§ 110 SGB VII: Grobe Fahrlässigkeit

LG Aachen, Urteil vom 26.2.2015 — Aktenzeichen: 12 O 178/14

Leitsatz
1. Ein Arbeitgeber verstößt grob fahrlässig gegen die Unfallverhütungsvorschriften für Reparaturarbeiten auf Dächern, wenn er weder Absturzsicherungen noch Auffangeinrichtungen oder Anseilschutzmaßnahmen ergriffen hat, um seine Arbeiter vor tödlichen Gefahren zu schützen.

2. Der Umstand, dass ein Versicherter zum Zeitpunkt des Unfalls keine persönliche Schutzausrüstung getragen hat, führt nicht zu einem Mitverschulden, wenn geeignete Anschlagpunkte zur Befestigung der Schutzausrüstung auf dem Dach nicht vorhanden waren.

Sachverhalt
Die Klägerin ist gesetzlicher Unfallversicherer der X1, deren Geschäftsführer der Beklagte ist. Sie nimmt den Beklagten auf Erstattung von Aufwendungen in Anspruch, die ihr infolge eines Arbeitsunfalls des bei ihr versicherten Verletzten entstanden sind.

Die Firma X1 hatte den Auftrag, auf dem Dach einer Reithalle eine Solaranlage zu installieren. Zu diesem Zweck befanden sich der Verletzte und weitere Mitarbeiter der Firma auf dem Dach der Reithalle, welches eine Firsthöhe von ca. 10 m aufweist. Das Dach ist mit Trapezblechen gedeckt, die etwa alle 5 m von ca. 1 m breiten Lichtbändern unterbrochen werden. Für die zum Unfallzeitpunkt eingesetzten Mitarbeiter der X1 waren in dem vor Ort befindlichen Fahrzeug persönliche Schutzausrüstungen vorhanden. Keiner der Arbeiter hatte jedoch diese Sicherheitsgurte angelegt. Geeignete Anschlagpunkte zur Befestigung der Gurte waren auf dem Dach nicht vorhanden. Ein Gerüst war nicht aufgestellt. Ein Sicherheitsnetz war ebenfalls nicht aufgespannt. Auf den Lichtplatten waren keine lastverteilenden Beläge, Laufstege oder sonstige Einrichtungen zur Verhinderung von Abstürzen angebracht.

Der knapp unterhalb des Firsts beschäftigt Verletzte stürzte aus einer Höhe von ca. 8 m mit dem Hinterkopf auf den Boden der Reithalle, wobei er schwer verletzt wurde.

Entscheidung
Das LG bejaht die grob fahrlässige Herbeiführung des Versicherungsfalls i.S.d. § 110 SGB VII.

In seiner Begründung setzt es sich zunächst mit der BGH-Rechtsprechung auseinander, wonach nicht jeder Verstoß gegen einschlägige Unfallverhütungsvorschriften schon als ein grob fahrlässiges Verhalten im Sinne des § 110 SGB VII zu werten ist, sondern es immer eine Wertung des Verhaltens des Schädigers bedarf, in die auch die weiteren Umstände des Einzelfalles einzubeziehen sind. Indiziell kommt es darauf an, ob es sich um eine Unfallverhütungsvorschrift handelt, die sich mit Vorrichtungen zum Schutz der Arbeiter vor tödlichen Gefahren befasst und elementare Sicherungspflichten zum Inhalt hat. Auch spielt eine Rolle, ob der Schädiger nur unzureichende Sicherungsmaßnahmen getroffen oder von den vorgeschriebenen Schutzvorkehrungen völlig abgesehen hat, obwohl die Sicherungsanweisungen eindeutig waren. Im letzteren Fall kann — muss aber nicht — der objektive Verstoß gegen elementare Sicherungspflichten ein solches Gewicht haben, dass der Schluss auf ein auch subjektiv gesteigertes Verschulden gerechtfertigt ist.

Die im Streitfall einschlägigen Unfallverhütungsvorschriften für Reparaturarbeiten auf Dächern der BGV C 22 sehen in § 12 Abs. 1 Nr. 4 in erster Linie Absturzsicherungen vor. In § 11 ist zudem vorgesehen, dass für Arbeiten auf Bauteilen, die beim Begehen brechen können, besondere Arbeitsplätze und Verkehrswege geschaffen werden müssen. All diese Bestimmungen haben nach Ansicht des LG Aachen elementare Sicherungspflichten zum Inhalt, die sich mit Vorrichtungen zum Schutz der Arbeiter vor tödlichen Gefahren befassen.

Auf dieser Grundlage bejaht das LG grobe Fahrlässigkeit, weil die Beklagte keinerlei Maßnahmen zur Einhaltung besagter Normen ergriffen habe. Ein Anseilschutz sei zwar im Baustellenfahrzeug vorhanden gewesen, jedoch hätten zur Verantwortung der Beklagten die Voraussetzungen für einen ausnahmsweisen Einsatz dieser persönlichen Schutzausrüstungen nicht vorgelegen, da nach dem unbestrittenen Vortrag der Klägerin geeignete Anschlagpunkte nicht vorhanden gewesen sein. Die bloße Aufforderung an die Arbeitnehmer, nicht die Lichtplatten zu betreten, sei zur Erfüllung der dargestellten Unfallverhütungsvorschriften. Diese eklatante Nichteinhaltung der o.g. Unfallverhütungsvorschriften sei auch subjektiv unentschuldbar, insbesondere in der Gesamtschau der Verstöße.

Ein Mitverschulden des Verletzten wird zwar diskutiert, jedoch im Ergebnis verneint. Dieser habe zwar zum Zeitpunkt des Unfalls keine persönliche Schutzausrüstung getragen, obwohl eine solche im Einsatzfahrzeug zur Verfügung gestanden hätte. Da jedoch geeignete Anschlagspunkte zur Befestigung dieser Schutzausrüstung auf dem Dach nicht vorhanden gewesen seien, greife dieses Moment nicht durch.

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