§ 110 SGB VII und objektiver Verstoß gegen Unfallverhütungsvorschriften

OLG Thüringen, Urteil vom 15.3.2016 — Aktenzeichen: 5 U 37/15

Schwere Baustellenunfälle passieren dann, wenn der Unternehmer den Arbeitsschutz nicht ausreichend beachtet. Nicht selten missachten aber auch Arbeitnehmer die Anweisungen des Arbeitgebers und kommt es deshalb zum Unfall, z.B. dann, wenn sich die Mitarbeiter entgegen der Vorgabe des Arbeitgebers in ungesicherten Bereichen aufhalten. Dann steht nicht nur die grobe Fahrlässigkeit in Frage, sondern ob überhaupt objektiv gegen Unfallverhütungsvorschriften verstoßen wurde.

Sachverhalt
Die Beklagten waren damit befasst, eine Giebelwand eines mehrstöckigen Gebäudes zu erneuern. Dazu musste die alte Giebelwand abgebrochen und eine neue Giebelwand gemauert werden. Nach Abbruch der alten Wand lief ein Mitarbeiter der Beklagten in das oberste Stockwerk, um von dort ein Lot nach unten zu lassen; dadurch wollte er die genaue Position des Gerüstes, von welchem aus gemauert werden sollte, bestimmen Auf der oberste Etage brach der Mitarbeiter durch den Boden und fiel eine Etage tiefer an der offenen Giebelwand bis auf den Erdboden. Eine Absturzsicherung gab es noch nicht.

Streitig war, ob die Beklagten das Loten angewiesen haben oder ob sich der Mitarbeiter der Beklagten, der Vorarbeiterfunktion hatte, dazu selbst entschlossen hatte. Die Beklagten verteidigten sich damit, das Loten sei gar nicht Aufgabe der Beklagten gewesen, sondern allenfalls des Gerüstbauers, der aber bauseits beauftragt worden war. Jedenfalls liege keine grobe Fahrlässigkeit auf Seiten der Beklagten vor.

Entscheidung
Die Klage wurde abgewiesen. Das OLG Thüringen hat schon eine Verletzung von Unfallverhütungsvorschriften verneint.

Nach § 11 BGV C22, der eine Regelung für „nicht begehbare Bauteile“ enthält, müssten für Arbeiten auf Bauteilen, die vom Auflager abrutschen oder beim Begehen brechen können, besondere Arbeitsplätze und Verkehrswege geschaffen werden. Diese Regelung hielt der Senat deshalb nicht für einschlägig, weil es sich bei der eingebrochenen Geschossdecke nicht um einen Arbeitsplatz oder einen Verkehrsweg gehandelt habe, welchen der Geschädigte in Ausübung von ihm gegen der Beklagten geschuldeten Arbeiten nutzen musste. Dann hätten die Beklagten insoweit auch keine besonderen Vorrichtungen zur Arbeitsausführung schaffen müssen.

Gleiches gelte — so der Senat — für § 12 BGV C22; auch die Verpflichtung zur Schaffung von Absturzsicherungen bezöge sich nur auf Arbeitsplätze und Verkehrswege. Nur für die von ihren Arbeitern im Rahmen der von ihr geschuldeten Leistungen aufzusuchenden Arbeitsplätze und Verkehrswege zu diesen könne eine Pflicht zur Anbringung von Absturzsicherungen angenommen werden. Hierzu zählten die Geschossdecken nicht; denn dort habe von Mitarbeitern der Beklagten, die lediglich die Giebelmauer von einem bauseitigen Gerüst aus hochmauern sollten, nicht arbeiten sollen.

Fazit
Arbeitsplatz und Verkehrsweg sind diejenigen Bereiche, die der Arbeitgeber seinen Mitarbeitern vorgibt. Bewegt sich ein Arbeitnehmer außerhalb dieser Bereiche muss sorgsam geschaut werden, ob überhaupt eine Verstoß gegen Unfallverhütungsvorschriften vorliegt, die explizit an den Arbeitsplatz und Verkehrsweg anknüpfen.

SCHLÜNDER | RECHTSANWÄLTE | Bismarckstraße 16  | 59065 Hamm | Deutschland
Tel. 02381 921 55-0 | FAX 02381 921 55-99 | Mail hamm@schluender.info