§ 110 SGB VII und das Familienprivileg

Oberlandesgericht Koblenz, Urteil vom 20.7.2015 — Aktenzeichen: 12 U 948/14

Schädigen sich Familienangehörige untereinander, gehen Schadensersatzansprüche nicht auf Sozialleistungsträger über, wenn die Familienangehörigen zum Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses in häuslicher Gemeinschaft leben. Streitig ist, ob das Familienprivileg auch bei § 110 SGB VII gilt. Das OLG Koblenz hat dies verneint. Die Entscheidung überzeugt nicht.

Leitsatz
1. Das Angehörigenprivileg gilt nicht für Ansprüche nach § 110 SGB VII. 2. Die familiäre Beziehung zwischen Schädigen und Geschädigtem ist vom Sozialversicherungsträger im Rahmen der Ermessensentscheidung nach § 110 Abs. 2 SGB VII zu berücksichtigen.

Sachverhalt
Der beklagte Landwirt lässt seinen 8 1/2 Jahre alten Sohn auf der vorderen linken Zinke des Gabelstaplers mitfahren. Auf unebenen Teerbelag und einer Geschwindigkeit des Gabelstaplers von rd. 10 km/h rutschte der Sohn von der Ladegabel und geriet unter das linke Vorderrad des Gabelstaplers. Dabei verletzte sich der Sohn schwer.

Der Unfall des Sohnes wurde als Arbeitsunfall anerkannt. Da die Haftung des Landwirts nach § 104 SGB VII ausgeschlossen ist, regressierte der Unfallversicherer nach § 110 SGB VII und behauptete eine grob fahrlässige Herbeiführung des Unfalls durch den Beklagten.

Entscheidung
Das OLG Koblenz gab er Klage statt. Der Beklagte habe als Vater des unfallversicherten Sohnes dessen Unfall grob fahrlässig herbeigeführt, als er seinen Sohn auf der linken Zinke des Gabel des Gabelstaplers hat mitfahren lassen.

Auf das Angehörigenprivileg — Vater und Sohn lebten in häuslicher Gemeinschaft — gelte nicht; dieses gelte nur für Ansprüche, die nach § 116 SGB X übergegangen seien. Da es sich bei § 110 SGB VII um einen originären Anspruch handele, bestehe kein Raum für eine analoge Anwendung. Die familiäre Beziehung sei vielmehr im Zuge der Ermessensentscheidung nach § 110 Abs. 2 SGB VII zu berücksichtigen; der SVT könne ggf. auf Ansprüche verzichten, was aber regelmäßig dann nicht in Betracht komme, wenn der Schädiger — wie angeblich hier — haftpflichtversichert sei.

Kritik an der Entscheidung:

Die Entscheidung überzeugt nicht.

Der Anwendungsbereich des Familien- bzw. Angehörigenprivilegs wurde in den vergangenen Jahren im Hinblick auf den Schutzzweck, den Familienfrieden nicht zu gefährden stetig erweitert. So gilt das Privileg nicht nur für den Forderungsübergang nach § 116 SGB X, sondern auch nach den Regeln des Opfer-Entschädigungsgesetzes und des Beamtenversorgungsgesetzes. Ferner gilt das Angehörigenprivileg für Partner eine nichtehelichen Lebensgemeinschaft und sogar zugunsten des erwachsenen Kindes eines nichtehelichen Lebensgefährten.

Diese Entwicklung kann nicht bei § 110 SGB VII halt machen.

Das Familienprivileg ist meiner Meinung schon deshalb anwendbar, weil der Regressanspruch auf die Höhe des zivilrechtlichen Ersatzanspruchs beschränkt ist. Der Gesetzgeber hat nämlich gewollt, dass ein Schädigen nicht schlechter gestellt werden soll, als wenn es das Haftungsprivileg der §§ 104 ff. SGB VII nicht gäbe.

Selbst wenn man diesem Ansatz nicht folgte — etwa mit der Erwägung, das Familienprivileg hindere prinzipiell nur den Übergang, nicht aber den Anspruch als solchen -, wäre § 116 Abs. 6 SGB X jedenfalls analog anwendbar. Entgegen der Einschätzung des OLG gibt es eine planwidrige Lücke und eine vergleichbare Interessenlage. Zwar hat der Bundesgerichtshof zu § 640 RVO eine analoge Anwendung des damaligen § 67 VVG a.F. verneint (Urteil 18.10.1977, VI ZR 62/76); diese Rechtsprechung ist aber überholt. Seinerzeit gab es kein im Sozialversicherungsrecht verankertes Familienprivileg, dies gab es nur bei § 67 VVG. Heute ist dies anders: Mit ausdrücklicher Installation des Familienprivilegs im SGB X hat der Gesetzgeber zu erkennen gegeben, dass dieser Ausschluss für alle Zweige der Sozialversicherung gelten soll. Nach ausdrücklichem Willen des Gesetzgebers sollten in jener Vorschrift die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Geltung gebracht werden, nach denen die Störung des Familienfriedens durch Streitigkeiten mit Familien- bzw. Haushaltsangehörigen über die Verantwortung für nicht vorsätzlichen Schadenszufügungen und der Rückgriff des Versicherers bei dem Haftpflichtigen in Widerspruch zu der wirtschaftlichen Zweckbestimmung seiner Leistungen an den Geschädigten vermieden werden sollten. Dass für den Regress des SVT nach § 110 SGB VII explizit anderes gelten sollte, lässt sich den Gesetzesmaterialien nicht entnehmen.

Ergebnis: Das Familienprivileg enthält entgegen der Entscheidung des OLG Koblenz ein allgemeines Prinzip, welches über die kodifizierten Fälle der §§ 86 Abs. 3 VVG (früher § 67 VVG) und § 116 Abs. 6 SGB X hinaus im gesamten sozialen Entschädigungsrecht Anwendung findet. Soweit der BGH nur für den Beitragsregress nach § 119 SGB X eine Ausnahme gemacht hat (BGH, 24.01.1989, VI ZR 130/88), beruht dies auf dem völlig unterschiedlichen Regelungsgehalt. In jener Entscheidung wurde aber bereits ausgeführt, dass das Familienprivileg Bedeutung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes des Inhalts hat, dass bei Schädigungen unter Familienangehörigen Versicherungs- und ähnliche Leistungen, die einem Familienmitglied erbracht werden, nicht durch einen Rückgriff bei einem anderen Mitglied derselben Familiengemeinschaft mittelbar wieder sollen entzogen werden.

Abschließend wäre auch nicht nachvollziehbar, wieso etwa ein Vater, der seinen im selben Betrieb beschäftigten und noch bei ihm wohnenden Sohn auf gemeinsamer Fahrt zum Betrieb (= Wagenunfall) grob fahrlässig schädigt, in den Genuss des Angehörigenprivilegs kommt, aber dann nicht, wenn es sich nicht um einen Wegeunfall, sondern um einen „haftungsprivilegierten“ Betriebswegeunfall handelte.

Ebenso bedauerlich wie überraschend ist, dass das OLG Koblenz die Revision nicht zugelassen hat. Anlass dazu bestand allemal. Es bleibt zu hoffen, dass die unterlegene Seite Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH eingelegt hat, um die Rechtsfrage klären zu lassen.

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