Substantiierungspflicht des Patienten im Arzthaftungsprozess

BGH, Urteil vom 15.7.2014 — Aktenzeichen: VI ZR 176/13

In einem jüngeren Beschluss des Bundesgerichtshofes vom 15.07.2014 weist der BGH erneut auf die maßvollen Anforderungen zur Substantiierungspflicht des Patienten im Rahmen eines Arzthaftungsprozesses hin.

Im konkreten Fall hatte der Kläger nach einem Sturz im August 2008 einen Bänderriss im Knie erlitten. Am 10.09.2008 erfolgte deswegen eine arthroskopische Behandlung. Am 18.12.2008 setzte der Beklagte dem Kläger eine teilzementierte Doppelschlittenprothese ein, wobei die Durchführung der Operation unstreitig lege artis erfolgte. Wegen anhaltender Beschwerden erfolgte im Juli 2009 eine weitere Operation in einem anderen Krankenhaus, bei der ein Prothesenwechsel auf eine teilzementierte, stehend gekoppelte Doppelschlittenprothese mit Patellaersatz erfolgte.

Nachdem der Kläger zunächst seine Klage auf den Vorwurf gestützt hatte, dass eine Prothese nicht indiziert gewesene sei, machte er in der mündlichen Verhandlung vom 20.06.2012 geltend, er habe jedenfalls statt mit einer ungekoppelten mit einer gekoppelten / teilgekoppelten Prothese versorgt werden müssen. Das LG wies die Klage nach Einholung eines Gutachtens und Anhörung des Sachverständigen im Termin vom 20.06.2012 ab. Das OLG wies die Berufung des Klägers gem. § 522 Abs. 2 ZPO im Beschlussweg zurück mit der Begründung, bei dem Vorbringen des Klägers , statt der Doppelschlittenprothese hätte im Dezember 2008 eine gekoppelte / teilgekoppelte Prothese eingesetzt werden müssen, handele es sich um nicht zu berücksichtigendes Vorbringen, § 531 Abs. 2 ZPO. Die dagegen eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde führte zur Aufhebung der Berufungsentscheidung und zur Zurückverweisung. Der BGH führt zur Begründung aus:

1. Rechtsfehlerhaft sei die Annahme des OLG, das Vorbringen des Klägers zur gekoppelten / teilgekoppelten Prothese sei neu und daher nach § 531 Abs. 2 ZPO nicht zu berücksichtigen: „Neu“ im Sinne dieser Vorschrift sei ein Angriffs- oder Verteidigungsmittel nur, wenn es nicht bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz vorgebracht und deswegen im erstinstanzlichen Urteil unberücksichtigt geblieben sei. „Neu“ sei ferner in erster Instanz sehr allgemein gehaltener bzw. nur angedeuteter Vortrag, der erst in der Berufung substantiiert werde. Beide Varianten seien hier nicht gegeben, da der Kläger diesen Sachvortrag in der mündlichen Verhandlung vom 20.06.2012 vor deren Schluss vorgetragen habe und dass LG den Vortrag nicht als verspätet gewertet habe.

2. Fehlerhaft habe das Berufungsgericht weiter dem Kläger den Vorwurf gemacht, den von ihm angenommenen ärztlichen Fehler nicht zu einem früheren Zeitpunkt geltend gemacht zu haben (Verspätung gem. §§ 296 Abs. 1, 282 Abs. 2 ZPO). § 531 Abs. 2 ZPO erlaube es dem Berufungsgericht nicht, eine von der Vorinstanz unterlassene Zurückweisung wegen Verspätung nachzuholen, sondern ausschließlich die Prüfung, ob eine Zurückweisung von Vorbringen zu Recht erfolgte.

3. Vor allem berücksichtige das Berufungsgericht aber nicht die ständige Rechtsprechung des BGH, wonach an die Informations- und Substantiierungspflicht der Partei im Arzthaftungsprozess nur maßvolle Anforderungen gestellt werden dürfen. Vom Patienten könne keine genaue Kenntnis der medizinischen Vorgänge erwartet und gefordert werden, weshalb er sich auf den Vortrag beschränken dürfe, der die Vermutung eines fehlerhaftem Verhaltens des Arztes aufgrund der Folgen für den Patienten gestatte. Insbesondere sei die Partei nicht verpflichtet, sich zur ordnungsgemäßen Prozessführung medizinisches Fachwissen anzueignen. Auch aus diesem Grund sei der Vorwurf des Berufungsgerichtes, der Kläger habe die vorgebrachten Operationsalternativen bereits in der Klageschrift oder spätestens nach Vorlage des Sachverständigengutachtens geltend machen müssen, unberechtigt.

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Anforderungen an den Inhalt einer Berufungsschrift

BGH, Urteil vom 11.3.2014 — Aktenzeichen: VI ZB 22/13

Leitsatz
1. Gem. § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 ZPO hat der Berufungsführer konkrete Anhaltspunkte zu bezeichnen, die Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen im angefochtenen Urteil begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten.

2. Für die Rüge des Verfahrensfehlers einer unvollständigen Beweiswürdigung (Verstoß gegen § 286 ZPO) reicht es aus, dass eine Partei geltend macht, das erstinstanzliche Gericht sei unkritisch den Ausführungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen gefolgt, ohne sich mit den Einwendungen aus den vorgelegten Privatgutachten auseinanderzusetzen. Im Arzthaftungsprozess hat damit der Berufungsführer hinreichend konkrete Anhaltspunkte aufgezeigt, die Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten können.

Sachverhalt
Die Klägerin nahm im zugrunde liegenden Fall einen sie behandelnden Arzt und den Träger der Behandlungseinrichtung, in der dieser tätig war, auf Schadenersatz in Anspruch. Das Landgericht (LG) veranlasste ein gerichtliches Sachverständigengutachten. Nach dessen Vorlage machte die Klägerin auf Grundlage eines von ihr eingeholten Privatgutachtens geltend, dass sehr wohl konkrete — im Einzelnen von der Klägerin näher dargelegte — Behandlungsmaßnahmen fehlerhaft gewesen seien. Das LG wies die Klage ab. Mit der Berufung machte die Klägerin geltend, dass LG sei unkritisch den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen gefolgt, ohne sich mit dem von ihr eingeholten Privatgutachten auseinanderzusetzen. Das LG habe es versäumt, trotz der Widersprüche zwischen dem Privat- und dem Gerichtsgutachten auch den Privatgutachter anzuhören oder ein weiteres, von ihr beantragtes Gutachten einzuholen, hilfsweise den gerichtlichen Sachverständigen ergänzend zu befragen.

Das OLG hatte die Berufung als unzulässig verworfen, weil sie nicht in der gesetzlich vorgeschriebenen Form begründet worden sei. Die Berufung zeige nicht auf, dass die Entscheidung des LG auf einer unzureichenden Würdigung und Auseinandersetzung mit dem Privatgutachten beruhe. Es sei nicht ersichtlich, welche Feststellungen angegriffen würden. Der gerichtliche Sachverständige sei zum Gutachten des Privatgutachters ergänzend befragt worden. Er habe hierzu angegeben, dass er keine Abweichung vom Facharztstandard sehe.

Entscheidung
Der BGH stellt in seinem Beschluss klar, dass die Klägerin mit den Ausführungen ihrer Berufungsbegründung den Erfordernissen des § 520 Abs.3 Satz 2 Nr. 2, Nr. 3 ZPO gerecht geworden sei. Mit ihren insoweit erhobenen Rügen habe sie hinreichend konkrete Anhaltspunkte aufgezeigt, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten könnten. Das Gericht habe in Arzthaftungsprozessen die Pflicht, sich mit von der Partei vorgelegten Privatgutachten auseinanderzusetzen und auf die weitere Klärung des Sachverhalts hinzuwirken, wenn sich ein Widerspruch zum Gerichtsgutachten ergebe. Lege eine Partei ein Privatgutachten vor, das im Gegensatz zu den Erkenntnissen des gerichtlich bestellten Sachverständigen stehe, so sei vom Tatrichter besonderer Sorgfalt gefordert. Er dürfe in diesem Fall den Streit der Sachverständigen nicht dadurch entscheiden, dass er ohne einleuchtende und logisch nachvollziehbare Begründung einem von ihnen den Vorzug gebe.

Da das LG in seinem Urteil in den Entscheidungsgründen aber nichts dazu ausgeführt habe, warum es den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen den Vorzug gegenüber denen des Privatgutachters gebe, und da die Klägerin dies mit ihren Ausführungen in der Berufungsbegründung vorgetragen habe, sei die Berufung formgerecht begründet und daher zulässig.

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Beweiswert von Leitlinien

BGH, Urteil vom 15.4.2014 — Aktenzeichen: VI ZR 382/12

Leitsatz
Handlungsanweisungen in Leitlinien ärztlicher Fachgremien oder Verbände dürfen nicht unbesehen mit dem medizinischen Standard gleichgesetzt werden. Dies gilt in besonderem Maße für Leitlinien, die erst nach der zu beurteilenden medizinischen Behandlung veröffentlicht worden sind. Leitlinien ersetzen kein Sachverständigengutachten. Zwar können sie im Einzelfall den medizinischen Standard für den Zeitpunkt ihres Erlasses zutreffend beschreiben; sie können aber auch Standards ärztlicher Behandlung fortentwickeln oder ihrerseits veralten.

Sachverhalt
Die Mutter der Klägerin wurde in der 27. Schwangerschaftswoche wegen vorzeitiger Wehen und einer Cervixinsuffizienz in dem von der Bekl. zu 1 betriebenen Krankenhaus aufgenommen. Im Verlauf der nachfolgenden Behandlung kam es zu Komplikationen. Da es sich um eine Zwillingsschwangerschaft handelte, wurden zwei Neonatologen aus dem von der Bekl. zu 2 betriebenen Klinikum angefordert. Die Klägerin wurde als zweites Zwillingsmädchen geboren. Als sie vom Operationstisch zum Reanimationsplatz getragen wurde, tropfte aus dem sie umhüllenden Tuch Blut. Bei der weiteren Behandlung und Untersuchung wurde ein Einriss der Nabelschnur zwischen dem Körper der Klägerin und der Nabelklemme festgestellt. Nachfolgende Behandlungen und Verlegungen der Klägerin konnten nicht verhindern, dass die Klägerin u.a. an einer spastischen Tetraparese und an einer fokalen Epilepsie leidet.

Das Landgericht hatte die auf Zahlung von Schmerzensgeld und Feststellung der Ersatzverpflichtung der Beklagten gerichtete Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht mit Grund- und Teilurteil dem Feststellungsantrag gegen beide Beklagten entsprochen und den Leistungsantrag dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Dieses Urteil ist hinsichtlich der Bekl. zu 2 rechtskräftig. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Bekl. zu 1 hatte der BGH zunächst das Grund- und Teilurteil aufgehoben, soweit zum Nachteil der Bekl. zu 1 erkannt worden war, und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurückverwiesen. Mit Teilurteil hat das OLG die Berufung der Klägerin gegen das landgerichtliche Urteil in Bezug auf die Bekl. zu 1 zurückgewiesen. Die Bekl. zu 2 ist daraufhin dem Rechtsstreit auf Seiten der Klägerin als Nebenintervenientin beigetreten. Mit der vom OLG zugelassenen Revision begehrt sie die Verurteilung der Bekl. zu 1.

Entscheidung
Der BGH hat die Revision zurückgewiesen.

Das Berufungsgericht habe zurecht angenommen, den Ärzten der Bekl. zu 1 sei nicht deshalb ein Behandlungsfehler vorzuwerfen, weil sie die Mutter der Klägerin in dem von der Bekl. zu 1 betriebenen Krankenhaus der Grundversorgung aufgenommen und behandelt haben, statt ihr die Aufnahme in einem Perinatalzentrum nahezulegen.

Das Berufungsgericht sei nach Einholung von Gutachten der Sachverständigen und — teils mehrfacher — Anhörung dieser Sachverständigen und weiterer Gutachter auf der Grundlage einer umfassenden Gesamtwürdigung zu dem Ergebnis gekommen, es könne nicht festgestellt werden, dass es im Behandlungszeitpunkt bereits einen medizinischen Standard gegeben habe, der die Verlegung von Risikoschwangeren in ein Perinatalzentrum gefordert habe. [ Einzelheiten werden näher ausgeführt]

Die Revision könne sich auch nicht auf Verfahrensfehler im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung berufen, weil Leitlinien nicht berücksichtigt worden seien.

Leitlinien fassten nämlich nicht nur das zusammen, was bereits zuvor medizinischer Standard war. Handlungsanweisungen in Leitlinien ärztlicher Fachgremien oder Verbände dürften nicht unbesehen mit dem medizinischen Standard gleichgesetzt werden. Dies gelte in besonderem Maße für Leitlinien, die erst nach der zu beurteilenden medizinischen Behandlung veröffentlicht worden seien. Leitlinien ersetzten kein Sachverständigengutachten. Zwar könnten sie im Einzelfall den medizinischen Standard für den Zeitpunkt ihres Erlasses zutreffend beschreiben; sie könnten aber auch Standards ärztlicher Behandlung fortentwickeln oder ihrerseits veralten.

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Haftung des Krankenhausträgers für Befunderhebungsfehler eines Konsiliararztes

BGH, Urteil vom 21.1.2104 — Aktenzeichen: VI ZR 78/13

Leitsatz
Ein Krankenhausträger haftet einem Patienten für Arztfehler eines Konsiliararztes als seines Erfüllungsgehilfen aus Vertrag (§ 278 BGB), wenn der Konsiliararzt hinzugezogen wird, weil es dem Krankenhaus an eigenem fachkundigen Personal mangelt, der Krankenhausträger mit den Leistungen des Konsiliararztes seine vertraglichen Verpflichtungen gegenüber dem Patienten (hier: im Rahmen einer Schlaganfalleinheit) erfüllt und die Honorierung des Konsiliararztes durch den Krankenhausträger erfolgt.

Sachverhalt
Bei der Klägerin, einer zum Schadenszeitpunkt im Polizeidienst tätigen Beamtin auf Probe, trat am Abend des 12.11.2003 eine Thrombose der inneren Hirnnerven auf. Sie wurde aufgrund der vorliegenden Beschwerden von einem Arzt in die Klinik der Beklagten zu 1) (Krankenhaus) eingewiesen. Der dort konsiliarisch tätige Beklagte zu 2) erkannte die Ursachen der Beschwerden (Thrombose) nicht. Erst am nächsten Tag erfolgte nach Durchführung weiterer Untersuchungen eine Verlegung der Klägerin in das Universitätsklinikum. Infolge der Hirnvenenthrombose ist die Klägerin körperlich und geistig schwerst behindert.

Im Instanzenzug streitig war u.a. die Frage der Haftung der Beklagten zu 1) für den Beklagten zu 2) als Konsiliararzt.

Entscheidung
Der BGH bejaht eine Haftung des Krankenhausträgers für den Konsiliararzt, wenn dieser im Einzelfall Erfüllungsgehilfe des Krankenhauses ist. Wann dies — in Abgrenzung zu Fällen, in denen der Konsiliararzt nicht Erfüllungsgehilfe ist — der Fall ist, definiert der BGH näher:

Der BGH stellt klar, dass der Begriff des „Konsiliararztes“ legal nicht definiert ist. Häufig sei der Konsiliararzt gerade nicht Erfüllungsgehilfe eine Krankenhauses, und zwar insbesondere dann, wenn zwischen ihm und dem Patienten eine (weitere) vertragliche Beziehung zustande kommt. Es gelte die Faustregel, dass derjenige hafte, der liquidiert.

Allerdings läge ein derartige Fallkonstellation im jetzigen BGH-Fall gerade nicht vor: Die Beklagte zu 1) habe nämlich mit der Hinzuziehung des Beklagten zu 2) ihre eigenen vertraglichen Verpflichtungen gegenüber der Klägerin erfüllt. Weil die Beklagte zu 1) in der Nach nicht in der Lage war, ein CT fachkundig von angestellten Ärzten befunden zu lassen, hatte sie mit externen Ärzten eine vertragliche Regelung getroffen, die zur Befundung herbeigezogen wurden. Der Beklagte zu 2) wurde damit im Rahmen der Erfüllung der Verbindlichkeit der Beklagten zu 1), die eingelieferte Klägerin fachkundig zu versorgen, tätig. Primär oblag diese Versorgung der Beklagten zu 1), die mit der Einrichtung einer Schlaganfalleinheit die Voraussetzung dafür geschaffen hatte, dass spezifisch gefährdete Patienten bei ihr eingeliefert werden. Es war daher weitergehend aufgrund der von den Vorinstanzen getroffenen Feststellungen davon auszugehen, das der Beklagte zu 2) für ein umfassend zuständiges — bzw. als solches nach außen auftretendes — Krankenhaus tätig und von diesem auch honoriert wurde. In einem solchen Fall müsse sich der Krankenhausträger einen Fehler des zugezogenen Konsiliararztes zurechnen lassen.

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Arglistanfechtung und Rücktritt von einem Krankenversicherungsvertrag.

OLG Stuttgart, Urteil vom 26.8.2013 — Aktenzeichen: 7 C 101/13

Leitsatz
1. Wird ein Kunde im Wege der sog. „Kaltakquise“ (Ausspannen von Kunden) nach wiederholten Besuchen durch einen Agenten gewonnen, kann dies die üblichen Indizien für Arglist bei unvollständigen Gesundheitsangaben stark entwerten.

2. Die Platzierung der Hinweise auf die Rechtsfolgen falscher Gesundheitsangaben in einem Antragsformularsatz auf der letzten Seite, mehrere Seiten nach der Unterschrift, kann bei der Antragstellung leicht übersehen werden und ist aus diesem Grunde nicht ausreichend, so dass der Versicherer u.a. sein Recht zum Rücktritt nicht ausüben kann.

Sachverhalt
In dem vom OLG Stuttgart zu entscheidenden Fall begehrte der Kläger die Feststellung, dass der Krankenversicherungsvertrag mit der dortigen Beklagten (Krankenversicherung) unverändert fortbestand und insbesondere weder durch eine von der Beklagten abgegebene Anfechtungserklärung rückwirkend wirkungslos noch durch die zeitgleich ebenfalls von der Beklagten abgegebene Rücktrittserklärung in ein Rückabwicklungsverhältnis mit Erlöschen der bisherigen Leistungspflichten umgewandelt worden war.

Zusammengefasst hatte der dortige Kläger bei Antragsstellung im Versicherungsantrag Gesundheitsfragen nicht zutreffend beantwortet. Nach dem ebenfalls vom Landgericht festgestellten Sachverhalt war es zu diesem Versicherungsantrag erst gekommen, nachdem ein Versicherungsagent der Beklagten mehrfach und völlig unaufgefordert den Kläger in dessen Ladenlokal aufgesucht und versucht hatte, den Kläger von einem Wechsel der Krankenversicherung zu dem vom Agenten vertretenen Versicherungsunternehmen zu bewegen. Wie das OLG letztlich ebenfalls festgestellt hat, erfolgte die Antragsunterzeichnung dann erst beim 6. „Anlauf“ eines derartigen Anwerbens.

Entscheidung
Das Landgericht hat ein Anfechtungsrecht der beklagten Versicherung im vorliegenden Fall verneint. Denn zwar gebe es erhebliche Indizien, die auf eine arglistige Täuschung der Beklagten durch den Kläger bei Antragstellung hindeuteten. … (wird näher ausgeführt).

Indes standen nach Auffassung des OLG diesen Indizien in beachtlichem Maße Aspekte gegenüber, die an einer arglistigen Täuschung seitens des Klägers zweifeln ließen. Der Senat sei bereits nicht davon überzeugt worden, dass die Gesundheitsfragen dem Kläger zur Beantwortung vorgelegt worden seien. Der Kläger habe angegeben, dass ihn der Versicherungsagent, der im Prozess vernommen war, aus eigener Initiative und ohne irgendwelchen Anlass wiederholt aufgesucht habe, wobei im Rahmen derartiger Gespräche der Kläger seinen Gesundheitszustand eingehend und umfassend offengelegt habe. Irgendwelche konkreten Antragsfrageformulare habe der Kläger nicht geschildert. Auch der Zeuge, der insoweit tätige Agent, habe nicht Einzelheiten zu der Antragstellung durch den Kläger erinnern können, sondern nur behauptet, grundsätzlich verfahre er in Antragssituationen so, dass er die Fragen wörtlich vorlese und die Antworten der Kunden auf das Antragsformular übertrage. Zur Überzeugung des Senates stehe aber für den konkreten Fall gerade nicht fest, dass der Zeuge entsprechend verfahren sei, da nämlich der Zeuge andererseits bestätigt habe, dass er den Kläger im Wege der sog. Kaltakquise (= anlassloses Ansprechen einer bislang nicht bei der beklagten Versicherung versicherten Person) mit dem Ziel eines Neuvertragsabschlusses für einen Wechsel geworben habe. Da der Zeuge auf entsprechenden Vorhalt des Senates sein Vorgehen in keiner Weise problematisch und möglicherweise als wettbewerbswidrig, jedenfalls gegen Ziff. 65 Abs. 1 Satz 1, 2, Abs. 2, Satz 1 a der Wettbewerbsrichtlinien der Versicherungswirtschaft verstoßendes Ausspannen angesehen hat, halte es der Senat keineswegs für ausgeschlossen, dass der Zeuge gerade bei dem für einen Abwerbeversuch zunächst nicht empfänglichen Kläger die sonst übliche Sorgfalt bei der Erhebung etwaiger Gesundheitsstörungen hintangestellt habe, um einen Vertragsabschluss herbeiführen zu können. Die Skepsis des Senates werde insbesondere durch die inhaltliche Kargheit der Zeugenaussagen weiter gefördert (wird im Einzelnen ausgeführt).

Es sei daher möglich, dass der Kläger dem Zeugen seine Gesundheitsstörungen im Rahmen der stattgefunden Gespräche tatsächlich offenbart habe, was nicht nur zur Folge habe, dass dem Kläger schon in objektiver Hinsicht keine Täuschungshandlung zur Last fiele, weil er mit der Offenbarung gegenüber dem Agenten („Auge und Ohr‟) der Beklagten selbst Gesundheitsstörungen angezeigt hätte. Dies stehe andererseits auch der Annahme entgegen, der Kläger habe täuschend auf die Willensentschließung der Beklagten Einfluss nehmen wollen oder dies billigend in Kauf genommen.

Darüber hinaus befand das OLG den erklärten Rücktritt für unwirksam. Die Beklagte habe nicht sämtliche Voraussetzungen für das geltend gemachte Rücktrittsrecht dargelegt und bewiesen. Insbesondere habe sie nicht bewiesen, dass die ausreichende Gestaltung ihrer gesonderten Mitteilung über die Rechtsfolgen einer Verletzung der Anzeigepflichten, wie sie in § 19 Abs. 5 Satz 1 VVG als Formerfordernis definiert werde, eingehalten habe. Ausgehend von den seitens der Beklagten im Prozess vorgelegten „Wichtigen Hinweisen zur Anzeigepflicht“ sei davon auszugehen, dass diese bei der Beklagten als letzte Seite des Antragsformulars dessen integraler Bestandteil gewesen seien. Diese Belehrung erst mehrere Seiten nach dem Fragenkatalog zu etwaigen Gesundheitsstörungen des Kunden und seiner Unterschrift biete aber nicht die erforderliche Gewähr dafür, dass der VN sie nicht übersehen könne. Mangels Wahrung der Belehrungs-Form-Erfordernisse stehe der Beklagten daher auch ein Rücktrittsrecht nicht zu.

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Behandlungspflichten eines Gynäkologen bei Unterleibsschmerzen

OLG Hamm, Urteil vom 21.5.2013 — Aktenzeichen: 26 U 140/12

Leitsatz
Wird ein Gynäkologe aufgrund einer Überweisung des primär behandelnden Hausarztes tätig, so ist er grundsätzlich nur zur Abklärung seines Fachgebietes verpflichtet. Wird er ohne Überweisung tätig, ist er selbst Primärbehandler und deshalb zur umfassenden ärztlichen Betreuung (u. U. durch Überweisung an Ärzte anderer Fachrichtungen, hier an einen Urologen) verpflichtet. Dieser Verpflichtung genügt er, wenn er die Patientin zur Kontrolle nach der Durchführung der anderweitigen fachärztlichen Untersuchungen wieder einbestellt. Ohne Anhaltspunkte für gravierende Erkrankungen ist er nicht verpflichtet, weitergehend auf die Patientin einzuwirken, wenn diese nicht erneut erscheint.

Sachverhalt
In dem vom OLG Hamm entschiedenen Fall begehrten die Erben der verstorbenen Patientin von dem Beklagten, einem Facharzt für Gynäkologie, wegen vermeintlicher ärztlicher Behandlungsfehler Schmerzensgeld und Schadensersatzforderungen. Die Patientin hatte sich zunächst mit der Verdachtsdiagnose Gastroenteritis in hausärztlicher Behandlung befunden. Sie begab sich in die gynäkologische Behandlung des Beklagten, u. a., um von diesem die bei ihr bestehenden Unterleibsschmerzen abklären zu lassen. Der Beklagte führte gynäkologische Untersuchungen durch und überwies darüber hinaus die Patientin zum Urologen. Dieser konnte urologische Ursachen nicht erkennen und riet in einem an den Beklagten wie auch an die Hausarztpraxis gerichteten Arztbrief zu einer weiteren Darmabklärung. Die Patientin stellte sich bei dem Beklagten nicht erneut vor. Eine Darmspiegelung erfolgte zunächst nicht. Erst im darauffolgenden Jahr wurde aufgrund sich steigernder Schmerzen eine Darmspiegelung durchgeführt, in deren Folge ein Karzinom festgestellt wurde. Diese Erkrankung führte zum Tod der Patientin.

Die Kläger haben dem beklagten Gynäkologen vorgeworfen, er habe eine hinreichende Aufklärung der Ursachen der Beschwerden der Patientin nicht vorgenommen. Der Beklagte habe insbesondere eine gastroenterologische Abklärung einleiten müssen, die fehlerhaft nicht erfolgt sei. Darüber hinaus habe er sich über die Ergebnisse der anderweitigen Untersuchungen informieren müssen, was nicht geschehen sei. Darüber hinaus hätte der Beklagte von sich aus die Patientin zur Wiedervorstellung auffordern oder nachfragen müssen, welche Empfehlung der Urologe gegeben habe. Auf die primäre Behandlung durch den Hausarzt habe sich der Beklagte nicht verlassen dürfen, weil die Klägerin erkennbar ihn als primären Behandler angesehen habe und auch der Arztbrief des Urologen an ihn gerichtet gewesen sei.

Das Landgericht hatte die Klage abgewiesen. Hiergegen richtete sich die Berufung der Kläger. Das OLG Hamm wies die Berufung ebenfalls als unbegründet zurück.

Entscheidung
Das OLG Hamm hat die Berufung mit der Begründung zurückgewiesen, dass dem Beklagten in seinem gynäkologischen Fachgebiet keine Behandlungs- oder Befunderhebungsfehler vorzuwerfen seien.

Der gerichtliche Gutachter habe festgestellt, dass der Beklagte durch die klinische Untersuchung und die Sonografie diejenige Befundung durchgeführt habe, die im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung und unter Berücksichtigung der von der Patientin geschilderten Beschwerden medizinisch zu fordern waren. Die dokumentierten Befunde hätten auch nach Ansicht des Sachverständigen gegen eine pathologische Raumforderung im kleinen Becken gesprochen. Insbesondere die Tumormarker hätten im Normbereich gelegen, so dass ein Diagnosefehler hinsichtlich des gynäkologischen Fachgebietes nicht vorgelegen habe.

Darüber hinaus lasse sich auch nicht feststellen, dass der Beklagte es fehlerhaft unterlassen habe, eine weitere medizinische Abklärung zu veranlassen.

Insoweit könne dahingestellt bleiben, ob der Beklagte die Patientin von der Hausarztpraxis überwiesen bekommen habe, oder ob die Patientin sich aus eigenem Antrieb zu ihm begeben habe. Denn in beiden Fällen lasse sich ein ärztliches Fehlverhalten nicht feststellen.

Für den Fall, dass der Beklagte aufgrund einer Überweisung der Hausärzte tätig geworden sei, sei er grundsätzlich weder zur eigenständigen weitergehenden Behandlung (z. B. Durchführung von MRT oder CT) befugt noch zur umfassenden Beratung verpflichtet gewesen. Denn Primärbehandler und für die Koordination und Behandlung zunächst Verantwortlicher sei in dieser Konstellation der überweisende Hausarzt. Allenfalls wenn für ihn erkennbar gewesen wäre, dass die Hausarztpraxis fehlerhaft handelte, etwa gebotene Befundungen unterließ oder relevante Umstände bei der Diagnose außer Acht ließ, hätte u. U. eine Hinweispflicht des Beklagten bestanden. Grundsätzlich habe er aber darauf vertrauen dürfen, dass der überweisende Arzt ordnungsgemäß behandelt. Unter diesen Prämissen sei nicht feststellbar, dass der Beklagte über die tatsächlich von ihm erteilte Überweisung an den Urologen hinaus weitere Maßnahmen hätte veranlassen müssen.

Ein Behandlungsfehler läge auch dann nicht vor, wenn der Beklagte ohne Überweisung durch die Hausarztpraxis oder trotz Vorliegens einer Überweisung durch tatsächliche Übernahme der Primärbehandlung tätig geworden sei. Zwar habe in diesem Fall der Behandler gesteigerten Sorgfalts- und Kontrollpflichten, die nach der Abklärung der gynäkologischen Fragestellung entweder die Überweisung an den Hausarzt oder die Überweisung an andere Spezialisten einschließlich der anschließenden Einbestellung zur Kontrolle der Ergebnisse dieser Spezialisten erforderten. Diesen Anforderungen habe allerdings das Vorgehen des Beklagten ebenfalls genügt. Nicht zu beanstanden sei, dass der Beklagte die Patientin nicht an den Hausarzt, sondern an den Urologen überwiesen habe, da die Abklärung des urologischen Fachgebietes erforderlich und nicht fehlerhaft war. Darüber hinaus lasse sich auch nicht feststellen, dass es der Beklagte unterlassen habe, die Patientin zur Kontrolle nach der Durchführung der urologischen Untersuchung einzubestellen. Denn eine entsprechende Eintragung zu einer solchen Aufforderung zwecks Kontrolle habe sich in den Karteikarten des Beklagten befunden (wird im Einzelnen weiter ausgeführt). Von dem Beklagten sei schließlich nicht zu verlangen gewesen, dass er nach dem Nichterscheinen der Patientin nach der urologischen Untersuchung von sich aus tätig wurde, um noch eine Kontrollvorstellung herbeizuführen. Der gerichtliche Sachverständige habe plausibel im Berufungsverfahren ausgeführt, dass dies nur dann der Fall gewesen wäre, wenn eine schwerwiegende Situation — etwa in Form eines Tumorverdachtes — bestanden hätte. Dies sei allerdings nicht der Fall gewesen. Die von dem Beklagten dokumentierte Erhöhung der CRP-Werte habe lediglich auf eine Entzündung hingewiesen, der Durchfall ggf. auf eine Divertikulitis. Eine massive Gefährdungssituation sei, zumal vor dem Hintergrund des hausärztlichen Verdachtes einer Gastroenteritis, nicht gegeben. Dementsprechend habe der Beklagte abwarten und bei Nichterscheinen der Patientin davon ausgehen dürfen, dass sich die Beschwerden gebessert hätten.

Insoweit verdeutlicht die Entscheidung des OLG Hamm, dass je nach Ausgangspunkte einer Behandlung durch einen spezialisierten Facharzt dessen Behandlungspflichten im Hinblick auf die von ihm zu erhebenden Befunde und seine Diagnostik unterschiedlich danach zu bestimmen sind, ob diese Behandlung auf Grundlage einer Überweisung eines allgemein koordinierenden Hausarztes oder auf Eigeninitiative der jeweiligen Patienten beruht. Im letztgenannten Fall ist der Facharzt seinerseits Primärbehandler und muss damit die Gesamtbehandlung (einschließlich notwendiger Überweisungen an andere Fachärzte und etwaige Kontrollen bei schwerwiegenden Risikobefunden) selbst bewerkstelligen.

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Schadensregulierungsbeauftragter im Sinne der Richtlinie 2009/103 EG „als Vertreter“ zustellungsbevollmächtigt

EuGH – 2. Kammer, Urteil vom 10.10.2013 — Aktenzeichen: C – 306/12

Leitsatz
1. Art. 21 Abs. 5 der Richtlinie 2009/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht ist dahin auszulegen, dass zu den ausreichenden Befugnissen, über die der Schadenregulierungsbeauftragte verfügen muss, die Vollmacht gehört, die Zustellung gerichtlicher Schriftstücke, die für die Einleitung eines Verfahrens zur Regulierung eines Unfallschadens vor dem zuständigen Gericht erforderlich sind, rechtswirksam entgegenzunehmen.

2. Unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, in denen die nationalen Rechtsvorschriften die Bestimmungen von Art. 21 Abs. 5 der Richtlinie 2009/103 quasi wörtlich übernommen haben, ist das vorlegende Gericht verpflichtet, unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden das nationale Recht so auszulegen, dass es mit der Auslegung dieser Richtlinie durch den Gerichtshof der Europäischen Union vereinbar ist.

Sachverhalt
Am 24. Juni 2011 wurde ein der Spedition W. gehörender Lkw in der Nähe von Paris (Frankreich) bei einem Verkehrsunfall durch ein bei A. versichertes Fahrzeug beschädigt. Die Spedition W. beantragte beim erstinstanzlich angerufenen deutschen Gericht eine Entschädigung in Höhe von 2 382,89 Euro. Die Klage wurde nicht A. zugestellt, sondern ihrer Beauftragten in Deutschland, der X. Das Gericht wies die Klage als unzulässig ab und führte zur Begründung aus, dass die Klage der X, die nicht zustellungsbevollmächtigt sei, nicht wirksam zugestellt worden sei. Die Spedition W. legte gegen dieses Urteil Berufung beim Landgericht ein.

Nach Ansicht des vorlegenden Berufungsgerichts hing der Ausgang des Berufungsverfahrens von der Auslegung der Richtlinie 2009/103 ab.

Das Berufungsgericht hatte daher das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist Art. 21 Abs. 5 der Richtlinie 2009/103 dahin auszulegen, dass die Befugnisse des Schadenregulierungsbeauftragten eine passive Zustellungsvollmacht für das Versicherungsunternehmen umfassen, so dass in dem Klageverfahren des Geschädigten gegen das Versicherungsunternehmen auf Ersatz des Unfallschadens eine gerichtliche Zustellung mit Wirkung gegen das Versicherungsunternehmen an den von ihm benannten Schadenregulierungsbeauftragten bewirkt werden kann?

Falls die Frage zu 1 bejaht wird:

2. Entfaltet Art. 21 Abs. 5 der Richtlinie 2009/103 unmittelbare Wirkung dergestalt, dass sich der Geschädigte vor dem nationalen Gericht darauf berufen kann mit der Folge, dass das nationale Gericht von einer gegenüber dem Versicherungsunternehmen wirksamen Zustellung auszugehen hat, wenn eine Zustellung an den Schadenregulierungsbeauftragten „als Vertreter“ des Versicherungsunternehmens bewirkt worden ist, eine Zustellungsvollmacht jedoch weder rechtsgeschäftlich erteilt worden ist, noch das nationale Recht für diesen Fall eine gesetzliche Zustellungsvollmacht begründet, die Zustellung jedoch im Übrigen alle durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen erfüllt?

Entscheidung
Der EuGH stellt im Hinblick auf die zu 1) aufgeworfene Frage klar, dass aus den der entscheidenden Richtlinie zugrunde liegenden Erwägungen sich klar ergibt, dass die Vertretung von Versicherungsunternehmen, wie sie in Art. 21 Abs. 5 der Richtlinie vorgesehen sei – ohne dass sie die Einhaltung der Regelungen des internationalen Privat- und Zivilprozessrechts in Frage stellen könnte –, nach dem Willen des Unionsgesetzgebers die Vertretung umfasse, die es den Geschädigten erlaube, die Klage auf Ersatz ihres Schadens rechtswirksam bei den nationalen Gerichten zu erheben. Im Übrigen ergäbe sich aus den Vorarbeiten zu den Richtlinien, die der Richtlinie 2009/103 vorausgegangen sind und mit ihr für den Versicherungsbereich kodifiziert wurden, dass nach der Vorstellung des Gesetzgebers die Vertretung eines Versicherungsunternehmens im Staat des Geschädigten eine passive Zustellungsvollmacht für gerichtliche Schriftstücke umfassen solle, wenn auch mit eingeschränktem Charakter, da sie die Regelungen des internationalen Privat- und Zivilprozessrechts über die Festlegung der gerichtlichen Zuständigkeiten nicht berühren sollte. In diesen Grenzen gehöre die passive Zustellungsvollmacht für gerichtliche Schriftstücke zu den ausreichenden Befugnissen, über die der Schadenregulierungsbeauftragte verfügen müsse. Wäre eine solche Vollmacht nicht umfasst, würde der Richtlinie eine ihrer Zielsetzungen genommen. Die Funktion des Schadenregulierungsbeauftragten bestehe nämlich im Einklang mit den Zielen der Richtlinie gerade darin, den Unfallopfern ihr Vorgehen zu erleichtern und es ihnen insbesondere zu ermöglichen, ihre Ansprüche in ihrer eigenen Sprache geltend zu machen. Diesen Zielen würde es widersprechen, wenn den Unfallopfern, nachdem sie die vorherigen Schritte unmittelbar gegenüber diesem Vertreter unternommen haben – und obwohl sie direkt gegen den Versicherer klagen können –, die Möglichkeit genommen würde, die gerichtlichen Schriftstücke an diesen Vertreter zustellen zu lassen, um die Schadensersatzklage vor dem international zuständigen Gericht durchzuführen. Zu den ausreichenden Befugnissen, über die der Schadenregulierungsbeauftragte verfügen müsse, gehöre daher — so der EuGH — die Vollmacht, die Zustellung gerichtlicher Schriftstücke, die für die Einleitung eines Verfahrens zur Regulierung eines Unfallschadens vor dem zuständigen Gericht erforderlich sind, rechtswirksam entgegenzunehmen.

Zur zweiten Frage stellt der EuGH fest, dass § 7b Abs. 2 VAG eine quasi wörtliche Umsetzung von Art. 21 Abs. 5 der Richtlinie 2009/103 darstellt. Diese Bestimmungen des nationalen Rechts sei daher im Einklang mit denjenigen des Unionsrechts dahin auszulegen, dass der Schadenregulierungsbeauftragte dazu befugt sei, die Zustellung gerichtlicher Schriftstücke entgegenzunehmen. Nach alledem sei auf die zweite Frage zu antworten, dass das vorlegende Gericht unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, in denen die nationalen Rechtsvorschriften die Bestimmungen von Art. 21 Abs. 5 der Richtlinie 2009/103 quasi wörtlich übernommen haben, verpflichtet sei, unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden das nationale Recht so auszulegen, dass es mit der Auslegung dieser Richtlinie durch den Gerichtshof vereinbar ist.

Fazit
Anstatt einer äußerst komplizierten, langwierigen und häufig kostenträchtigen Auslandszustellung (Übersetzung der Schriftsätze etc.) kann zukünftig eine Klage wegen eines im Ausland erlittenen Verkehrsunfalls in Deutschland an den Regulierungsbeauftragten des ausländischen gegnerischen Kfz-Versicherers wirksam zugestellt werden.

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Zum Unfallbegriff in der privaten Unfallversicherung

Oberlandesgericht Hamm, Urteil vom 21.9.2012 — Aktenzeichen: 20 U 92/12

Leitsatz
1. Ein von außen auf den Körper wirkendes Ereignis i.S.d. Ziff. 1.3 AUB 2000 bzw. § 178 Abs. 2 VVG liegt — in Abgrenzung zu innerorganischen Vorgängen — vor, wenn Kräfte auf den Körper der versicherten Person einwirken, die außerhalb des Einflussbereichs des eigenen Körpers liegen. An einem solchen Ereignis fehlt es, wenn die erlittene Gesundheitsschädigung allein auf eine planmäßig ausgeführte und von außen ungestörte Kraftanstrengung der versicherten Person zurückzuführen ist.

2. Die bloße Kraftanstrengung beim Anheben eines schweren Gegenstandes stellt kein von außen wirkendes Ereignis dar, weil der im Wege der Kraftanstrengung zu überwindenden Schwerkraft des Objekts, das allein Gegenstand der Bemühungen der versicherten Person ist, jegliches dynamisches Element fehlt.

Sachverhalt
Beim Tragen zweier jeweils 35 kg schwerer Chlorkanister zum Schwimmbad wurde dem Kläger auf dem Weg ins Kellergeschoss auf der Treppe aufgrund der körperlichen Überlastung durch das Anheben schwindelig. Er rutschte auf der Treppe nach hinten weg und die restlichen Stufen mit den beiden Kanistern in der Hand auf dem Hosenboden hinunter. Bei dieser Gelegenheit habe er in seinem Kopf einen „Ping“ sowie ein Ziehen verspürt. Anschließend brachte er die Kanister mit einem Wagen in den Technikraum. Auf seinem Rückweg in die zweite Etage des Gebäudes merkte der Kläger, dass irgendetwas nicht stimmte. Er wurde vom Notarzt ins Krankenhaus eingewiesen, in dem eine Stammganglienblutung diagnostiziert wurde, die zu einer linksseitigen Lähmung und einem hirnorganischen Psychosyndrom sowie einer zu 100 %igen Invalidität führte.

Der Kläger machte im Prozess allein geltend, das die Gesundheitsbeschädigung auslösende Ereignis sei die von ihm aufgewandte Kraftanstrengung beim Anheben der Kanister gewesen.

Entscheidung
Maßgeblich für das Verständnis der Allgemeinen Versicherungsbedingungen und damit des Unfallbegriffs, d.h. eines auf den Körper wirkenden Ereignisses, ist — begrenzt durch den Wortsinn — die Sicht eines verständigen Laien ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse. Dessen Vorstellungen sind von den allgemeinen Lebensauffassungen und dem allgemeinen Sprachgebrauch geprägt.

Ein Ereignis ist in jeglichem Geschehensablauf zu sehen, durch den ein bestehender Zustand verändert wird. Zwar stellt das Anheben der Kanister bzw. die dabei aufgewandte Kraftanstrengung durchaus ein Ereignis dar, weil es sich dabei um einen dynamischen Vorgang handelt. Auch wirkte dieses Ereignis auf den Körper des Klägers ein, weil die Schwerkraft der Kanister einen von ihm körperlich zu überwindenden Widerstand darstellte.

Doch fehlt es an einer von außen auf den Körper des Klägers einwirkenden Kraft i.S. eines Ereignisses. Denn die Schwerkraft der Kanister stellt kein Unfallereignis dar. Ihr fehlt jedes dynamische Element, das dem Ereignisbegriff innewohnt, weil sie ganz unabhängig von jeglicher menschlicher (oder sonstiger) Einwirkung aufgrund der Naturgesetzlichkeit existiert. Die Schwerkraft entfaltete im Hinblick auf den Körper des Klägers erst dann ihre Wirkung, als er versuchte, sie durch Aufbietung eigener Muskelkraft zu überwinden. Diese Kraftanstrengung erfolgte allein zur Umsetzung seines autonom von ihm gefassten Willens, die Kanister in den Keller zu bringen. Dieser von ihm so geplante und gesteuerte Bewegungsablauf blieb von außen ungestört.

Mit der Begrenzung auf von außen wirkende Ereignisse soll die private Unfallversicherung auf Vorgänge beschränkt werden, deren schädliche Wirkungen nicht auf Eigenschaften und Handlungsweisen des Betroffenen selbst beruhen, sondern jeden, unabhängig davon, in einer Weise treffen, die gleichsam jedermann widerfahren kann. Eigene Bewegungen und Anstrengungen des Verletzten können danach nur dann Unfälle bewirken, wenn sie nicht gänzlich willensgesteuert ablaufen und im Ergebnis die Gesundheitsbeschädigung zusammen mit einer äußeren (störenden) Einwirkung ausgelöst haben. Maßgeblich ist dabei die Bewegungsstörung von außen, die Bewegung muss anders verlaufen oder enden als geplant. In Fällen, in denen die versicherte Person eine normale Bewegung vollständig plant und willensgemäß ausführt, aber ungewollt eine Beeinträchtigung erleidet, fehlt es so an einer Einwirkung von außen i.S.d. Unfallbegriffs.

Diese Differenzierung folgt zwingend aus der Systematik der AUB 2000 bzw. des § 178 Abs. 1 und Abs. 2 VVG. Denn wenn Kraftanstrengungen als solche bereits genügen würden, um eine von außen wirksam werdende Einwirkung auf den Körper anzunehmen, wäre die Erweiterung des Unfallbegriffs in Ziff. 1.4 AUB 2000 obsolet. Schließlich ist Gegenstand einer Kraftanstrengung typischerweise die Überwindung einer außerhalb des Körpers liegenden Kraft, sei es der Schwerkraft eines anderen Gegenstandes, der Erdanziehungskraft, der Fliehkraft, des Luftwiderstands etc. In all diesen Fällen fehlt es an einer dynamisch auf den Körper des Verletzten einwirkenden Kraft, weshalb der Unfallbegriff in Ziff. 1.4 AUB 2000 auf solche Vorgänge erweitert worden ist, in denen allein die eigene Kraftanstrengung bestimmter Körperteile zu den einzelnen aufgeführten Gesundheitsschädigungen führte.

An einem entsprechenden Ereignis fehle es hier, da der kläger stets angegeben habe, dass die von ihm angehobenen und transportierten Kanister keine Eigendynamik entwickelt hätten dahingehend, dass sie ihm entglitten oder in anderer Weise außer Kontrolle geraten seien und dadurch ein Gesundheitsschaden hervorgerufen worden wäre. Der vom Kläger geplante Ablauf, die Kanister in den Keller zu tragen, sei nach seinen eigenen Angaben ungestört geblieben. Der Kläger habe ausdrücklich bestätigt, dass er nach Auftreten des Schwindels die Kanister krampfhaft festgehalten und sie so unbeschadet die Treppe hinunter geragen habe.

Die Frage, ob eine Gesundheitsschädigung durch eine versicherte Tätigkeit oder durch eine andere Tätigkeit hervorgerufen wurde und damit bloße Gelegenheitsursache war, wie sie im Rahmen der Zurechnung in der gesetzlichen Unfallversicherung für den dortigen „Unfallbegriff“ relevant ist, stellt sich im Rahmen der privaten Unfallversicherung nicht. Denn nach dem Inhalt der privaten Unfallversicherung soll lediglich für die Schäden eine Invaliditätsleistung geschuldet werden, die aufgrund eines schicksalhaft von außen einwirkenden Ereignisses die versicherte Person treffen, die sie also nicht selbst bewirkt hat.

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Auslegung einer Regulierungszusage des Haftpflichtversicherers

BGH, Urteil vom 19.11.2008 — Aktenzeichen: IV ZR 293/05

Leitsatz
Die Regulierungszusage des Haftpflichtversicherers gegenüber dem Geschädigten ist dahin zu verstehen, dass der Versicherer (VR) seinem Versicherungsnehmer (VN) gegenüber deckungspflichtig ist und in dessen Namen den Haftpflichtanspruch anerkennt; darin liegt ein beide Rechtsverhältnisse umfassendes, den VR wie den VN verpflichtendes deklaratorisches (kausales) Anerkenntnis gegenüber dem Geschädigten.

Sachverhalt
Der Entscheidung des BGH lag ein Sachverhalt zugrunde, in dem der klagende Geschädigte Ansprüche gegenüber einem Generalagenten eines Haftpflichtversicherers (HV) verfolgte. Dem Agenten wurde vorgeworfen, ohne entsprechende Vertretungsmacht des HV für diesen eine Regulierungszusage gemacht zu haben und — da der HV sich später erfolgreich auf die fehlende Vertretungsmacht berufen hatte — daher gem. § 179 I BGB zu haften (Garantiehaftung). Der Geschädigte verfolgte Ansprüche auf Erstattung solcher Kosten (hier: Sachverständigen- und Reparaturkosten), die er erst aufgrund der Regulierungszusage und im Vertrauen darauf getätigt habe.

Das Berufungsgericht hatte die Klage vollumfänglich abgewiesen: Ein Anspruch aus § 179 I BGB bestehe nicht. Bei der behaupteten Regulierungszusage des Beklagten handele es sich um ein selbstständiges Schuldversprechen, das mangels der nach § 780 Satz 1 BGB erforderlichen Schriftform gem. § 125 BGB nichtig sei. Ein lediglich deklaratorisches Schuldanerkenntnis hätte darin nicht gelegen, da ein direkter Zahlungsanspruch des Klägers gegen den HV bereits dem Grunde nach nicht bestanden hätte, also eine reine Bestätigung nicht in Betracht käme.

Entscheidung
Der BGH hat das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zurückverwiesen, da eine Garantiehaftung des Beklagten gem. § 179 I BGB in Betracht käme ohne dass die tatsächlichen Einzelheiten hierzu hinreichend aufgeklärt seien. Das OLG habe zu Unrecht einen Verstoß gegen das Formerfordernis des §§ 780, 781 BGB angenommen, da dieses gem. § 350 HGB i.V.m. § 16 Satz 1 VAG nicht gelte, da es sich bei dem HV um einen Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit handele. Darüber hinaus stelle die Regulierungszusage des Beklagten ein deklaratorisches Schuldanerkenntnis dar. Die Regulierungszusage des Haftpflichtversicheres gegenüber dem Geschädigten habe ihren wirtschaftlichen und rechtlichen Grund zum einen in dem Haftpflichtverhältnis zwischen VN und dem Geschädigten und zum anderen in dem Deckungsverhältnis zwischen dem VR und dem VN. Auch bei fehlendem Direktanspruch des Geschädigten sei der VR regelmäßig aufgrund der uneingeschränkten Verhandlungsvollmacht, die ihm der VN gem. § 5 Nr. 7 AHB erteile, der maßgebliche Ansprechpartner des Geschädigten; letzterer solle sich auf das Wort des VR verlassen können, ohne von sich aus nachforschen zu müssen, ob der VR seinem VN, dem Schädiger, gegenüber (teilweise) leistungsfrei sei. Aus der maßgeblichen Sicht des Geschädigten sei daher die ihm erteilte Regulierungszusage deshalb dahin zu verstehen, dass der VR seinem VN gegenüber deckungspflichtig ist und in dessen Namen den Haftplfichtanspruch anerkennt. Darin liege ein beide Rechtsverhältnisse umfassendes, den VR wie auch den VN verpflichtendes deklaratorisches Schuldanerkenntnis gegenüber dem Geschädigten.

Praktische Auswirkung
Angesichts dieser weitreichenden Folgen einer Regulierungszusage sollte stets jede Erklärung des Schädiger — VR gegenüber dem Geschädigten genau auf deren Umfang hin überprüft werden. Insbesondere sollte im frühen Verfahren einer Schadensbearbeitung bei entsprechenden Anfragen des Geschädigten sehr deutlich zwischen einer Bestätigung des grundsätzlich bestehenden Deckungsschutzes für den Schädiger (VN) einerseits („Wir bestätigen, dass Herr X. bei uns generell über Versicherungsschutz im Rahmen einer Haftpflichtversicherung verfügt‟) und des Haftungsanerkenntnisses im Verhältnis zwischen VN und Geschädigtem andererseits differenziert werden.

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Primärschaden bei Befunderhebungsfehlern

BGH, Urteil vom 2.7.2013 — Aktenzeichen: VI ZR 554/12

Leitsatz
In Fällen eines Befunderhebungsfehlers sind dem Primärschaden alle allgemeinen gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Patienten unter Einschluss der sich daraus ergebenden Risiken, die sich aus der unterlassenen oder unzureichenden Befunderhebung ergeben können, zuzuordnen.

Sachverhalt
In dem zugrundeliegenden Fall litt die Patientin bereits mehrere Jahre an Migräne, wegen derer sie sich in ständiger ärztlicher Behandlung befand. Infolge tagelang andauernder Kopfschmerzen stellte sie sich am 03.02.2002 beim ärztlichen Notdienst vor, der sie ins Krankenhaus einwies. Der neurologische Befund war unauffällig. Es wurde dokumentiert, dass keine Hinweise auf eine epileptische Aktivität bestünden. Als Medikation erhielt sie ein Mittel gegen die Kopfschmerzen und gegen Übelkeit. Zwei Tage später verschlechterte sich der Zustand der Patientin erheblich. Sie erlitt eine symptomatische Epilepsie (langanhaltender epileptischer Anfall) und eine Hirnvenenthrombse. Im Rahmen des epileptischen Anfalls erlitt sie sodann eine schwere Hirnschädigung, die in Kombination mit den Komplikationen der Hirnvenenthrombose letzlich zu ihrem Tod führte.

Die Erben nahmen die behandelnde Ärztin und den Krankenhausträger u.a. wegen eines behaupteten Befunderhebungsfehlers auf Schadenersatz und Schmerzengeld in Anspruch mit der Behauptung, die behandelnde Ärztin hätte angesichts der geschilderten Symptomatik, weitere Maßnahmen veranlassen müssen, wodurch die Hirnvenenthrombose früher erkannt und der Tod hätte verhindert werden können.

Das LG hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die Berufung der Erblasserinnen zurückgewiesen. Die vom Berufungsgericht zugelassene Revision hatte Erfolg. Das Berufungsurteil wurde aufgehoben und an das Berufungsgericht zur erneuten Entscheidung zurückgewiesen.

Entscheidung
Der BGH bestätigt die von ihm entwickelten Grundsätzen zur Beweislastumkehr bei groben Behandlungsfehlern fest. Die Beweislastumkehr sei nur dann ausgeschlossen, wenn jeglicher haftungsbegründender Ursachenzusammenhang äußerst unwahrscheinlich sei. Hier geht der BGH davon aus, dass bei der medizinisch gebotenen Verlaufskontrolle der verordeneten Medikation deren Wirkungslosigkeit festgestellt worden wäre und die sodann gebotene weitere Befunderhebung zur frühzeitigen (d.h. am 03.02.2003 statt am 04.02.2002) Erkennung der Hirnvenenthrombose geführt hätte, so dass die Ärzte mit der Gabe von Heparin hätten reagieren müssen. Die Unterlassung dieser medizinisch gebotenen Befunderhebung stelle einen groben Behadlungsfehler dar. Die Grundsätze zur Beweislastumkehr bei groben Behandlungsfehlern käme zwar regelmäßig nur zur Anwendung, soweit durch den Fehler unmittelbar verursachte haftungsbegründende Gesundheitsverletzungen (sog. Primärschäden) in Frage stünden. Für Folgeschäden (sog. Sekundärschäden), die erst infolge des Behandlungsfehlers eingetretene Gesundheitsverletzung entstanden seien, gälten diese Grundsätze nur, wenn der Sekundärschaden eine typische Folge des Primärschadens ist. Nichts anderes gelte hinsichtlich der Haftung für Schäden, die durch eine einfach oder grob fehlerhaft unterlassene/verzögerte Befunderhebung entstanden sein könnten.

Nach Maßgabe dieser Rechtsprechung greifet hier eine Beweislastumkehr ein. Der Primärschaden liege, anders als das Berufungsgericht es bwertet habe, nicht in der nicht rechtzeitigen Erkennung einer bereits behandlungsbedürftigen Gesundheitsbeeinträchtigung in Form der Hirnvenenthrombose, sondern, in deren gesundheitlicher Befindlichkeit infolge der am 03.02.2002 unterlassenen Verlaufskontrolle und der daraufhin unterlassenen Folgeuntersuchungen und Behandlung der Hirnvenenthrombose. Zu dieser gesundheitlichen Befindlichkeit zähle auch ein dadurch geschaffenes/erhöhtes Risiko, eine Epilepsie zu erleiden. Dazu habe das Berufungsgericht allerdings keine Feststellungen getroffen, so dass der Rechtstreit durch den BGH an das Berufungsgericht zurückverwiesen wurde.

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