Alternativaufklärung beim Zahnarzt

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OLG Hamm, Urteil vom 19.4.2016 — Aktenzeichen: 26 U 199/15

Sachverhalt
Im Juli 2013 führte der Beklagte beim Kläger wegen starker Schmerzen eine Neuverplombung zweier Zähne im Unterkiefer durch. Zur Betäubung des Klägers setzte der Beklagte eine Leitungsanästhesie ein.

Der Kläger machte geltend, der Beklagte habe durch das Setzen der Spritze den nervus lingualis verletzt, was zu erheblichen Zungengefühlsstörungen in Form permanenter Gefühllosigkeit des Zungenbereichs geführt habe; über ein solches Risiko sei er nicht aufgeklärt worden.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, weil es keinen Behandlungsfehler feststellen konnte.

Entscheidung
Das OLG Hamm hat das Urteil abgeändert und dem Kläger ein Schmerzensgeld zugesprochen.

Grundlage hierfür waren jedoch nicht die Behandlungsfehlervorwürfe des Klägers, die sich nicht bestätigt hatten, sondern die Feststellung, dass die gesamte Behandlung mangels wirksamer Einwilligung des Klägers rechtswidrig gewesen sei.

Unabhängig davon, ob der Kläger über das Risiko einer Nervverletzung aufgeklärt worden ist, haftet der Beklagte nach Auffassung des OLG Hamm schon deshalb, weil er über eine echte Behandlungsalternative nicht aufgeklärt hat.

Nach Auffassung des OLG Hamm standen sich im vorliegenden Fall zwei Behandlungsmethoden mit unterschiedlichen Chancen und Risiken gegenüber.

Die Leitungsanästhesie habe den Vorteil, dass sie vergleichsweise schnell durchgeführt werden könne, wobei sich als gravierender Nachteil die Gefahr von (wenn auch sehr seltenen) Nervenverletzungen zeige; darüber hinaus bestehe die Möglichkeit eines verzögerten Wirkungseintritts von zwei Minuten und länger, eines von ein bis zu vier Stunden anhaltenden Taubheitsgefühls, das Risiko selbst beigebrachter Bissverletzungen und eine Versagerquote von bis zu 20 % für den Unterkiefer.

Dem gegenüber habe die ligamentäre Anästhesie den Vorteil, dass es unmöglich sei, hierbei eine Nervverletzung zu verursachen, und dass ein Taubheitsgefühl schon nach 30-45 Minuten wieder nachlasse. Der Nachteil der ligamentären Anästhesie liege jedoch darin, dass es zu einer Aufbissempfindlichkeit des betäubten Zahnes bis zu 24 Stunden, Schleimhautnekrose und zu Nekrosen der Interdentalpapille kommen könne.

Das OLG hielt fest, dass jedenfalls zum Zeitpunkt der Behandlung die ligamentäre Anästhesie soweit in der ambulanten medizinischen Praxis angekommen war, dass sie zum medizinischen Standard gehörte. Infolgedessen war sie aufklärungspflichtig; zwar sei die Wahl der Behandlungsmethode primär Sache des Arztes. Diese Wahl ist allerdings eingeschränkt, wenn sich mehrere medizinisch gleichermaßen indizierte Behandlungsmethoden gegenüberstehen, die wesentliche Unterschiede und Risiken und Erfolgschancen aufweisen.

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