicht die Feststellung der Leistungspflicht, sondern die Gewährung bzw. Ablehnung der Leistung durch Verwaltungsakt. Nicht erfasst wird die Entscheidung über eine einzelne Voraussetzung der Leistungspflicht. Dies gilt auch für die zivilrechtliche Frage, ob zwischen der Schädigung und dem geltend gemachten Schaden ein Kausalzusammenhang besteht. Hierfür gilt die Bindungswirkung des § 118 SGB X nicht.

2. Zusammengefasst ist eine Bindungswirkung anzunehmen hinsichtlich der Leistungen im Verhältnis Leistungsträger zu Geschädigtem (= Leistungsempfänger), nicht aber hinsichtlich des Schadensersatzanspruchs im Verhältnis Geschädigter zu Schädiger, der auf den Leistungsträger übergegangen ist.

Entscheidung

Das OLG Hamm arbeitet heraus, dass § 118 SGB X nur Entscheidungen dazu erfasst, dass und in welchem Umfang der Leistungsträger zur Leistung verpflichtet ist. Gemeint ist nicht die Feststellung der Leistungspflicht, sondern die Gewährung bzw. Ablehnung der Leistung durch Verwaltungsakt. Dies gilt auch für die zivilrechtliche Frage, ob zwischen der Schädigung und dem geltend gemachten Schaden ein Kausalzusammenhang besteht. Hierfür gilt die Bindungswirkung des § 118 SGB X nicht. Dies hat der BGH im Urteil vom 16.03.2021 (VI ZR 773/20) noch einmal bestätigt, wenn er ausführt, dass sich die Bindungswirkung des § 118 SGB X inhaltlich nur auf die Verpflichtung des Leistungsträgers zur Leistung, nicht aber auf die zivilrechtlichen Haftungsvoraussetzungen wie die Kausalität zwischen der Schädigungshandlung und dem eingetretenen Schaden erstreckt.

Der Senat führt weiter aus: Bereits nach dem Wortlaut des § 118 SGB X erstreckt sich die Bindungswirkung nur auf das „Ob‟ und den Umfang der Leistungspflicht des den Regressanspruch gegen den Schädiger verfolgenden Leistungsträgers. Sie umfasst danach grundsätzlich lediglich die Zuständigkeit für die Leistung, die Versicherteneigenschaft des Geschädigten sowie die Leistungshöhe ). Diese Auslegung entspricht allein dem Sinn und Zweck der Vorschrift. Denn dadurch soll aus prozessökonomischen Gründen verhindert werden, dass Zivilgerichte sozialversicherungsrechtliche Vorfragen prüfen. Diese sozialrechtlichen Vorfragen umfassen nicht die zivilrechtlichen Haftungsvoraussetzungen. Denn die (sozialrechtlichen) Entscheidungsträger entscheiden allein auf der Grundlage der sozialrechtlichen Kausalitätstheorien, die aber nicht identisch sind mit den zivilrechtlichen. Die sozialrechtlichen Kausalitätsanforderungen gelten daher nicht zugleich auch für die zivilrechtliche Auseinandersetzung des Haftpflichtschadens. Nicht gebunden ist das Gericht ferner an die Tatsachenermittlung, an die (nicht tragende) Begründung der vorausgehenden Entscheidung oder an Art und Ausmaß der gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Zusammengefasst ist eine Bindungswirkung anzunehmen hinsichtlich der Leistungen im Verhältnis Leistungsträger zu Geschädigtem (= Leistungsempfänger), nicht aber hinsichtlich des Schadensersatzanspruchs im Verhältnis Geschädigter zu Schädiger, der auf den Leistungsträger übergegangen ist.

Relevanz

Der letzte Satz ist durchaus wichtig. Denn er zeigt, dass die Bindungswirkung auf das Verhältnis zwischen Leistungsempfänger(Geschädigter) und SVT beschränkt ist. Die Bindungswirkung erstreckt sich lediglich auf Leistungen im Verhältnis Leistungsträger zu Geschädigtem, nicht aber auf den gem. §§ 116, 119 SGB X übergegangenen Schadensersatzanspruch im Verhältnis Geschädigter zu Schädiger. Auch bei der Leistungshöhe, die grds. von der Bindung erfasst ist (s. oben), ist nur die Beziehung SVT/Geschädigter gemeint, also welche sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche des Geschädigten gegenüber dem SVT bestehen. Dass diese automatisch deckungsgleich (kongruent) mit dem zivilrechtlichen Schadensersatzanspruch gegen den Schädiger sind, erwächst nicht in Bindung. So ist etwa der zivilrechtliche Einwand der mangelnden Erforderlichkeit gem. § 249 BGB nicht verwehrt.

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§§ 104 ff. SGB VII und Hinterbliebenengeld

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

BGH, Urteil vom 08.02.2022, Az.: VI ZR 3/21

Leitsätze

Die Haftungsausschlüsse der §§ 104 ff. SGB VII erfassen auch das Hinterbliebenengeld nach § 844 Abs. 3 BGB.

Entscheidung

Nach Ansicht mehrerer Landgerichte war auch das Hinterbliebenengeld nach § 844 Abs. 3 BGB (LG Koblenz, 24.4.2020, Az.: 12 O 137/19; LG Mainz, 02.09.2020, Az.: 5 O 249/19) von den §§ 104 ff. SGB VII erfasst. Das OLG Koblenz hatte hingegen entschieden, die Haftungsbeschränkungen seien auf Ansprüche auf Hinterbliebenengeld nicht anwendbar. Der BGH hat nunmehr entschieden, dass der Haftungsausschluss gemäß § 104 Abs. 1 SGB VII und § 105 Abs. 1 SGB VII auch die Ansprüche der Hinterbliebenen auf Hinterbliebenengeld gemäß § 844 Abs. 3 BGB erfasst . Nach Ansicht des BGH sprechen Sinn und Zweck der §§ 104, 105 SGB VII entscheidend für eine Anwendung der Haftungsbeschränkung auf das Hinterbliebenengeld. Auch wenn es sich bei Streitigkeiten zwischen Hinterbliebenen und Betriebsinhabern bzw. dort beschäftigten Personen auf erste Sicht um außerbetriebliche Streitigkeiten ginge, seien die Hinterbliebenen in den Schutz des Betriebsfriedens mit eingebunden. Dies manifestiere sich in der ausdrücklichen Einbeziehung der Hinterbliebenen im Gesetzestext. Zwar sehe die gesetzliche Unfallversicherung keine zum Hinterbliebenengeld kongruenten Leistungen vor, jedoch sei dies auch nicht notwendig. Außerdem könnten Angehörigen und Hinterbliebenen wegen der Tötung des Versicherten durchaus unfallversicherungsrechtliche Ansprüche nach §§ 63 ff. SGB VII (Sterbegeld, Überführungskosten, Hinterbliebenenrenten, Beihilfe) zustehen. Der Unterschied zum Schockschaden, der nicht von den Haftungsprivilegien erfasst sei (BGH, 6.2.2007, AZ.: VI ZR 55/06) liege darin, dass der Schockschadensersatz als Anspruch auf Schmerzensgeld auf der Verletzung eines eigenen Rechtsguts beruhe, während der Anspruch auf Hinterbliebenengeld nach § 844 Abs. 3 BGB keine eigene Gesundheitsbeeinträchtigung des Hinterbliebenen im Sinne der § 823 Abs. 1, § 253 Abs. 2 BGB voraussetze. Vielmehr knüpfe das Hinterbliebenengeld auf der Ebene der Haftungsbegründung an die Verletzung eines fremden Rechtsguts, des in § 823 Abs. 1 BGB explizit genannten Lebens des Versicherten, an und suche erst auf der Ebene der Haftungsausfüllung den eigenen Gefühlsschaden der Hinterbliebenen zu entschädigen. Der Sache nach handle es sich um einen immateriellen Ersatzanspruch eigener Art und damit im Hinblick auf Rechtsnatur und Anwendungsbereich um ein vom Schockschaden verschiedenes Institut.

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Unterlassene Erwerbsobliegenheit

Stefan MöhlenkampStefan Möhlenkamp

Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Urteil vom 07.09.2021, Az.: 7 U 34/21

Leitsätze

Der Geschädigte muss im Rahmen seiner Schadenminderungspflicht die ihm verbliebene Arbeitskraft in zumutbarer Weise gewinnbringend nutzen, soweit ihm das möglich ist. Dazu zählt auch, geeignete und zumutbare Maßnahmen zur Herstellung der Gesundheit und Rückgewinnung der Arbeitsfähigkeit zu ergreifen und Tätigkeiten, die dies gefährden, zu unterlassen.

Sachverhalt

Bei dem Unfall, für den der Beklagte dem Grunde nach gemäß § 7 StVG i.V.m. § 115 VVG eintrittspflichtig ist, wurde die Versicherte der klagenden Krankenkasse erheblich verletzt. Nach mehreren Operationen verblieb bei dem Versicherten unfallbedingt eine Doppelsichtigkeit (Diplopie), aufgrund derer eine Erwerbsminderung von 15 % – 25 % vorliegt. Wenn man ein Auge abdeckt bestehe keine Doppelsichtigkeit mehr. Wo Doppelbilder tolerabel sind, seien „einfache Tätigkeiten“ möglich. Vor dem Unfall war die Versicherte, die zwei Lehren abgebrochen hatte, im Wesentlichen als Hausfrau und Mutter tätig. Ab dem Jahr 2007 war sie saisonal mit der Reinigung von Ferienwohnungen für rund 900,00 € in der Saison beschäftigt gewesen. Diese Tätigkeit endete zum 30.06.2009. Nach dem Unfall vom 6.11.2009 arbeitete sie von März bis Ende Juli 2013 für ihren Schwiegervater 3 Stunden wöchentlich als Haushaltshilfe zu einem Stundenlohn von 8,50 € (120,– €/Monat).

Mit Bescheid der Klägerin wurde der ihr rückwirkend zum 01.09.2013 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bewilligt, die sich der Höhe nach auf rund 800,00 € monatlich beläuft. Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, gem. § 116 SGB X seien auf sie auch die übrigen Erwerbsschadensansprüche der Zeugin übergegangen. Der Beklagte bestreitet einen kongruenten Erwerbsschaden.

Entscheidung

Das OLG hebt heraus, der Forderungsübergang nach §§ 116 SGB X verlange, dass der Geschädigte unfallbedingt einen Einkommensverlust erlitten hat und ihm deshalb seitens der Klägerin Rentenversicherungsbeiträge in gleicher Höhe zufließen. Die Ersatzpflicht greift erst dann ein, wenn durch die Beeinträchtigung der Arbeitskraft des Verletzten in dessen Vermögen ein konkreter ersatzfähiger Schaden entstanden ist oder entstanden wäre. Hierzu sei berufliche Entwicklung eines Geschädigten ohne das Schadensereignis zu beurteilen, wozu der Geschädigte bzw. die Klägerin konkrete Anhaltspunkte für die erforderliche Prognose dartun müsse. Im vorliegenden Fall hatte die Versicherte bei Eintritt des Schadens kein festes, regelmäßiges Einkommen. Daher sei der Verdienst zu ermitteln, den sie ohne den Unfall bei dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und den besonderen Umständen des Einzelfalles mit Wahrscheinlichkeit hätte erzielen können. Eine völlig abstrakte Berechnung in Form der Schätzung eines „Mindestschadens‟ sei nicht zulässig. Etwaig verbleibenden Risiken bei der prognostischen Schätzung des Verdienstausfallschadens, z.B. häufiger Wechsel der Arbeitsstelle oder längere Zeiten der Arbeitslosigkeit, könne durch gewisse Abschläge berücksichtigt werden.

Ferner müsse der Geschädigte im Rahmen seiner Schadenminderungspflicht die ihm verbliebene Arbeitskraft in zumutbarer Weise gewinnbringend nutzen, soweit ihm das möglich ist. Dazu zählt auch, geeignete und zumutbare Maßnahmen zur Herstellung der Gesundheit und Rückgewinnung der Arbeitsfähigkeit zu ergreifen und Tätigkeiten, die dies gefährden, zu unterlassen. Der Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht stehe zunächst zur Beweislast des Schädigers. Dieser muss insbesondere darlegen und beweisen, ob und in welchem Umfang der Geschädigte eine andere zumutbare Tätigkeit hätte ausüben können. Der Verletzte habe sodann vorzutragen, welche Arbeitsmöglichkeiten ihm zumutbar und durchführbar erscheinen und was er bereits unternommen hat, um einen angemessenen Arbeitsplatz zu erhalten; hat er nichts unternommen, kann dies je nach Fallgestaltung zu Beweiserleichterungen für den Schädiger oder sogar zu einer Beweislastumkehr führen. Hat der Schädiger dagegen eine konkret zumutbare Arbeitsmöglichkeit nachgewiesen, so ist es Sache des Verletzten, darzulegen und zu beweisen, warum er diese Möglichkeit nicht hat nutzen können.

Im konkreten Fall sei der Verletzten, der wegen einer Sehbehinderung mit einem GdB 15 bis 25 % in seiner Erwerbsfähigkeit eingeschränkt sei, zuzumuten, sich um einen entsprechenden „Minijob“ in Wohnortnähe zu bemühen (z.B. als Mitarbeiter im Empfang oder an einer Rezeption; in einem Callcenter oder für leichte Reinigungsarbeiten). Bemühungen, einen entsprechenden „Minijob“ in ihrer Wohnortnähe zu finden, habe sie aber nach Bewilligung der vollen Erwerbsminderungsrente nicht entfaltet. Ebenso wenig habe sie es unternommen, entsprechend den Empfehlungen der Sachverständigen über einen längeren Zeitraum ein Auge abzudecken, um der Doppelsichtigkeit zu begegnen. Nach den Erfahrungen des Senats, der als Verkehrsunfallsenat ständig mit Personenschäden befasst sei, würden in den vorgenannten Tätigkeitsfeldern ständig Beschäftigte gerade im Minijobbereich gesucht. Trotz ihrer nur eingeschränkten Mobilität sei es der ihr zumutbar und möglich gewesen, eine derartige Tätigkeit auszuüben.

Diese Feststellungen führten dazu, dass kein Übergang gemäß § 116 SGB X auf die Klägerin stattgefunden hat, da es an einem übergangsfähigen Schaden beim Geschädigten fehlte.

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