Anspruch nach § 110 SGB VII – Nur bei krassem Verschulden

Oberlandesgericht Hamm, Urteil vom 17.1.2017 — Aktenzeichen: 26 U 69/16

Trotz des zwischen Arbeitgeber und unfallgeschädigten Arbeitnehmer geltenden Haftungsprivilegs kann die Berufsgenossenschaft wegen ihrer unfallbedingten Aufwendungen gegen den Arbeitgeber vorgehen. Dies geht aber nur, wenn der Arbeitgeber den Unfall seines Mitarbeiters grob fahrlässig (oder vorsätzlich) herbeigeführt hat. Die Anforderungen dafür sind streng, wie die Entscheidung des OLG Hamm vom 17.01.2017 zeigt.

Leitsatz
1. Die Unfallverhütungsvorschrift des § 6 BGV C22 ist eine sehr allgemein gehaltene Regel, der sich elementare Sicherungspflichten, die gerade auch dem Schutz des Arbeitnehmers gegen tödliche Gefahren dienen, nicht entnehmen lassen.

2. Eine Haftung wegen grober Fahrlässigkeit stellt einen Ausnahmefall dar, der nur bei einer besonders krassen Sorgfaltspflichtverletzung in Betracht kommt.

3. Es fehlt an einer subjektiv groben Fahrlässigkeit, wenn eine Gefahr von zwei erfahrenen Handwerkern als nicht so groß eingeschätzt worden ist, also auch nicht für jedermann augenscheinlich war.

Sachverhalt
Die Klägerin verlangt als gesetzliche Unfallversicherung Aufwendungsersatz wegen eines Arbeitsunfalls ihres Versicherten. Die Beklagte zu 1) hatte den Auftrag, für den Bau einer Industriehalle Säulen einzuschalen und zu betonieren. Diese Arbeiten führten deren Geschäftsführer — der Beklagte zu 2) — und dessen Mitarbeiter aus. Dabei versetzte der Beklagte zu 2) mittels eines Turmdrehkrans die rd. 3 m hohen Schalungselemente mehrfach auf dem Baugelände. Beim Reinigen eines solchen Schalungselementes fiel dieses auf den Mitarbeiter und verletzte ihn erheblich. Der Mitarbeiter hatte kurz vor dem Unfall eine Leiter bestiegen und das Schalungselement vom Kran gelöst. Streitig war, ob dies die vom Beklagten zu 2) vorgegebene Handhabung war.

Die Berufsgenossenschaft sah grobe Fahrlässigkeit auf Seiten des Beklagten zu 2) und erhob Klage.

Letztlich ohne Erfolg.

Entscheidung
Das OLG diskutierte zunächst die Rechtsprechung, wonach eine grobe Fahrlässigkeit naheliegen könne, wenn gegen eine Unfallverhütungsvorschrift verstoßen wurde, die sich mit Vorrichtungen zum Schutz der Arbeiter gegen tödliche Gefahren befasst und elementare Sicherungspflichten zum Inhalt hat. Letzteres wollte der Senat schon nicht annehmen, weil § 6 BGV C22, der sich mit Standsicherheit von baulichen Anlagen und deren Teilen/Hilfskonstruktionen befasst, nur eine sehr allgemein gehaltene Regelung sei, aus der sich elementare Sicherungspflichten, die gerade dem Schutz vor tödlichen Gefahren dienen, nicht entnehmen ließen.

Im Übrigen hätten sowohl der Versicherte der Klägerin als auch der Beklagte zu 2) die Gefahr, dass ein Schalungselement umstürzt, als nicht besonders hoch eingeschätzt. Auch der verunfallte Mitarbeiter sei davon ausgegangen, dass das Schalungselement durch sein Eigengewicht stehen blieb und nicht umzufallen drohte. Wenn aber erfahrene Bauhandwerker ganz offensichtlich die Gefahren als nicht besonders hoch eingeschätzt haben, war die Gefahr auch nicht für jedermann augenscheinlich. Deshalb könne man — so das OLG — auch nicht von einem besonders krassen und nicht mehr zu entschuldigenden Verhalten des Beklagten zu 2) ausgehen, selbst wenn er das Abhängen des Schalungselements vom Sicherungshaken geduldet haben sollte (was streitig war).

Anmerkung:

Diese Entscheidung überzeugt. Wenn man grobe Fahrlässigkeit als Verstoß gegen diejenige Sorgfalt versteht, die jedermann klar vor Augen steht, kommt es darauf an, ob die Baubeteiligten vor Ort die Gefahr gesehen haben. Wenn aber weder Bauleiter, noch Arbeitgeber, noch der verunfallte Handwerker und dessen Arbeitskollegen, noch ein Sicherheits- und Gesundheitsschutzkoordinator, noch der bauleitende Architekt die Gefahr gesehen haben, kann schwerlich argumentiert werden, die Gefahr sei „für jedermann mit Händen zu greifen gewesen“.

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