Keine Sozialkassenpflicht für Verleger von Fußbodenheizung?

Stefan KrappelStefan Krappel

Arbeitsgericht Wiesbaden Az. 12 Ca 172/22 SK

 

Sachverhalt

Immer wieder kommt es zum Streit zwischen der Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft (ULAK) und Betrieben, die in irgendeiner Form ein Baugewerbe ausüben. Die Pflicht, Beiträge zur Sozialkasse abzuführen, regelt der Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV-Bau). Dieser sieht vor, dass die meisten Unternehmen seinem Geltungsbereich unterfallen, notfalls über einen Auffangtatbestand. Davon gibt es jedoch Ausnahmen und hiervon wiederum Rückausnahmen. Beispielhaft werden Betriebe des Dachdeckerhandwerks oder Sanitärbetriebe ausgenommen. Für letzte gilt wiederum eine Rückausnahme. Üben die Sanitärbetriebe zeitlich überwiegend Katalogtätigkeiten aus (z.B. Fliesen- oder Rohrleitungsbauertätigkeiten) werden sie dem Geltungsbereich wieder zugeordnet.

Im vom Arbeitsgericht Wiesbaden zu entscheidenden Fall hat die ULAK einen Betrieb in die Pflicht nehmen wollen, der unter Aufsicht und Anleitung eines Gesellen mit Hilfskräften, die nicht dem Bauhauptgewerbe entstammen, ausschließlich Schläuche für Fußbodenheizung verlegt. Der Arbeitsablauf gestaltet sich derart, dass aus Kunststoff bestehende Schläuche von einer Rolle abgerollt, zugeschnitten, gebogen, ggf. mit einer Presse mit anderen Teilen verbunden und schließlich mit dem Boden befestigt werden. Die Mitarbeiter des Betriebes sorgen für die Anschlüsse an die Verteiler, führen Druck- und Dichtigkeitsprüfungen durch und sind auch bei der Inbetriebnahme der Heizung zugegen. Der Betrieb führt auch Wartungen und Reparaturen bereits installierten Schlaufen durch.

Die ULAK ist davon ausgegangen, dass es sich um einen Betrieb handelt, der baugewerbliche Arbeiten ausführt und nicht als Betrieb des Gas- und Wasserinstallationsgewerbes aus dem fachlichen Geltungsbereich des VTV-Bau auszunehmen sei, jedenfalls greife eine Rückausnahme, weil der Betrieb Rohre verlege, also Rohrleitungsbau im Sinne von § 1 Abs. 2 Abschn. V Ziff. 25 VTV-Bau ausübe.

 

Entscheidung

Dieser Auffassung hat das Arbeitsgericht Wiesbaden eine klare Absage erteilt und die auf rückständige Beiträge gerichtete Klage abgewiesen. Nach Einschätzung des Arbeitsgerichts ist der hier betroffene Betrieb nicht zur Zahlung verpflichtet, da er einen Betrieb des Gas- und Wasserinstallationsgewerbes darstellt und insoweit aus dem fachlichen Geltungsbereichs des VTV ausgenommen ist.

In Anlehnung an bereits vorausgegangene Rechtsprechung des BAG geht das Arbeitsgericht davon aus, dass es bei Betrieben mit Tätigkeiten, die sowohl baulichen Charakter haben als auch einem Ausnahmetatbestand unterfallen, darauf ankomme, welches Gepräge die Verrichtung dem Unternehmen verleihe; für die Abgrenzung kommt es dabei darauf an, ob die Ausführung der Arbeiten durch gelernte Kräfte des speziellen Handwerks erfolgt bzw. durch Fachleute angeleitet und überwacht wird. Das BAG hatte hierzu bereits entschieden, dass dies nicht zwingend ein Meister sein muss.

Nach Auffassung des Arbeitsgerichts stellt das Verlegen von Schlaufen für Fußbodenheizungen eine Tätigkeit dar, die typischerweise von Installateuren des Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnikgewerbes ausgeführt wird. Da im vorliegenden Fall ein ausgebildeter Gas- und Wasserinstallateur die Tätigkeit angeleitet und überwacht habe, sei es ausreichend, wenn die Tätigkeit im Übrigen durch ungelernte Kräfte ausgeführt werde; anders als bei der Installation einer komplizierten Heizungsanlage fielen beim Verlegen von Schlaufen eine ganze Reihe zeitaufwändiger Tätigkeiten an, deren Verrichtung als solche wiederum kein im hohem Maße ausgeprägtes Wissen oder Können erfordere. Nach Auffassung des Arbeitsgerichts und zur Sicherung des Gepräges ist es daher ausreichend, wenn ein einschlägig ausgebildeter Beschäftigter das Gesamtvorhaben plant und eine überschaubare Anzahl von Untergebenen anleitet und überwacht, was bei maximal drei Helfern im vorliegenden Fall gewährleistet war.

Der Auffassung der ULAK, dass ein solcher Betrieb Rohrleitungsbau betreibe, schloss sich das Arbeitsgericht nicht an. Nach der Rechtsprechung kann zwar auch eine Schlaufe für eine Fußbodenheizung ein „Rohr“ sein. Rohrleitungsbauer unterliegen allerdings einer anderen Ausbildung und werden auch nicht im gleichen Bereich eingesetzt. Rohrleitungsbauer erstellen, warten und reparieren der Branche zugehörige Rohrleitungssysteme, um den Transport von Gas, Wasser, Öl oder Fernwärme in Wohn-. Gewerbe- bzw. Industriegebäude zu ermöglichen. Rohrleitungsbauer sind keine Feininstallateure, sondern werden auch in der Herstellung von Schachtbauwerken, Baugruben und Verkehrswegen unterwiesen; Kenntnisse über das Arbeiten in Gebäuden wie die Vornahme von Druckprüfung von Sanitäranlagen und Heizungen werden ihnen in der Ausbildung nicht vermittelt; dafür zu sorgen, dass das von den öffentlichen Versorgungsträgern angelieferte Wasser oder Gas innerhalb der einzelnen Gebäuden an die Stellen komme, wo es gebraucht werde, obliege den Angehörigen anderer Gewerke, insbesondere denjenigen des Heizungs- Sanitär- und Klimatechnikgewerks.

 

(Das Urteil ist nicht rechtskräftig, die Berufung wird beim LAG Hessen zum Az. 10 Sa 433/23 SK geführt.)

 

 

 

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Quarantäne während des Urlaubs

Stefan KrappelStefan Krappel

LAG Hamm, Urteil vom 27.01.2022 – 5 Sa 1030/21

 

Sachverhalt

Der Kläger, Arbeitnehmer bei der Beklagten, hatte im Zeitraum vom 12.10.2020 bis zum 21.10.2020 acht Tage Urlaub beantragt.

Da der Kläger mit einem positiven COVID-19-Fall in Kontakt gekommen war, wurde für ihn vom 09.10.2020 bis zum 21.10.2020 eine häusliche Quarantäne angeordnet. Die Quarantäneanordnung sah unter anderem vor, dass es dem Kläger in dieser Zeit nicht gestattet ist, die Wohnung ohne eine ausdrückliche Zustimmung des Gesundheitsamtes zu verlassen oder Besuch von Personen zu empfangen. Darüber informierte der Kläger die Beklagte unverzüglich.

Nach der Quarantäne wurde allerdings das Zeitkonto des Klägers mit acht Urlaubstagen belastet. Der Kläger forderte die Beklagte daraufhin auf, diese Tage auf dem Urlaubskonto wieder gutzuschreiben. Die Beklagte reagierte jedoch nicht.

Mit der Klageschrift hat der Kläger die Gutschrift von acht Urlaubstagen auf sein Urlaubskonto begehrt, da die Quarantäneanordnung dem Erholungszweck entgegengestanden habe.

Das vorinstanzliche Arbeitsgericht hat seine Klage abgewiesen.

 

Entscheidung

Das Landesarbeitsgericht Hamm hat das Urteil des Arbeitsgerichts Hagen abgeändert und die Arbeitgeberin verurteilt, dem Kläger acht Urlaubstage nachzugewähren.

Krankheitsfälle während des Urlaubs werden ausdrücklich in § 9 BUrlG geregelt. Wenn ein Arbeitnehmer während des Urlaubs erkrankt, werden ihm diese – durch ärztliches Zeugnis nachgewiesenen –  Tage der Arbeitsunfähigkeit nicht auf den Jahresurlaub angerechnet. Insoweit ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass während einer Erkrankung der Erholungszweck des Urlaubs nicht gewährleistet ist. Eine § 9 BurlG vergleichbare Regelung hinsichtlich einer Quarantäneanordnung gibt es jedoch (noch) nicht. Die meisten Gerichte haben die analoge Anwendung des § 9 BUrlG abgelehnt.

Das LAG Hamm hat sich mit seiner Entscheidung dem entgegengestellt und vertritt die Ansicht, dass ein angeordneter Quarantänefall nach § 9 BUrlG analog wie ein Krankheitsausfall zu behandeln ist. Das LAG sieht hier eine planwidrige Regelungslücke, die eine Analogie ermögliche.

Der Arbeitgeber schulde zwar lediglich die Urlaubsgewährung und nicht den Urlaubserfolg (der im Risikobereich des Arbeitnehmers liegt), allerdings verhindere eine verhängte Quarantäne eine frei, selbstbestimmte Gestaltung der Urlaubszeit wie sie die urlaubsrechtliche Rechtsprechung des EuGH verstehe. In seiner Entscheidung hat sich das LAG umfassend mit der Rechtsprechung des EuGH und BAG zu anderen Fallkonstellationen, u.a. aus dem Seuchenschutz auseinandergesetzt.

Gleichwohl wurde die Entscheidung in der Literatur hauptsächlich abgelehnt, zumal auch in der Quarantäne für viele Arbeitnehmer die Tätigkeit im Homeoffice möglich sei, eine Einschränkung der örtlichen Fortbewegungsmöglichkeit falle auch in anderen Zusammenhängen in die Risikosphäre des Arbeitnehmers.

 

Die Revision zum Bundesarbeitsgericht wurde zugelassen. Das Verfahren ist unter dem Az.: BAG, 9 AZR 76/22 anhängig. Dort ist auch ein weiteres Verfahren des LAG Köln anhängig, welches zu einem gegenteiligen Ergebnis gekommen ist.

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Kein Arbeitsausfallrisiko des Arbeitgebers bei „Lockdown“

Stefan KrappelStefan Krappel

BAG Urteil vom 13.10.2021 – Az. 5 AZR 211/21

 

Sachverhalt

Die Klägerin ist seit 2019 bei der Beklagten, die ein Unternehmen betreibt, das unter anderem mit Nähmaschinen und Zubehör in Bremen handelt, als geringfügig Beschäftigte tätig für eine monatliche Vergütung von 432 Euro.
Im April 2020 konnte die Klägerin nicht arbeiten, da das Geschäft aufgrund der „Allgemeinverfügung über das Verbot von Veranstaltungen, Zusammenkünften und der Öffnung bestimmter Betriebe zur Eindämmung des Coronavirus“ (der Freien Hansestadt Bremen vom 23.03.2020) geschlossen werden musste.
Unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs begehrt die Klägerin die Zahlung ihres Entgelts für den Monat April 2020. Sie behauptet, die Schließung sei ein von der Arbeitgeberin zu tragendes Betriebsrisiko.

 

Entscheidung

Das Bundesarbeitsgericht hat entschieden, dass die Klägerin keinen Anspruch auf Entgeltzahlung für den Monat April 2020 unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs hat.
In diesem Fall trägt der Arbeitgeber nicht das Risiko des Arbeitsausfalls, da flächendeckend alle nicht für die Versorgung notwendigen Einrichtungen durch die behördlichen Anordnungen zum Schutz der Bevölkerung vor dem Covid-Virus geschlossen wurden – so auch das Geschäft der Beklagten.
Die Unmöglichkeit der Arbeitsleistung geht auf die Folge eines hoheitlichen Eingriffs zur Bekämpfung einer die gesamte Bevölkerung betreffende Gefahrenlage zurück und nicht auf ein im Betrieb angelegtes Betriebsrisiko.
Der Staat ist – gegebenenfalls – verantwortlich für den Ausgleich der finanziell entstandenen Nachteile aufgrund dieses hoheitlichen Eingriffs. Beispielsweise wurde der Zugang zum Kurzarbeitergeld erleichtert, der jedoch bei geringfügig Beschäftigten – wie der Klägerin – nicht gewährleistet ist. Allerdings leitet diese Lücke im sozialversicherungsrechtlichen Regelungssystem noch keine arbeitsrechtliche Zahlungspflicht des Arbeitgebers her.

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Indizwirkung einer medizinischen EDV-Dokumentation, die nachträgliche Änderungen nicht erkennbar macht

Stefan KrappelStefan Krappel

BGH, Urt. v. 27.04.2021 – VI ZR 84/19

 

Leitsätze (amtlich)

  1. In § 630c Abs. 2 S. 1 BGB sind die vom Senat entwickelten Grundsätze zur therapeutischen Aufklärung bzw. Sicherungsaufklärung kodifiziert worden. Diese Grundsätze gelten inhaltlich unverändert fort; neu ist lediglich die Bezeichnung als Informationspflicht.
  2. Der Umfang der Dokumentationspflicht ergibt sich aus § 630f Abs. 2 BGB. Eine Dokumentation, die aus medizinischer Sicht nicht erforderlich ist, ist auch aus Rechtsgründen nicht geboten.
  3. Einer elektronischen Dokumentation, die nachträgliche Änderungen entgegen § 630f Abs. 1 Satz 2 und 3 BGB nicht erkennbar macht, kommt keine positive Indizwirkung dahingehend zu, dass die dokumentierte Maßnahme von dem Behandelnden tatsächlich getroffen worden ist.

 

Sachverhalt

Der Kläger verlangt aufgrund einer fehlerhaften ärztlichen Behandlung Schadensersatz. Die Beklagte ist Augenärztin und untersuchte am 07.11.2013 den Kläger, der an schwarzen Flecken im linken Auge litt. Sie diagnostizierte eine altersbedingte Erscheinung infolge einer Glaskörpertrübung. Ein Termin zur erneuten Vorstellung wurde nicht vereinbart.

Am 14.02.2014 stellte ein Optiker bei dem Kläger einen Netzhautriss fest. Infolgedessen ließ sich der Kläger erneut von der Beklagten untersuchen, wobei diese eine Netzhautablösung diagnostizierte und ihn sofort als Notfall an ein Krankenhaus überwies. Schließlich wurde der Kläger im Krankenhaus operiert. Infolge von Komplikationen erblindete er auf dem linken Auge.

Der Kläger wirft der Beklagten vor, sie habe bei der ersten Untersuchung am 07.11.2013 einen Netzhautriss übersehen und keine Pupillenweitstellung veranlasst, weshalb eine ordnungsgemäße Untersuchung des Augenhintergrundes nicht möglich gewesen sei. Sie hätte ihn zudem darauf hinweisen müssen, dass er bei weiteren Beschwerden erneut vorstellig werden müsse und spätestens in einem Jahr eine Kontrolle erfolgen sollte.

Zur medizinischen Dokumentation verwendete die Beklagte ein EDV-Programm, bei dem nachträgliche Veränderungen ohne Erkennbarkeit eingetragen werden können.

 

Entscheidung

Die Revision hat teilweise Erfolg. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.

In der unterlassenen therapeutischen Information des Klägers liegt kein Behandlungsfehler der Beklagten. Die Beklagte musste den Kläger aber darauf hinweisen, dass bei Verschlechterung der Beschwerden, spätestens aber nach einem Jahr eine Kontrolle stattfinden sollte. Diese Verpflichtung wird aus § 630c Abs. 2 S. 1 BGB abgeleitet. Hierin wurden die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur therapeutischen Aufklärung bzw. Sicherungsaufklärung kodifiziert. Diese Grundsätze gelten unter der neuen Bezeichnung als Informationspflicht fort.

Der Beklagten ist jedoch ein Befunderhebungsfehler vorzuwerfen. Die Beklagte hätte eine Pupillenweitstellung zur Untersuchung des Augenhintergrundes vornehmen müssen. In der Behandlungsdokumentation war eine Eintragung, die diese Untersuchung dokumentierte zu finden. Mit der von der Beklagten genutzten EDV-Dokumentation war es jedoch möglich, Einträge nachträglich zu verändern, ohne dass diese Änderungen erkennbar waren. Eine elektronische Dokumentation, die Änderungen nicht erkennbar macht, genügt jedoch nicht den Anforderungen des § 630f Abs. 1 S. 2, 3 BGB.

Das Berufungsgericht maß dem in unzulässiger Weise eine positive Indizwirkung zu. Es nahm an, dass eine Pupillenweitstellung erfolgt war und der Augenhintergrund untersucht wurde. Die Dokumentation hätte durch jeden Zugriffsberechtigten innerhalb kurzer Zeit, mit wenig Aufwand und fast ohne Entdeckungsrisiko nachträglich geändert werden können. Der Dokumentation fehlt es deshalb an der für die Annahme einer Indizwirkung erforderlichen Überzeugungskraft und Zuverlässigkeit. Die Verwendung einer solchen Software führt aber nicht zu der Vermutung des § 630h Abs. 3 BGB.

Es kann auch keine Indizwirkung angenommen werden, wenn der Patient keine Anhaltspunkte dafür vortragen kann, dass die Dokumentation nachträglich zu seinen Lasten verändert wurde. Aufgrund der fehlenden Zuverlässigkeit steht der Patient weit außerhalb des maßgeblichen Geschehensablaufes und wird daher meist keine Anhaltspunkte für eine nachträgliche Änderung vortragen können. Allerdings kann die Dokumentation bei der Beweiswürdigung auch nicht völlig unberücksichtigt bleiben. Sie bildet vielmehr einen tatsächlichen Umstand, den der Tatrichter bei seiner Überzeugungsbildung unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses der Beweisaufnahme einer umfassenden und sorgfältigen, angesichts der fehlenden Veränderungssicherheit aber auch kritischen Würdigung zu unterziehen hat (§ 286 ZPO).

Eine Dokumentation ist zudem nur bei einem medizinischen Erfordernis vorzunehmen, nicht hingegen aus Rechtsgründen.

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Arbeitgeber kann Anwaltskosten für Ermittlung vor dem Arbeitsgericht ersetzt verlangen

Stefan KrappelStefan Krappel

Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 29.04.2021 – 8 AZR 276/20

 

Leitsätze des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg, Urteil vom 21.04.2020 – Az. 19 Sa 46/19

  1. Der Arbeitnehmer hat dem Arbeitgeber die durch das Tätigwerden eines Detektivs entstandenen notwendigen Kosten zu ersetzen, wenn der Arbeitgeber aufgrund eines konkreten Tatverdachts einem Detektiv die Überwachung des Arbeitnehmers überträgt und der Arbeitnehmer einer vorsätzlichen Vertragspflichtverletzung überführt wird (BAG 29. Juni 2017 – 2 AZR 597/16 – Rn. 45).
  2. Besteht gegen einen Einkaufsleiter aufgrund von anonymen Meldungen von sog. Whistleblowern der Verdacht, er habe in erheblicher Weise gegen interne Compliance-Regeln verstoßen (hier: mehrfache Besuche von Champions-League-Spielen eines süddeutschen Fußballvereins auf Kosten von Geschäftspartnern des Arbeitgebers), so ist die Beauftragung einer auf Unternehmensstrafrecht spezialisierten Anwaltskanzlei durch den Arbeitgeber zur Aufklärung der Sachverhalte gerechtfertigt.
  3. Die Kostenerstattungspflicht des Arbeitnehmers bezieht sich auf die Maßnahmen, die zur Beseitigung der Störung bzw. zur Schadensverhütung erforderlich sind.
  4. Die Kosten für weitergehende Ermittlungen, die darauf gerichtet sind, Schadensersatzansprüche vorzubereiten, und die sich nicht auf einen konkreten Tatverdacht stützen, sind nicht erstattungsfähig. Dem steht § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG entgegen, der auch einen Anspruch auf Erstattung vor- bzw. außergerichtlicher Kosten ausschließt. Davon erfasst ist der Schadensersatz in Form von Beitreibungs- und Rechtsverfolgungskosten (BAG 25. September 2018 – 8 AZR 26/18 zu pauschalierten Beitreibungskosten nach § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB).


Sachverhalt

Der Kläger war seit November 2009 als Leiter des Zentralbereichs Einkauf und Mitglied einer Führungsebene bei der Beklagten tätig, zu einem Jahresbruttogehalt i.H.v. ca. 450.000 €.
Während dieses Arbeitsverhältnisses hat der Kläger in einem Zeitraum von mehreren Jahren auf Kosten der beklagten Arbeitgeberin – dabei allerdings in großem Umfang pflichtwidrig – Reisen unternommen, Essenseinladungen ausgesprochen, die Firmenkreditkarte belastet und Gelder der Firma veruntreut. Bei der Geschäftsleitung der Beklagten gingen mehrere anonyme Meldungen über die verdächtigen Tätigkeiten des Klägers ein. Aufgrund des konkreten Verdachts, dass der Kläger gegen die Compliance-Richtlinien verstößt, hat die Beklagte eine spezialisierte Anwaltskanzlei beauftragt, Ermittlungen durchzuführen.
Die Kanzlei konnte bestätigen, dass der Kläger auf Kosten der Beklagten private Veranstaltungen besucht hat, u.a. mehrere Fahrten zu Champions-League spielen, sowie eine Reise nach New York und diese als Geschäftsreise abgerechnet hat. Außerdem hat sie weitere Pflichtverletzungen des Klägers, wie einen Verstoß gegen das sog. Schmiergeldverbot, aufgedeckt. Daraufhin hat die Beklagte den Kläger im Juni 2016 fristlos gekündigt. Gegen diese Kündigung hat der Kläger eine Kündigungsschutzklage erhoben, die jedoch rechtskräftig abgewiesen wurde. Die Anwaltskanzlei stellte der Beklagten für die Ermittlungen ca. 210.000 € in Rechnung.

Unter anderem verlangte die Beklagte im Wege der Widerklage den Ersatz der Ermittlungskosten vom Kläger zurück.

Das Arbeitsgericht wies die Widerklage insoweit unter Hinweis auf § 12a ArbGG ab.

 

Entscheidung LAG

Das Landesarbeitsgericht hat der beklagten Arbeitgeberin von den Ermittlungskosten einen Schadensersatz i.H.v. 66.500 € zugesprochen. Diese Summe hatte die Beklagte bis zu dem Zeitpunkt der Kündigung am 23.06.2016 für die Ermittlungen ausgegeben. Der Anspruch sei auf diesen Zeitpunkt einzugrenzen. Alle darauffolgenden Kosten seien aufgrund der Kostenregelung in § 12a I 1 ArbGG nicht erstattungs- oder ersatzfähig. Danach hat jede Partei keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten für die Zuziehung eines Anwalts in I. Ersatz. Dieser Vorschrift findet auch im außergerichtlichen Bereich Anwendung.
Das LAG hat für die reine Ermittlungstätigkeit nun eine Ausnahme gemacht: Der Arbeitnehmer habe die Kosten der Ermittlungen, die aufgrund eines konkreten Tatverdachts gegen ihn entstanden sind, zu ersetzen. Darunter ist es unerheblich, ob die Kosten durch die Einschaltung einer Detektei oder einer spezialisierten Anwaltskanzlei ausgelöst würden, wenn der Arbeitnehmer tatsächlich wegen vorsätzlicher Pflichtverletzung überführt werde.
Die Geschäftsleitung habe das Recht und die Pflicht dazu, bei einem schwerwiegenden Verdacht auf Verstöße gegen die Compliance-Richtlinien tätig zu werden, ansonsten könnte sie sich ggf. selbst schadensersatzpflichtig machen. Aufgrund der Vielzahl der Dokumente und dem nicht kooperationsbereiten Kläger seien professionelle Ermittlungen erforderlich gewesen, um den Sachverhalt sorgfältig aufzuklären.

 

Entscheidung BAG

Die dagegen gerichtete Revision des Klägers war im Übrigen erfolgreich – allerdings nur wegen unzureichenden Vortrags der Arbeitgeberin zur Erforderlichkeit der Kosten. Im Grundsatz geht auch das BAG davon aus, dass eine schwerwiegende vorsätzliche Vertragsverletzung die Einschaltung einer Anwaltskanzlei zur Durchführung von Ermittlungen rechtfertigen kann. Denn in der Regel dient die Einschaltung der Abwendung drohender Nachteile durch den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses.

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Maßnahmen zur Abwendung von Selbstgefährdungen im Pflegeheim

Stefan KrappelStefan Krappel

BGH, Urteil vom 14.01.2021, Az. III ZR 168/19

 

Sachverhalt

Am 27.04.2014 stürzte ein Heimbewohner aus einem Fenster im dritten Obergeschoss eines Alten- und Pflegeheims und erlitt schwere Verletzungen, die trotz mehrerer Behandlungen ein paar Monate später zum Tod führten. Die Klägerin, Ehefrau des Verstorbenen und dessen Miterbin, verlangt von der Betreiberin des Alten- und Pflegeheims die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes.
Der Ehemann lebte seit Anfang Februar 2014 in dem Pflegeheim, war hochgradig dement und litt unter Gedächtnisstörungen infolge des Korsakow-Syndroms. Ihn verfolgte eine psychisch-motorische Unruhe, sowie eine örtliche, zeitliche und räumliche Desorientierung. Eine besondere Betreuung war aufgrund der Lauftendenz, Selbstgefährdung, nächtlicher Unruhe und auch Sinnestäuschungen notwendig.
Die Beklagte brachte den Verstorbenen in einem Zimmer im Dachgeschoss unter, wobei die zwei großen Dachfenster nicht gegen unbeaufsichtigtes Öffnen gesichert waren. Aus einem dieser Fenster kletterte der Patient hinaus, stürzte hinab und erlitt schwere Verletzungen, die zu seinem Tod führten.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, das Berufungsgericht die Berufung zurückgewiesen, da Anhaltspunkte für eine Selbstgefährdung fehlten.

 

Entscheidung

Die Revision der Klägerin gegen das Berufungsurteil hatte Erfolg. Der BGH verwies die Angelegenheit zur erneuten Verhandlung zurück.
Die Obhutspflichten der Beklagten werden durch den Heimvertrag begründet. Der Heimbetreiber hat unter anderem die Pflicht, die anvertrauten Bewohner unter Wahrung der Würde und des Selbstbestimmungsrechts vor Gefahren zu sichern, die Menschenwürde und Freiheitsrecht eines körperlich oder geistig beeinträchtigten Heimbewohners zu achten, sowie die körperliche Unversehrtheit zu schützen. Diesen Pflichten nachzukommen, ist durch finanziellen und personellen Aufwand begrenzt. Maßstab ist – so der BGH – das Erforderliche und das für die Heimbewohner und das Pflegepersonal Zumutbare.
Die Wahrung dieser Rechte eines geistig und körperlich beeinträchtigen Heimbewohners, kann daher nicht generell geregelt werden, sondern ist abhängig vom Einzelfall unter sorgfältiger Abwägung der Umstände. Maßgeblich für die einzuhaltende Sorgfalt ist, ob aus ex-ante-Perspektive aufgrund der körperlichen oder geistigen Verfassung damit gerechnet werden musste, dass ohne eine Sicherungsmaßnahme der Patient sich selbst schädigen könnte. Eine Gefahr, deren Realisierung zwar unwahrscheinlich erscheint, aber zu besonders schweren Folgen führen kann, begründet bereits Sicherungspflichten des Heimträgers.
Im vorliegenden Fall fehlte es jedoch an einer medizinisch fundierten Risikoprognose und Gesamtbewertung aller Einzelumstände durch die Tatsachengerichte. Schon seit Beginn seines Aufenthalts waren schwere Demenzerscheinungen sowie Sinnestäuschungen des Patienten bekannt. Er kletterte unter anderem mehrfach aus zugewiesenen Gehwagen heraus, wodurch er auch eine gewisse motorische Geschicklichkeit unter Beweis stellte. In den Pflegedokumenten wurden außerdem zahlreiche Ereignisse festgehalten, bei denen der Verstorbene desorientiert versuchte, die Etage zu verlassen. Es bestand zudem eine Sturzgefahr, da der Patient sich unkontrolliert und orientierungslos Treppen näherte.
Die Fenster in seinem Zimmer waren leicht zu öffnen und nicht gesichert. Der davor angebrachte Heizkörper half dabei diese treppenartig zu erreichen.
Unkontrollierte selbstschädigende Handlungen konnten hier somit nicht ausgeschlossen werden. Die Ergreifung von Sicherungsmaßnahmen zur Verhinderung eines Fenstersturzes sind bei erkennbaren, nicht lediglich abstrakt bestehenden Selbstschädigungsgefahren zwingend geboten. Eine Möglichkeit wäre gewesen, verschließbare Fenstergriffe anzubringen oder die Fenster in Kippstellung zu verriegeln. Dies hätte den Patienten in seinen Rechten nicht beeinträchtigt.
Eine Beweislastumkehr im weiteren Verfahrensverlauf sollte der Klägerin nach Vorstellung des BGH allerdings nicht zugutekommen. Der Sturz ereignete sich nicht in einer konkreten Gefahrensituation, bei der der Erblasser einer Pflegekraft im Rahmen einer konkreten Pflegemaßnahme anvertraut war, so dass keine voll beherrschbare Gefahr vorlag.

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BGH konkretisiert drittschützende Wirkung von Anwaltsverträgen

Stefan KrappelStefan Krappel

BGH, Urteil vom 09.07.2020, Aktenzeichen: IX ZR 289/19

Leitsatz:

Auch im Anwaltsvertrag gilt: Wenn Dritte in die Schutzwirkung des Anwaltsvertrages einbezogen werden sollen, müssen diese bestimmungsgemäß mit der Hauptleistung in Berührung kommen. Die erforderliche Leistungsnähe entsteht nicht bereits dann, wenn nahestehende Dritte aus demselben Rechtsgrund und gegen denselben Anspruchsgegner Ansprüche haben könnten.

 

Sachverhalt:

Bei einem Unfall im Jahr 2006 wurde die Mutter der beiden Klägerinnen schwer verletzt. Sie wurde dauerhaft pflegebedürftig und war auf einen Rollstuhl angewiesen. Nach dem Unfall beauftragte die Mutter der Klägerin eine Rechtsanwältin mit der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen, woraufhin die Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers ihre volle Einstandspflicht erklärte. Im Dezember 2007 beauftragt die Mutter der Klägerinnen den beklagten Rechtsanwalt mit der Weiterverfolgung der Schadensersatzansprüchen. Das Mandat endete im Mai 2016.

Die Klägerinnen sind seit den Jahren 2013 und 2016 in psychotherapeutischer Behandlung. Sie behaupten, dass ihre Leiden ebenfalls auf den Unfall, bei dem sie auch in dem Fahrzeug der Mutter gesessen hätten und leicht verletzt worden seien, zurückzuführen sind. Sie meinen, der Beklagte hätte im Rahmen des Mandats auch über die ihm zustehenden Ansprüche aufklären und beraten müssen, dies sei fehlerhaft unterblieben.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerinnen hatte keinen Erfolg.

 

Entscheidung: 

Auch der BGH hat die Ansprüche der Klägerinnen und deren Revision zurückgewiesen.

Der BGH hat sich in seinem Urteil damit befasst, wie weit ein Anwaltsvertrag im Hinblick auf Pflichten gegenüber Dritten reicht und unter welchen Voraussetzungen diese in den Schutzbereich des Anwaltsvertrags mit einbezogen werden können.

Unstreitig ist kein eigenes Mandatsverhältnis zwischen den Klägerinnen und dem beklagten Rechtsanwalt zustande gekommen. Eine ausdrückliche Einbeziehung in den Anwaltsvertrag der Mutter hat ebenfalls nicht stattgefunden. Die Einbeziehung ergab sich – so der BGH – auch nicht aus einer ergänzenden Vertragsauslegung.

Nach allgemeinen Kriterien ist eine Einbeziehung in einen Vertrag mit Schutzwirkung zu Gunsten Dritter, woran der BGH festhält, nachfolgenden Kriterien möglich:

  • Leistungsnähe
  • Gläubigernähe und schutzwürdiges Interesse des Gläubigers an der Einbeziehung des Dritten in den Schutzbereich des Beratungsvertrages
  • Einbeziehung des Dritten für den Schuldner erkennbar
  • keine inhaltsgleichen vertraglichen Ansprüche.

Im vorliegenden Fall scheiterte die Annahme eines drittschützenden Vertrages schon daran, weil es an der erforderlichen Leistungsnähe fehlte. Das erforderliche Näheverhältnis zur Hauptleistung liegt nach dem BGH nur vor, wenn die Leistungen des Rechtsanwalts bestimmte Rechtsgüter eines Dritten nach der objektiven Interessenlage im Einzelfall mit Rücksicht auf den Vertragszweck bestimmungsgemäß, typischerweise beeinträchtigen kann. Entscheidend für eine Ersatzpflicht hinsichtlich von Vermögensschäden des Dritten ist, ob die vom Anwalt zu erbringende Leistung nach objektivem Empfängerhorizont auch dazu bestimmt ist, dem Dritten Schutz vor möglichen Vermögensschäden zu vermitteln. Der Auftraggeber muss ein entscheidendes Eigeninteresse an der Wahrung der Drittinteressen haben. Inwieweit dieses Näheverhältnis besteht, hängt entscheidend von Ausprägungen im Inhalt des anwaltlichen Beratungsvertrages ab.

Im vorliegenden Fall hatte schon das Berufungsgericht festgestellt, dass Gegenstand des Vertrages zwischen der Mutter und dem Beklagten (lediglich) war, unfallbedingte, zuvor von einer anderen Rechtsanwältin verfolgte Schadensersatzansprüchen ausschließlich der Mutter der Klägerinnen gegenüber der Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers zu verfolgen, wobei die Höhe zum Zeitpunkt der Mandatierung naturgemäß unklar war. Die Klägerinnen waren an diesem Rechtsverhältnis persönlich nicht beteiligt und hierdurch in ihren Rechtspositionen allenfalls mittelbar und gerade nicht unmittelbar betroffen.

Für die Annahme eines Vertrages mit Schutzwirkung zu Gunsten Dritter entsteht nach dem Anwaltshaftungssenat eine Leistungsnähe nicht bereits dann, wenn sich für den Rechtsanwalt Anhaltspunkte für eigene Ansprüche Dritter aus demselben Rechtsgrund und gegen denselben Anspruchsgegner ergeben, selbst wenn diese Dritten dem eigenen Mandanten (zufällig) nahe stehen.

Vorsorglich hielt der BGH fest, dass für den vorliegenden Einzelfall etwaige Hinweispflichten auch daran gescheitert wären, dass die Gefährdung von Vermögensinteressen der Klägerinnen als Dritten für den beklagten Rechtsanwalt nicht offenkundig war, da sich diesem nicht bei Übernahme des Mandates aufdrängen musste, dass diese unfallbedingt sechs und zehn Jahre später psychisch erkranken würden und ihnen aus diesem Grund möglicherweise eigene Schadensersatzansprüche aus dem Unfallereignis zustehen könnten. Die zum Unfallzeitpunkt im Auto befindlichen Klägerin hatte zunächst keine Schäden davongetragen. Deren Entwicklung verlief zunächst ohne offensichtliche äußere Probleme.

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Rechtsschutzversicherung an Deckungszusage gebunden

Stefan KrappelStefan Krappel

Thüringer Oberlandesgericht, Urteil vom 31.01.2020, Aktenzeichen: 9 U 845/18

Leitsatz:

Hat eine Rechtsschutzversicherung Deckungszusage für einen Prozess erteilt, ohne dass diese durch falsche Angaben erlangt worden ist, so greift ein Anscheinsbeweis, dass der Versicherungsnehmer würde den Prozess nicht geführt haben, nicht ein.

Ein Rechtsschutzversicherer ist zu einer sorgfältigen Prüfung der Sach- und Rechtslage verpflichtet, bevor eine Deckungszusage erteilt. Kommt er dieser Prüfungspflicht nicht oder nur unzureichend nach, ist er an die Deckungszusage gebunden.

 

Sachverhalt:

Die Klägerin hat Ansprüche als Schadensabwicklungsgesellschaft einer Rechtsschutzversicherungs AG geltend (zusammengefasst im folgenden als Klägerin gegen Rechtsanwälte aus übergegangenem Recht gemäß § 86 VVG verfolgt.  Die Beklagten waren im Jahr 2011 für den Versicherungsnehmer der Klägerin mit einer Schadensersatzklage gegen einen Lebensversicherungskonzern wegen fehlerhafter Kapitalanlageberatung mandatiert. Im Dezember verfassten diese einen Antrag auf außergerichtliche Streitschlichtung. Der Güteantrag entsprach 12.000 ähnlich formulierten Güteanträgen anderer Anleger. Erst gut zehn Monate nach Eingang wurden die Güteanträge an die Fondsgesellschaft versandt.

Nach Scheitern der Schlichtung wurde nach Einholung einer Deckungszusage Klage erhoben.

Mit Urteil vom 18.06.2015, Az.: III ZR 198/14, entschied der BGH in anderer Sache, welche formellen Anforderungen an einen Schlichtungsantrag zu stellen sind, damit er die Verjährung hemmt.

Die Klage des Versicherungsnehmers wurde wegen Verjährung mit Urteil vom 01.02.2016 abgewiesen.

Die Klägerin erteilte am 08.03.2016 Deckungsschutzzusage für das Berufungsverfahren gegen das landgerichtliche Urteil. Das OLG Hamm wies die Berufung durch Beschluss vom 23.08.2016 ohne mündliche Verhandlung zurück.

Die Klägerin warf den beklagten Anwälten vor, zunächst keinen ausreichenden verjährungshemmenden Güteantrag gestellt und nachher nicht von einer Klage über den verjährten Anspruch abgeraten zu haben.

Nachdem schon das Landgericht die Klage abgewiesen hatte, hatte auch die Berufung vor dem OLG Jena keinen Erfolg.

 

Entscheidung: 

Zunächst hat das OLG Jena klargestellt, dass die erhöhten Anforderungen an eine Individualisierung des im Güteantrag geltend gemachten Anspruchs erst mit Veröffentlichung des Urteils des BGH vom 18.06.2015, AZ: III ZR 198/14 zu beachten waren. Zwar wurde der Güteantrag vom 29.12.2011 den Anforderungen nicht gerecht. In dieser Phase bei Einreichung des Güteantrags musste die entsprechende Rechtsprechung des BGH, den Rechtsanwälten aber noch nicht bekannt sein. Nach den Feststellungen des OLG Jena durften die Beklagten bei Klageeinreichung im Juni 2013 davon ausgehen, dass ihr Güteantrag den Anforderungen an eine Individualisierung des Streitgegenstands genügt hatte (so auch OLG Köln vom 23.05.2019, AZ: 24 U 122/18 sowie OLG Stuttgart vom 24.10.2017, AZ: 12 U 29/17). Die Beklagten brauchten auch bei Klageerhebung nicht auf ein Risiko hinweisen, dass sich die Rechtsprechung des BGH zum Güteantrag ändern könnte, weil dies nicht vorhersehbar war.

Aus Sicht des OLG Jena hätte die Klage zu diesem Zeitpunkt, als das Urteil des BGH bekannt wurde, noch zurückgenommen werden können, um so den Kostenschaden zu reduzieren. Gleichwohl versagte es der Klägerin Schadensersatzansprüche auch im Übrigen – weder habe die Klage zurückgenommen werden müssen, noch von Einleitung des Berufungsverfahrens abgesehen werden müssen.

Das OLG Jena hat in diesem Zusammenhang zunächst offengelassen, ob die Beklagten den Versicherungsnehmer auf die nunmehr nach dem BGH-Urteil gestiegenen Risiken der Klage bzw. einer Berufung bzw. auf die Möglichkeit einer Kostenersparnis hätten hinweisen müssen, da die Schadenskausalität sich allein nach der Frage bemesse, ob der Mandant dem Rat des Anwalts auch gefolgt wäre. Den Beweis, dass der Versicherungsnehmer sich bei anderer Art der Beratung gegen die Fortführung der Klage und ein Berufungsverfahren entschieden hätte, hat die Klägerin nicht geführt.

Auf einen Anscheinsbeweis bzw. die Vermutung beratungsgerechten Verhaltens konnte die Klägerin sich nicht berufen. Das OLG Jena führte insoweit aus: Hat eine Rechtsschutzversicherung eine Deckungszusage für einen Prozess erteilt, ohne dass diese durch falsche Angaben erlangt worden ist, so greift ein Anscheinsbeweis gerade der Gestalt, dass der Versicherungsnehmer den Prozess bei anderer Beratung und Kenntnis geringer Erfolgsaussichten nicht geführt haben würde, nicht ein; denn auch für einen vernünftig handelnden, kostenempfindlichen Mandanten würde bei Vorliegen einer Deckungsschutzzusage der Rechtsschutzversicherung das Wagnis einer nur gering erfolgversprechenden Prozessführung als ergreifungswürdige Chance erscheinen (vgl. so auch OLG Hamm, NJW-RR 2005, 134; KG NJW 2014, 397). Das OLG Jena meint, dass etwas anderes nur dann gelten kann, wenn die Klägerin berechtigt gewesen wäre, ihre Deckungszusage zu widerrufen, was vorliegend aber nicht der Fall war. Hierfür müssen bestimmte Voraussetzungen gegeben sein, so insbesondere das nachträglich hervortreten eines Risikoausschlusses oder die vorsätzliche Herbeiführung des Versicherungsfalls.

Hinzukam, dass auch die Klägerin richtig informiert war. Bei Einholung der Deckungszusage durch die Beklagten wurde die Klägerin ausdrücklich auf die geänderte BGH-Rechtsprechung hingewiesen. Mit den darin enthaltenen Angaben war der Klägerin eine eigene Prüfung der Rechtslage und der Risiken möglich. Nach Auffassung des OLG Jena war der Rechtsschutzversicherer dann zu einer sorgfältigen Prüfung bedingungsgemäß verpflichtet, bevor er eine Deckungszusage erteilt.

Da die Deckungszusage vom Versicherer bei sachgerechter Information nicht widerrufen werden konnte, war vielmehr zu erwarten, dass der Versicherungsnehmer stets ein Berufungsmandat erteilt hätte. Nach Erteilung der Deckungszusage bestand für den Mandanten keinerlei Kostenrisiko mehr. Es war deshalb nicht pflichtwidrig, sondern – so das OLG – sogar gerade im Interesse der Mandanten liegend, dass die Beklagten zu einer Berufung geraten haben.

Anmerkung: 

Das OLG Jena setzt sich ausdrücklich nicht in Widerspruch zu anderen OLG-Entscheidungen, die die Bindung eines Rechtsschutzversicherers im Zusammenhang mit Anwaltshaftungsansprüchen an Deckungszusagen verneint haben, sondern sieht dies als reine Kausalitätsfrage an.

 

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Vermögensbeeinträchtigung beim Betreuten

Stefan KrappelStefan Krappel

OLG Frankfurt, Urteil vom 13.08.2019 — Aktenzeichen: 8 U 199/15

Sachverhalt

Der beklagte Betreuer hat den Betreuten im Pflegeheim aufgesucht. Dort wurde ihm mitgeteilt, dass trotz des drohenden Winters außer Schuhen fast keine Kleidung vorhanden sei. Der Beklagte konnte außer Schuhen und einem Schlafanzug keine weiteren Textilien auffinden. Der Beklagte erwarb deshalb aus dem Vermögen des Betreuten heraus neue Kleidungsstücke.

Im vorliegenden Verfahren wurde dem Betreuten gleichwohl die entsprechende Ausgabe vorgeworfen, weil es sich um eine sinnlose Ausgabe gehandelt haben soll; schon der Sohn habe sich um die Kleidung für den Betreuten gekümmert.

 

Entscheidung

Das OLG Frankfurt hat die Berufung des Klägers insoweit zurückgewiesen. Unabhängig von der Frage einer potentiellen Pflichtverletzung des Betreuers konnte das Berufungsgericht keinen Schaden feststellen.

Nach ständiger Rechtsprechung beurteilt sich die Frage, ob ein Vermögensschaden vorliegt, grundsätzlich nach der Differenzhypothese, also nach einem Vergleich der infolge des haftungsbegründenden Ereignisses eingetretenen Vermögenslage mit derjenigen, die sich ohne jenes Ereignis ergeben hätte. Ein Schaden setzt voraus, dass sich die Vermögenslage des Geschädigten objektiv verschlechtert hat; eine bloße Vermögensgefährdung genügt noch nicht. Ein Schaden kann deshalb darin liegen, dass ein Kaufgegenstand seinen Kaufpreis gar nicht wert ist, was das OLG Frankfurt im vorliegenden Fall allerdings nicht feststellen konnte.

Ist der Kaufgegenstand den Kaufpreis wert, so kann ein Vermögensschaden dennoch darin liegen, dass der Betroffene in seinen Vermögensdispositionen beeinträchtigt ist. Nach Auffassung des OLG setzt die Annahme eines Vermögensschadens dann allerdings voraus, dass die erlangte Leistung nicht nur aus rein subjektiver willkürlicher Sicht als Schaden angesehen wird, sondern dass auch die Verkehrsanschauung bei Berücksichtigung der obwaltenden Umstände den Vertragsschluss als unvernünftig, den konkreten Vermögensinteressen nicht angemessen und damit als nachteilig ansieht. Auch nach diesen Kriterien konnte ein Schaden im vorliegenden Fall aber nicht festgestellt werden. Insbesondere handelte es sich nicht um für den Betreuten von Anfang an ungeeignete – wie etwas viel zu große oder zu kleine – Kleidungsstücke.

Hierzu hat das OLG auch ausgeführt, dass selbst der Erwerb von Kleidungsstücken, die sich möglicherweise bereits in ähnlicher Ausführung bereits im Kleiderschrank befunden haben mögen oder vom Sohn beschafft worden seien, den Erwerb für sich genommen noch nicht unvernünftig mache, da es durchaus legitim sei, eine Vielzahl ähnlicher Kleidungsstücke zu besitzen. Ob dies anders zu betrachten wäre, wenn der Beklagte für den Betreuten Kleidungsstücke gekauft hätte, die bereits in großer Menge vorrätig waren, ließ das OLG aufgrund der gegenteiligen Feststellungen im Sachverhalt offen.

Die getroffene Entscheidung lässt sich auf anderer Fallgestaltungen übertragen, in denen der Betreuer für den Betreuten Erwerbsgeschäfte tätigt.

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Pflicht zur mündelsicheren Anlage

Stefan KrappelStefan Krappel

LG Flensburg, Urteil vom 19.07.2019 — Aktenzeichen: 2 O 365/16

Sachverhalt

Am 26.12.2000 verstarb der Erblasser. Dieser hatte bereits vor seinem Tod mit der Beklagten darüber gesprochen, dass es sein Wunsch sei, dass seine Tochter nach seinem Tod in die Familie der Beklagten aufgenommen werde. Betroffen war die schwerstbehinderte Tochter, die eine 24-Stunden-Betreuung benötigte und testamentarisch vom Erblasser als befreite Vorerbin eingesetzt worden war. Noch im Dezember 2000 wurde die Beklagte vom Amtsgericht als Betreuerin bestellt, wobei die Betreuung auch die Vermögenssorge umfasste.

Im März 2001 war ein Vermögen von 4,7 Mio. DM vorhanden, zum 01.01.2002 etwa 2,2 Mio. Euro, wobei es sich bei etwa 1,7 Mio. Euro um liquides Vermögen handelte. Im Juni 2002 schloss die Beklagte eine Haftpflichtversicherung im Hinblick auf die Vermögensverwaltung ab und begann, Veränderungen im Anlagevermögen der Tochter vorzunehmen. Im Zeitpunkt des Todes der Tochter betrug das liquide Vermögen nur noch 157.788,21 Euro. Der Anteil mündelsicherer Anlagen im Vermögen der Tochter betrug zum 01.01.2002 1,32 %, im Jahr 2005 6,78 %, im Jahr 2008 31 %, im Jahr 2011 55,9 % und im Jahr 2013 70 %.

Der Kläger -nahm die Beklagte nach dem Versterben der Tochter als Nacherbe in Anspruch. Er behauptete, durch fehlerhafte Vermögensverwaltung sei ein Verlust in Höhe von mindestens 336.000,00 € entstanden. Dabei legte er zugrunde, dass schon seit dem 01.01.2002 70 % des liquiden Vermögens mündelsicher hätten angelegt werden können; bei Zugrundelegung eines Überlegungszeitraumes von etwa drei bis sechs Monaten hätte das Anlagevermögen insoweit besser abgesichert werden müssen.

Entscheidung

Das Landgericht hat die Klage, soweit sie auf Ersatz entsprechender Schäden gerichtet war, abgewiesen. Nach Auffassung des Landgerichts hat die Betreuerin keine Pflichten verletzt, auch wenn sie nicht nach einem Zeitraum von drei bis sechs Monaten das gesamte Anlagevermögen in eine mündelsichere Anlage überführt hat.

Nach Auffassung des Landgerichts führt die Pflicht zur mündelsicheren Anlage nicht dazu, dass ein Betreuer, der nicht mündelsicher angelegtes Vermögen vorfindet, dieses kurzfristig insgesamt in eine mündelsichere Anlage umzuwandeln hat. Vielmehr hat der Betreuer im Einzelfall und nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, ob er die vorhandene Anlage in eine mündelsichere Anlage umwandelt, was nach Ansicht des Landgerichts daraus folgt, dass grundsätzlich die Vermögensverwaltung im Interesse des Bertreuten fortgeführt werden soll und dessen eigene Entscheidung für bestimmte Anlagenformen respektiert werden sollen. Nach Auffassung des Landgerichts gilt vorliegend dasselbe für die vom Vater der Betreuten gewählten Anlageformen, die es zu respektieren galt.

Obwohl die Beklagte dann im Anschluss doch die Anlageentscheidungen geändert hatte, stellte dies im vorliegenden Fall keine Pflichtverletzung dar. Nach Auffassung des Landgerichts erforderte gerade die Verwaltung eines umfangreichen Vermögens Anlageentscheidungen, die nicht im Voraus für viele Jahre getroffen werden können, sondern regelmäßig aktualisiert werden müssen. Insofern kam das Landgericht zu dem Ergebnis, dass es weder eine feste Quote noch einen bestimmten Zeitraum gibt, innerhalb dessen das Vermögen mündelsicher angelegt werden müsste. Vielmehr handele es sich bei der Vermögensverwaltung um eine Vielzahl von Einzelfallentscheidungen, die jeweils lediglich nach pflichtgemäßem Ermessen zu erfolgen hätte. Wer deshalb Schadensersatzansprüche geltend machen will, muss sich mit sämtlichen im Depot vorhandenen Anlagen auseinandersetzen und für jede einzelne Anlage substantiiert darlegen, warum diese zu welchem Zeitpunkt und in welcher Form hätte verändert werden müssen, bzw. für eine vorgenommene Veränderung darstellen, warum diese Veränderung nicht hätte vorgenommen werden müssen.

 

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